N.F. Holstein

SCHMITT happens – im Radio


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die auch mit einer Festanstellung lediglich einen All-Inklusive-Urlaub nach Mallorca finanzieren konnten. Er hatte keinen Bock auf Sozialneid. Nur seinem besten Freund Bernd, mit dem er schon in die Grundschule gegangen war, hatte er nach einer Session mit sehr viel teurem Malt-Whiskey davon erzählt. Aber der würde ihn ohnehin nie anpumpen. Für Bernd, den Künstler, ging Freundschaft über alles und im Übrigen hatte der selber inzwischen genug Geld mit seinen Bildern verdient.

      Jörn startete seinen Wagen, fuhr aus der Tiefgarage in die Dunkelheit der langsam erwachenden Hauptstadt. Die Lichter des asiatischen Restaurants an der Ecke waren noch ausgeschaltet, aber im Drogeriemarkt gegenüber waren bereits die Putzfrauen aktiv.

      Er setzte den Blinker nach links und dachte über seine Sendung nach, während er in Richtung Ku’Damm fuhr. Er war durch Zufall zu Radio Null gekommen. Zuvor hatte er versucht, BWL zu studieren, was ihm zu bürokratisch gewesen war. Jura hatte er ganz einfach nicht gepackt. Und Medizin, eine Fachrichtung die ihn vielleicht noch interessiert hätte, scheiterte an der Vorstellung, während der Ausbildung an Leichen herumschnippeln zu müssen. Er hatte auch überlegt, eine Lehre im Handwerk zu beginnen, als Koch oder Tischler. Mehr als Gedanken war daraus aber nicht geworden. Es fehlte am Antrieb. Natürlich hätte er sich vorstellen können, ein Sterne-Restaurant zu betreiben, aber dafür jeden Tag 16 Stunden zu arbeiten, war auch nicht seine Idee von einem schönen Leben. Ehrlicherweise musste er zugeben, dass ihm für Handwerkliches jedes Talent fehlte. Er war schon daran gescheitert, ein Regal von IKEA so zusammen zu bauen, dass man darauf mehr als zwei Bücher ablegen konnte.

      Als er also wieder einmal darüber nachdachte, womit er seine Tage sinnvoll füllen konnte, hatte er von einem Casting für den Sender gelesen und sich spaßeshalber beworben. Dem Programmchef hatte seine unkonventionelle Bewerbung gefallen und er war zu einer Probesendung eingeladen worden. Im Studio war Jörn kein bisschen nervös gewesen, weil er sicher war, dass sich am Ende alles als großes Missverständnis herausstellen würde und niemand ernsthaft daran interessiert sein würde, ihn als Moderator einer Frühsendung zu beschäftigen. Für das Casting musste er zwei Interviews führen, die er einfach so hinrotzte, wie er auch mit ehemaligen Klassenkameraden sprach. Er lamentierte über einen alten Popsong und brachte seine Begeisterung für eine neue Band zum Ausdruck, über die er in einer Frauenzeitschrift bei seiner Oma schon etwas gelesen hatte – und dann bekam er den Job.

      „Ich mag deine unkonventionelle Art. Mensch, nett und eiteitei, das haben doch alle! Alle haben das!“ Der Programmchef hatte sich vor Begeisterung kaum einkriegen können. „Also, wenn du das beibehalten kannst mit diesem schnoddrigen Desinteresse bei den Gesprächen, dann werden wir so etwas wie der erste deutsche Talkradio-Sender. Geil, das gibt’s noch nicht in der Republik. Und das wird laufen in Berlin, da bin ich mir nicht nur sicher, das weiß ich ganz einfach. Geil Alter, du hast es echt drauf! Damit schaffen wir mindestens zwei Plätze nach vorn in der Reichweitenstärke. Das wird so geil!“

      Jörn wusste zunächst nicht so recht, wie ihm geschah, aber da er gerade nichts Besseres zu tun hatte, ließ er sich auf die verrückte Idee ein und wurde Moderator einer neuen Frühsendung mit dem Titel Jörn hörn, wochentags von fünf bis zehn Uhr am Morgen. Interviews, Moderationen über Musik und Wetter und Geschehnisse in der Stadt. Reden konnte er. Das war schon immer sein großes Talent gewesen. Bereits in der Schule hatte er manche Note durch endloses Bequatschen der Lehrer gerettet. Über andere reden und das Schlechteste in einem Menschen erkennen, das war auch etwas, was ihm lag. Für Interviews war das ein Talent, das ihm ungewöhnliche Antworten und einzigartige Reaktionen bescherte. Das begeisterte den Chef. Was Jörn an Moderationsgrundlage fehlte, wurde ihm bei einem einwöchigen Training bei einem echten Schleifer in Holland beigebracht. Zusammen mit fünf anderen Radio-Neulingen aus ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich hatte er gefühlte 73 Stunden am Tag in einem Container gesessen, in dem Studios in der Größe einer Gästetoilette eingebaut waren. Immer wieder hatte er mit den Kollegen geübt, eine „Ramp zu treffen“, also mit seiner Moderation fertig zu sein bevor der Sänger eines Stückes loslegte. Ihm war beigebracht worden, wie man Blenden, also Übergänge zwischen zwei Titeln geschmeidig „fuhr“, und er hatte sich jeden Abend angehört, wie der holländische Radioguru seine Moderationsideen in Grund und Boden kritisierte. Das machte der Mann aber bei allen so, außer bei dem Kollegen aus Saas-Fee, der seine Moderationen in Schwiezerdütsch aufnahm und nicht einmal von den deutschen Kollegen verstanden wurde. Nach dieser Zeit hatte er eine Abneigung gegen den Song „Everything I do“ von Bryan Adams, weil er auf die ersten Musiktakte ungefähr zweitausend Mal etwas von einem dunklen Sherwood Forest und einem Mann, der die Reichen beklaute, um die Armen zu unterstützen, erzählt hatte, so dass er nie wieder vergessen würde, dass das Intro dieses Songs genau 17 Sekunden lang war. Ramps treffen konnte er jetzt jedenfalls. Im Übrigen war „Summer of 69“ sowieso das geilere Stück von Adams.

