Jahren in das Penthouse gezogen war. Und sie hatte in ihrer Wohnung in Wilmersdorf ein Zimmer für ihn, in dem das Bett immer frisch bezogen war. In ihrer Speisekammer standen immer ein Glas von Jörns Lieblingsmarmelade und eine Flasche Waldmeisterbrause (die Jörn als Junge gern getrunken hatte). Oma Annie war die Beste. Wenn es tatsächlich mal trübsinnig wurde in Jörns Leben, dann besuchte er seine Omi. Las Frauenzeitschriften und bunte Blätter über Königshäuser, zappte sich mit Omi im Fernsehen durch Kochshows und Vorabendserien, spielte mit ihr Mensch-ärgere-Dich-Nicht und Canasta und ließ sich mit selbstgebackenem Kuchen und Hühnerfrikassee verwöhnen. Denn seine Omi war trotz ihrer 80 Jahre noch fit wie der bekannte Turnschuh, machte jeden Tag einen langen Spaziergang zum KaDeWe, um die Knochen geschmeidig zu halten, ging zum Kartenspielen in den Seniorenclub und verreiste mindestens einmal im Jahr mit ihrem Kegelverein. Für Computer hatte er sie noch nicht begeistern können, aber ein Handy hatte sie sich angeschafft, um auch aus den Ferien bei ihrem Enkeln anrufen zu können und selber erreichbar zu sein.
Als Jörn seinen Wagen heute auf dem kleinen Mitarbeiterparkplatz abstellte, ganz vorn gleich neben der Treppe zum Funkhaus, der Platz war um diese Zeit immer frei, erinnerte er sich an seine ersten Tage bei Radio Null. Das war inzwischen schon beinahe sechs Jahre her und nie im Leben hatte er vermutet, dass man eine Frühsendung bei einem Berliner Radioprogramm über so viele Jahre so erfolgreich machen können würde. Im Grunde hatte er damals aber auch überhaupt keine Ahnung gehabt, von dem, was beim Radio so abging. Er hatte gewusst, dass es private und öffentlich-rechtliche Sender gab und dass Radio Null für einen staatlichen Sender sehr unkonventionell arbeitete. Er hatte diesen Sender auch damals schon gehört, ihn in seinem Autoradio einprogrammiert, und er mochte die ungewöhnliche Musikauswahl abseits der Charts und die manchmal leicht sperrigen Moderatoren. Aber selber einmal dazuzugehören, das hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt.
Als er dann das erste Mal in dem Studio stand, aus dem er bald mit seiner Sendung beginnen würde, war ihm doch so etwas wie Angstschweiß auf die Stirn getreten. Ein großes Mischpult mit unzähligen Reglern, CD-Spielern, drei Computerbildschirme für den Sendungsablauf, Jingles und Spielelemente und ein digitales Telefon ließen eine gewisse Unruhe in ihm aufkommen.
In den Wochen vor Beginn seiner ersten Show hatte er tagelang im sogenannten Havarie-Studio gesessen und immer wieder die Abläufe probiert, um ja nicht zu scheitern, sich bloß nicht zu blamieren. Trotz der Schulungen in Holland hatte er in dieser Zeit Alpträume gehabt, von Tonträgern, die durch den CD-Spieler durchfielen und keine Musik abspielten, von digitalen Sendeplänen, die vor seinen Augen schwarz wurden, und von Sendungen, in denen er nicht genug Musik dabei hatte und gezwungen war, minutenlang zu reden, um die Zeit bis zu den Nachrichten zu füllen. Er war schweißgebadet aufgewacht, in Gedanken noch bei dem Nachrichtensprecher, den er ankündigte, der dann aber nur lachend vor ihm saß, statt seine Meldungen zu verlesen.
Aber dann war irgendwann der Tag seiner ersten Sendung gekommen und Jörn war morgens ins Studio gegangen mit einer innerlichen Ruhe und Gelassenheit, die er sonst nur nach einer halben Flasche Malt-Whiskey kannte. Alles hatte einwandfrei funktioniert: Die Technik hatte mitgespielt und nach wenigen Minuten hatte er sich im Studio genau so zu Hause gefühlt, wie bei Oma Annie auf dem Sofa. Als hätte er nie etwas anderes gemacht, als sei er geboren für diese Arbeit.
Nach der ersten Sendung war der Programmchef zu ihm gekommen, mit roten Wangen vor Aufregung hatte er dagestanden und sich kaum eingekriegt vor Begeisterung. „Alter, das war echt geil! So hab’ ich mir das vorgestellt. Eiskalt und frech, das kannste. Wie du diesen Wissenschaftler abgefertigt hast, ich krieg’ mich immer noch kaum ein. So einen Mann zu fragen, wer denn etwas davon hat, wenn man den ganzen Tag junge Sterne im Weltall anglotzt und ob das Geld nicht besser angelegt wäre, wenn man es den armen Kindern in der dritten Welt schickt, also genau so! Das wird so geil, da können die anderen Sender mal einpacken, das sage ich dir. Das kriegt keiner so gebacken, das trauen die sich ja gar nicht.“ Jörn erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Und bis heute hatte sich am Erfolg seiner Sendung nichts geändert. Berlin wollte ihn, Berlin wollte Jörn hörn. Jede Marktanalyse der vergangenen Jahre hatte den Sender durch seine Show am frühen Morgen ein Stückchen weiter an die Spitze der Marktführerschaft gebracht. Mit ein wenig Glück würde Radio Null es in diesem Jahr ganz an die Spitze in Berlin und Brandenburg schaffen.
