Stefan Kraus

Die Bruderschaft des Baums


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die Hand nicht mehr hinreichte, um sich zu kratzen. Hanrek hatte auch das Gefühl verfolgt zu werden, ständig drehte er sich nach Verfolgern um, um dann festzustellen, dass niemand da war, der ihn verfolgte. Dabei konnte er mithilfe der Gabe rundum die Gegend auf mögliche Verfolger prüfen und tat es auch. Und trotzdem.

      Er schämte sich davon seinen Eltern zu erzählen und nach einer Weile tat er es als Spinnerei ab, die ihn als eine Folge des Ereignisses mit den fremden Männern im Wald anhing.

      Erst nach Monaten war auch für Hanrek so viel Gras über die Sache gewachsen, dass er wieder eine größere Wanderung unternahm. Hanrek schlug dieses Mal eine andere Richtung ein als in seinen früheren Wanderungen. Er orientierte sich mehr in Richtung Fluss und er war dort weit in den Wald vorgedrungen.

      Er hatte sich der Gabe weit geöffnet und genoss das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, das sich ergab, wenn ihm die Sonnenstrahlen mal direkt ins Gesicht fielen und mal von den Ästen und dem Blätterwerk der Bäume aufgehalten wurden.

      Plötzlich spürte Hanrek über die Gabe eine Präsenz, die er vorher noch nie wahrgenommen hatte. Alarmiert blieb er stehen. Er konzentrierte sich und stellte fest, aus welcher Richtung die Empfindungen kamen. Dann wandte er sich in diese Richtung und ging zielsicher aber langsam und vorsichtig darauf zu. Die Präsenz war stark. Sie vermittelte Hanrek ein Gefühl von väterlicher Kraft und Stärke. Wenn er sie hätte beschreiben müssen, hätte er sie als königlich bezeichnet.

      Er kam auf eine Lichtung und da stand er. Ein Heronussbaum. Hanrek hatte schon viel über diese Bäume gehört, aber dies war der erste, den er sah. Der Baum war riesig und seine ausladenden Äste reichten weit bis in die Lichtung hinein. Er wurde von der Sonne beschienen und seine sanft schaukelnden Blätter funkelten wie Gold. Hanrek blieb bewundernd am Rand der Lichtung stehen, genoss den Anblick und gab sich der Ruhe und dem Frieden hin, die der Baum ausstrahlte.

      Der Heronussbaum war sehr selten im Königreich. Alles an dem Baum war wertvoll. Aus der harten dicken Rinde, die der Baum alle paar Jahre in Teilen abwarf, konnte man Holzschalen und Teller fertigen. Ihre glatt polierte Oberfläche schimmerte samtig und silbrig.

      „Wer einen kompletten Satz Teller und Schüsseln aus Herorinde besitzt, kann auch den König zum Essen einladen.“, lautete ein Sprichwort im Königreich.

      Das Holz des Heronussbaums bestand aus zwei Teilen, der äußeren weicheren Schale und dem harten Kernholz. Die Bezeichnung weiche Schale war eigentlich falsch, denn sie vermittelte den Eindruck, dass das Holz weich war. Die weichere Schale war härter als alle anderen Holzarten, die man kannte. Eine Säge oder Axt wurde schon an der weichen Schale sehr schnell stumpf, wenn man versuchte diesen Baum zu fällen. Man konnte einen Heronussbaum nicht fällen. Das Kernholz des Baumes war so hart, dass eine Axt eher zerbrach, als dass sie dem Baum eine merkliche Kerbe zugefügt hätte. Auch Feuer konnten dem Heronussbaum wenig schaden. Die Rinde und die Blätter konnten zwar einfach verbrannt werden. Bei der Schale tat man sich schon schwerer und das harte Kernholz war nicht brennbar. Dabei waren sowohl das Holz der Schale als auch das Kernholz sehr leicht. Wenn man das Holz der Schale zu Pulver zerrieb, war es für Heiler sehr wertvoll. Sie verwendeten es in kleinen Dosen in ihren Heiltränken. Es verbreitete einen unvergleichlichen Wohlgeruch, wenn man nur eine winzige Menge des pulverisierten Holzes verbrannte. Und schließlich war da die Heronuss, die Frucht des Baums. Heronussbäume trugen nur sehr unregelmäßig Früchte und dann auch nie mehr als 10 Früchte auf einmal. Man konnte die Früchte zwar pflücken, aber nur wenn sie vom Baum gefallen waren, waren die Früchte in der Lage zu keimen. Der Baum trug seine Früchte oft bis zu 3 Jahre, bevor sie reif waren und herunter fielen. Auch keimten die Früchte nicht in unmittelbarer Nähe eines anderen Heronussbaums.

      „Eine ganze Reihe von Gründen, warum dieser Baum so selten vorkommt.“, hatte Zacharia der Dorfgelehrte gesagt, von dem Hanrek alles erfahren hatte, was er über den Baum wusste.

