hatte er meine Sympathie für sie in letzter Sekunde bemerkt und wollte sich mir nicht in den Weg stellen?
Oder: »Bist du irgendwie verliebt in Winter? Soll ich deswegen die Finger von ihr lassen?«
Er starrte mich voller Entsetzen an. Dann prustete er los. »Soll das ein Witz sein?«
»Nein, dein merkwürdiges Verhalten spricht dafür.« War ihm das denn nicht bewusst?
»Deine Theorie hat nur einen Haken: ich bin mit Jule zusammen.«
»Und wovor schützt dich das? Ich meine, so wie sich Liebe entwickelt, kann sie auch wieder vergehen. Und vielleicht vergeht sie dir mit Jule gerade. Ihr seid gut vier Jahre ein Paar. Da würde es wohl niemanden sonderlich verwundern.«
»Ach, denk doch, was du willst!«, kapitulierte er schon jetzt, nach so kurz gesprochenen Worten, und ließ mich eiskalt stehen.
Besagte Jule traf ich am nächsten Tag zufällig im Zentrum im Stadtcafé. Dass ich hier auf sie traf, war kein Zufall. Auch sie verbrachte ihre Freizeit gern und oft hier. Mal mit, mal ohne Niko. Heute war ein Ohne-Tag.
Ich musste mich zu ihr herunterbücken, um sie zur Begrüßung zu drücken, denn sie war ziemlich klein. Einsfünfundfünfzig, um genau zu sein. Ich mochte sie, sogar wirklich gern, aber lang hielt man es mit ihr nicht aus. Sie war sehr lebhaft. Und gesprächig. Ich meine, nicht gesprächig im Sinne von kommunikativ und gesellig. Sie war eine Quasselstrippe wie sie im Buche stand. Und dabei war ihre Stimme so piepsig wie die von Schlumpfine und hektisch wie ein Maschinengewehr.
»Heute so allein hier?«
Wir setzten uns an einem der fünf Tische vor dem Café, der uns durch einen Sonnenschirm vor der direkten Sonneneinstrahlung schützte. Im Sommer war es schier illusorisch, hier einen Platz zu ergattern. Aber zumindest heute war das Glück auf unserer Seite.
»Nicht ganz.« Sie griff in ihre Handtasche und nahm eine prallvolle Schachtel Zigaretten heraus. Während sie sich eine herausfingerte, bot sie mir eine an. Ich verneinte mit einem Kopfschütteln, denn ich wollte mir das Rauchen abgewöhnen. Fast eine Woche hielt ich schon durch.
»Nicht ganz?«, ging ich auf ihre Antwort ein.
»Nun, du bist doch jetzt da, Dummerchen.«
Rücksichtsvoll blies Jule den ersten Zug ihrer Zigarette in eine andere Richtung, doch der leichte Wind trug den Qualm wieder zurück zu mir. Ich störte mich nicht die Bohne daran. Mir war schon klar, dass Passivrauchen nicht gerade gesund war, aber ich mochte den Geruch von frischem Zigarettenqualm, wenn er sich mit der natürlichen Luft vereinigte.
»Willst du denn allein sein?«
»Wenn du beschließt, hierherzukommen, ist man doch nie allein, oder? Irgendjemanden, den man kennt, trifft man am Ende doch immer.«
»Da kann ich dir leider nicht widersprechen.« Ich grinste nur zaghaft, denn ich sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie etwas bedrückte.
Den zweiten Zug ihrer Zigarette inhalierte sie so genusssüchtig, dass meine Lunge schon vom Zusehen bestialisch stach. »Isabell kommt später noch rum.«
Isabell war mir nicht bekannt. »Eine Freundin?«
»Jein. Eine Arbeitskollegin. Sie ist nicht so sehr Arbeitskollegin wie sie mir eine Freundin geworden ist. Aber wir unternehmen nicht sehr viel zusammen in unserer Freizeit, weil wir uns schon von früh bis spät in der Praxis sehen.«
Jule war ebenfalls achtzehn, aber sie besuchte längst nicht mehr die Schule. Sie hatte ihr Abitur geschmissen und machte entgegen aller Kritik eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in einer Gynäkologie. Dafür braucht man kein Abitur, verflucht noch mal, hatte sie vor allem ihren Eltern die Stirn geboten. Aber du könntest wesentlich mehr sein, hatte ihr Vater dagegen argumentiert. Zum Beispiel die Gynäkologin, hm? Mehr! Im Leben geht es immer um mehr, nicht wahr? Ich will aber nicht mehr. Ich will Arzthelferin sein. Das und nichts anderes will ich sein. Nachdem er erkannt hatte, mit welch unermüdlicher Leidenschaft sie ihre Ausbildung durchzog, hatte sich der Vater bei ihr inständig dafür entschuldigt, dass er ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, nicht genug zu sein und ließ sie seither tun, was nicht ihn, sondern sie glücklich machte.