Er grüßte den Pförtner am Empfang, von dem er bis heute den Namen nicht wusste. Bedauerlich, denn der ältere Herr hatte tatsächlich alle Namen der Kollegen drauf und das war allerhand, denn in dem Sendehaus war nicht nur Radio Null untergebracht, sondern auch die Seniorenwelle „PlusPop“ und das Jugendprogramm „Radio Franz“. Alle auf unterschiedlichen Etagen, mit eigenen Redaktionen und eigenen Archiven, aber eben in einem Haus. Zu dem „Guten Morgen, Herr Schmitt“ gesellten sich also im Laufe des Tages unzählige Herr X und Frau Y und der Mann im blauen Anzug hinter dem Eingangstresen kam nie ins Schleudern. Bewundernswert.
Mit dem Fahrstuhl fuhr Jörn in den zweiten Stock, zu den Räumen von „Radio Null“. Um diese Zeit war es noch sehr ruhig im Sender. Bis zum Beginn seiner Sendung lief ein aufgezeichnetes Programm, das nur für die Nachrichten unterbrochen wurde. Außer dem Nachtredakteur für die News war zu dieser Stunde noch niemand in der Redaktion. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich und Jörn sah den noch verwaisten Platz des Empfangs von Radio Null und die Schreibtische, im von den freien Mitarbeitern sogenannten „Wellness-Bereich“, rechter Hand vom Fahrstuhl. Hier hatten die fest angestellten Mitarbeiter ihre Schreibtische, die, mit den klar geregelten Arbeits- und Urlaubstagen, mit den Feiertagszuschlägen und dem Rentenanspruch. Die, die zur Arbeit kamen und ihren Job bei Radio Null nicht als besonderes Geschenk oder gar Traumberuf empfanden. Im Gegensatz zu den sogenannten „Freien“, die keinen Arbeitsvertrag hatten, die nach erledigten Sendungen oder Redaktionsschichten bezahlt wurden, die also alle Pflichten eines Arbeitnehmers hatten, aber keines seiner Rechte. Und die „Freien“ nahmen für sich in Anspruch, mehr und besser zu arbeiten, als die „Festen“ und wunderten sich gern darüber, wenn die Angestellten tatsächlich nach acht Stunden Arbeitszeit den Computer wieder herunterfuhren, auch wenn in Japan gerade ein Atomkraftwerk explodierte. Deshalb die Koseworte „Entspannungszone“ oder „Wundgelegenen-Abteilung“ für diesen Bereich der Redaktion.
Jörn beteiligte sich nicht an Diskussionen über die Arbeitsqualität der „Festen“ oder „Freien“. Ihm war wichtig, dass seine Sendung sorgfältig vorbereitet war, dass heiße Themen darin vorkamen und die erste Riege der möglichen Gesprächpartner am Telefon bereitstand. Welchen Status die Kollegen hatten, die diese Vorstellungen erfüllten, war für ihn zweitrangig.
Er wandte sich nach links, zum „heißen“ Bereich, in dem tagesaktuell gearbeitet wurde. An einigen Schreibtischen waren noch Lampen eingeschaltet, auf manch einem Computerbildschirm leuchtete das Senderlogo von Radio Null als Bildschirmschoner, auf anderen ein buntes Feuerwerk, obwohl es nahezu wöchentlich eine eMail der Administratoren gab, in der darum gebeten wurde, die PCs am Abend immer herunterzufahren, um Energie zu sparen.
Jörn ging am Ende des Raumes zum Regal mit den Fächern für die Sendeunterlagen und nahm die Papiere für Jörn hörn heraus. Ein ausgedruckter Sendeablauf, Kopien von Zeitungsartikeln aufgrund derer ein Gespräch vereinbart worden war, Veranstaltungsprogramme als Hintergrundinformation für ein Interview in seiner Sendung, sowie ein Ablaufplan, auf dem alle Musiktitel der Sendung mit Informationen zu Interpreten, Länge und Entstehungsjahr des Songs zu lesen waren. Anschließend ging er an den Produktionsstudios vorbei zu den Schreibtischen der Nachrichten- und Serviceredaktion und wünschte einen „Guten Morgen.“ Heute war Ingvar der Nachtmensch, wie die Kollegen die Schichtler nannten, die um fünf Uhr zum letzten Mal ihre Meldungen verlasen. Ingvar war ein echter Berliner, schon von Anfang an bei Radio Null, er kannte alle und jeden und auch alle Geschichten, die im Sender die Runde machten. Außerdem war er auch nach einer anstrengenden Nachtschicht immer die Freundlichkeit in Person.
„Morgen Ingvar, irgendwas besonderes heute?“
„Moin. Ne, ist ne ruije Nacht jewesen, Et jibt ne Meldung von der S-Bahn, da wird’s an einjen Stellen wieder eng nachher, det jibt bestimmt Ärja wenn der Berufsverkehr erstmal losjeht. Vielleicht is det denn ja ooch noch wat fürn Jespräch in deine Sendung. Aber sonst war nüscht.“
„Alles