      Was Zacharia ihm aber nicht sagen konnte, war, wie man das harte Kernholz bearbeiten konnte.

      „Wenn weder Säge, Axt noch Feuer dem Holz etwas anhaben können, wie kann man dann Gegenstände aus ihm fertigen, eine Schale, ein Schmuckstück oder etwas anderes?“, hatte er im Unterricht gefragt.

      „Das mein Junge“, hatte der Dorfgelehrte geantwortet, „ist das Geheimnis der Handwerker von Fissool. Diese Handwerker sind dazu in der Lage, aber sie hüten das Geheimnis wie ihre Augäpfel. Das Geheimnis wird von Generation zu Generation weitergegeben aber es darf nie die Handwerkerzunft in Fissool verlassen.“

      Zuletzt hatte Zacharia beschrieben, dass die Nuss ungefähr walnussgroß sei und heruntergefallene Früchte gern von Feldmäusen „gestohlen“ werden.

      „Stellt euch vor, was es für den Besitzer eines Heronussbaums heißt, wenn er 3 Jahre lang auf das Herabfallen der Nuss wartet und er dann feststellen muss, dass die Nuss zwar endlich heruntergefallen ist, dass aber eine freche Feldmaus nachts die kostbare Frucht als Wintervorrat in ihren Bau geschleppt hat. Daher werden in der Nähe des Baums immer viele Katzen gehalten.“

      An all das musste Hanrek denken, als er verträumt an der Lichtung stand. Langsam und ehrfürchtig ging er auf den Baum zu. Als er nur noch ein paar Schritte vom Stamm entfernt war, sah er, wie auf der anderen Seite des Stamms ein Rabe mit seinem scharfen Schnabel etwas bearbeitete, das er mit seinen Krallen festhielt.

      Mit einer Vorahnung eilte Hanrek auf den Vogel zu, der krächzend davon hüpfte und beleidigt seinen Schatz im Stich ließ.

      Staunend betrachtete Hanrek, was der Rabe bearbeitete hatte.

      Es war tatsächlich eine Heronuss.

      Hanrek kramte in seinem Bündel und warf dem Raben einen Bissen von seinem Essen hin. Der Rabe stürzte sich auf den Ersatz für die Nuss und war besänftigt.

      Eine Weile bestaunte Hanrek noch den Schatz, bevor er die Heronuss äußerst sorgsam in seinem Bündel verstaute.

      Kaum hatte er sich wieder aufgerichtet, da fiel sein Blick auf einen Ast, der unter dem Baum im Gras lag.

      „Donnerwetter ...“, entfuhr es Hanrek, „... heute habe ich aber Glück.“

      Im Gras lag tatsächlich ein armdicker langer gerader Ast vom Heronussbaum. Die Blätter am Ast waren schon lange verdorrt aber dem Holz selbst merkte man nicht an, wie lange es schon im Gras gelegen hatte. Hanrek vermutete, dass ein Blitz in den Baum eingeschlagen hatte und dabei der Ast abgebrochen war. Er fand das war die einzig logische Erklärung. Er untersuchte den Ast und erkannte an der Bruchstelle tatsächlich eine Art Brandspur.

      Als Hanrek nach einer Weile die Lichtung verließ, ließ er die Gabe fließen und versuchte dem Baum seinen Dank für Nuss und Ast zu vermitteln. Fast kam er sich dabei vor, wie ein kleiner Junge, der sich artig bei seinem Großvater für ein kostbares Geschenk bedankt. Zappelig und aufgeregt, weil er das Geschenk am liebsten gleich ausprobieren will und verlegen vor der Präsenz und Autorität des Großvaters. Der Eindruck verstärkte sich noch, als er das Gefühl hatte, dass ihm der Baum huldvoll zusprach.

      Erregt kam er spät am Abend nach Hause. Als er seinen Eltern von den gefundenen Schätzen erzählte, übertrug sich die Aufregung auf die ganze Familie. Man beschloss, gleich am nächsten Tag über die weitere Verwendung von Ast und Nuss zu reden.

      „Ich könnte die Nuss im Garten einpflanzen.“, schlug Hanrek vor.

      Alle stimmten sofort zu.

      „Bleibt nur die Frage wo.“, meinte Pirion.

      „Am besten direkt in der Mitte, da hat er den meisten Platz.“

      Auch dieser Vorschlag von Hanrek wurde angenommen.

      Die Frage mit der Nuss war also schnell geklärt. Über den Ast diskutierten sie länger. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sie sich vom Dorfschreiner Till Werkzeug leihen wollten. Anschließend wollten sie das Holz der Schale zerkleinern und dann zu Pulver zermahlen. Für das Mahlen wollten sie den Müller Smit um seine Unterstützung bitten. Was sie mit dem harten Kern machen würden, ließen sie sich offen, da sie noch nicht wussten, wie dieser aussehen würde.

      Pirion