»Sehr verständlich.«
Endlich kam die Bedienung an unseren Tisch und nahm unsere Bestellungen entgegen. Jule hatte keine Lust auf ein Heißgetränk und orderte eine eiskalte Zitronen-Limetten-Limonade. Ich entschied mich für einen Milchkaffee. Mein persönlicher Seelenwärmer, auch wenn draußen tropische Temperaturen herrschten und mir die Schweißperlen auf die Stirn trieben.
»Niko ist deinetwegen leicht angepisst«, ließ sie es ungefiltert heraus, sobald die Bedienung wieder fort war.
»Ach ja? Dabei hat er sich heute in der Schule mir gegenüber ganz normal gegeben.«
»Okay, das wusste ich nicht. Zuletzt habe ich ihn gestern Abend gesehen. Seine Laune war nicht zum Aushalten. Ich habe ihn gefragt, was los sei. Zuerst hat er ein riesengroßes Staatsgeheimnis daraus gemacht. Als ich ihn dann endlich dazu bringen konnte, sich auszusprechen, machte er wiederum eine riesengroße Staatsaktion daraus. Man könnte meinen, er steht zurzeit vor seinen Tagen.« Sie war sichtlich amüsiert. »Ich wollte ihm schon eines meiner Röckchen anbieten.«
Auch ich lachte, denn Niko wurde unwillkürlich Opfer meiner blühenden Fantasie. Zwar kam ich mir dabei schäbig vor, aber die Bilder von ihm im pinken Tutu drängten sich mir förmlich auf. Wie hätte ich da ernst bleiben können?
»Was hat er erzählt?«
»Grob umrissen? Dass du ihm angedichtet hast, er sei in Winter verschossen.«
»Das habe ich auch getan«, bekannte ich mich schuldig im Sinne der Anklage. »Sein Allgemeinverhalten zum Thema Winter Sommer hat mich lediglich irritiert. – Falsche Rücksicht kenne ich nicht, das weißt du.«
Sie nickte zustimmend, während sie sagte: »Ich kenne jedoch die Hintergründe, und ich weiß, dass Niko sich weigert, auch nur ein Sterbenswörtchen über die blöden Geschehnisse zu verlieren. Er glaubt, er könnte sie auf diese Weise hinter sich lassen.«
Was hatte ich verpasst? Offenbar hatte er einmal in einer prekären Lage gesteckt, die eine emotionale Wunde verursacht hatte, die einfach nicht heilen wollte und ihn zwang, sie mit sich zu führen wie eine Bulldogge, die sich in ihn festgebissen hatte und versuchte, ihn totzuschütteln. Wieso hatte er mir nie etwas davon erzählt?
Ich konnte mich vage an eine Phase erinnern – die lag nun anderthalb Jahre zurück –, in der er sich nur selten in Hamburg sehen lassen hatte und Anrufen oder Nachrichten ausgewichen war. Allerdings hatte ich ihm geglaubt, als er es mit familiärem Stress abgetan hatte. Tatsächlich hatten seine Eltern eine Scheidung in Betracht gezogen, sich letztendlich jedoch wieder berappelt gehabt.
»Tja, funktioniert ja astrein!«, scherzte ich mit einem Augenzwinkern.
»Nun, so gesehen funktioniert es schon. Er begegnet Winter zwar ignorant, und trotzdem so, als wäre nie etwas geschehen. Weißt du, was ich meine?« Ja, ich verstand, was sie meinte, denn ich hatte es ja selbst erlebt. Bis gestern Vormittag hatte ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung, dass zwischen ihm und Winter etwas nicht stimmte. Ich hätte ihnen nicht mehr Verbindung als normal zugetraut. »Bis auf Harro. An ihm kann er kaum vorbeigehen, ohne bald zu explodieren. Das ist ziemlich anstrengend auf Dauer. Für alle Beteiligten. Wir können von Glück reden, dass sie nicht in dieselbe Klasse gehen. Das käme einer Katastrophe gleich, sag ich dir. Erstaunlicherweise ist Harro sehr bemüht, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich hat Winter ihn dazu angehalten. Ja, wahrscheinlich ist es sogar eine Bedingung. Denn Winter weiß genau um Nikos Wut. Aber es ist ja nicht an Niko, sich unter Kontrolle zu halten. Es ist ganz allein an Harro. Und wenn der feine Herr es sich nicht mit Winter verscherzen will, hat er sich wohl oder übel zu beweisen.«
Ich war dankbar für die Informationen, die Jule nun so frei und offen auf den Tisch legte, ja, auch wenn sie mehr Fragen aufwarfen als beantworteten.
Die