      Tatsächlich aber hatten die Tage und Nächte in Holland ihm einen gewaltigen Schub für sein Selbstvertrauen am Mikrofon gegeben und damit die Sicherheit, sich im Studio täglich genau so unverschämt oder nach Bedarf auch so charmant zu benehmen, wie er es auch im Freundeskreis tat.

      Im Grunde, das musste er nach einigen Monaten feststellen, hatte sein Traumberuf IHN gefunden. Wenn das Aufstehen mitten in der Nacht nicht gewesen wäre, dann könnte man von einem perfekten Leben sprechen.

      Dieses unsoziale früh ins und sehr früh aus dem Bett nutzte er gegenüber Bernd auch als eine Art Rechtfertigung für die Kontakte zu den Praktikantinnen im Sender. Welche Frau, mit einem ganz gewöhnlichen Beruf und ganz gewöhnlichen Arbeitszeiten, würde denn schon um 21 Uhr schlafen gehen, um halb vier wieder aufstehen und das halbe Wochenende im Bett verbringen, um das Schlafdefizit wieder auszugleichen? Keine Krankenschwester, keine Rechtsanwaltsgehilfin und auch keine Lehrerin. Hatte Jörn in den vergangenen Jahren alles schon versucht, hoffnungslos. Nicht dass ihn das unglücklich gemacht hatte. Eine Sehnsucht nach einem Häuschen im Grünen, mit Bausparvertrag, mit einem eigens angepflanzten Apfelbaum und spielenden Kindern hatte er bisher nicht verspüren können.

      Daher war es ihm immer ganz gelegen gekommen, wenn die Ladies nach einigen Tagen, Wochen oder Monaten von seinem Biorhythmus die Nase voll hatten und sich einen anderen Schlafplatz suchten.

      Es gab Menschen, die sich einst als Freunde bezeichnet hatten und die ihn gar nicht mehr anriefen, nachdem er das dritte Mal am Abend über der Pizza im Restaurant eingeschlafen war. Auch auf solche Mitmenschen konnte Jörn ohne Schwierigkeiten und schlaflose Nächte verzichten. Sein schönes wildes Leben war nun einmal nicht kompatibel mit dem eines Beamten oder Verwaltungsfachangestellten mit Überstundenzettel und Urlaubsantrag.

      Nur Bernd war ihm wirklich über die Jahre treu geblieben. Der war aber auch Künstler und arbeitete, wann er Lust hatte. Mal nachts und mal ganz früh am Morgen, manchmal auch gar nicht. Früher hatte ihn das Leben im Takt der Inspiration manchmal belastet und finanziell an den Rand der Existenz gebracht. Dann hatte er sich monatelang von Ravioli aus der Dose ernährt, die Wohnung nicht geheizt und nicht geduscht, um Geld zu sparen. Aber seit ein paar junge Russinnen ihn und seine Kunst „entdeckt“ hatten, war alles anders. Für einige seiner Bilder hatte er mehr Geld geboten bekommen, als er zuvor in seinem ganzen Leben verdient hatte (dank des Galeristen, der klug genug war, die unerklärliche Verliebtheit der jungen Ostblockschönen auszunutzen). Deshalb strengte sich Bernd jetzt weit weniger an und war meistens froh, wenn er Jörn nachmittags ins Kino begleiten oder am Wochenende mit ihm abhängen und die aufgezeichneten Fernsehfilme der Woche am Stück angucken konnte.

      Bernd hatte auch keine feste Freundin. Bernd hatte allerdings auch keine nicht-feste Freundin. Nicht nur seit einigen Wochen, sondern beinahe schon so lange wie Jörn ihn kannte. Bernd war mehr der Bär, als der Liebhaber. Gebaut wie eine nordische Schrankwand, blond und breitschultrig, ein Gesicht wie Dirk Nowitzki, sympathisch aber nichts, was man unbedingt gleich morgens nach dem Aufwachen als Erstes sehen musste. Bisher hatten die Beziehungen nie so lange gehalten, dass die Damen sich von der Herzensgüte und wahrhaften Treue dieses Mannes überzeugen konnten. Was Jörn leidtat. Andererseits war er auch froh, wenn er nicht jedes Wochenende alleine fernsehen musste.

      Ein weiterer Fixpunkt in Jörns Leben war seine Oma. Annie war nach dem Tod seiner Eltern bereits Witwe gewesen und hatte ihre Doppelhaushälfte bei Hamburg sofort aufgegeben. Dann hatte sie einen Makler damit beauftragt,