Herman Old

Der Mann, der den Teufel zweimal traf


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Ständige Grenzverletzungen, kleinere Angriffskriege geschahen am laufenden Band. Bis Hitler dann den für die Welt verhängnisvollen Satz sprach. „Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen.“ Das war das Ende aller Träume von Frieden in Europa, und in vielen anderen Teilen der Welt. Bis zu seinem fünften Lebensjahr konnte Werner eine unbeschwerte Kindheit genießen, wie viele Kinder überall auf der Welt auch. Er ging mit seinen Eltern am Wochenende an das kurische Haff zum Baden, manchmal fuhren sie auch mit einem kleinen Ruderboot zum Zander Angeln raus, suchten Bernstein mit der ganzen Familie an der Ostseeseite, und oft waren sie in Palmnicken bei den Großeltern, wo der Opa früher im Beinsternbergwerk gearbeitet hatte, über das ganze Wochenende. Sein Bruder Erich und Klein Werner schlichen manches Mal mit Pfeil und Bogen bewaffnet, wie die Indianer durch den Wald, auf der Jagd nach Kaninchen und Fasanen. Dem Kleinwild fiel natürlich Besseres ein, als sich von den beiden Kindern erwischen zu lassen. Einmal trafen sie dabei allerdings wahrhaftig auf ein Kaninchen. Es hing gefangen in einer Schlinge, die jemand ausgelegt hatte, der vom Wildern etwas verstand. Das arme Tier zappelte so heftig, als es die beiden sah, das sich beide erschrocken umdrehten und wegliefen so schnell sie konnten. Diese Stelle mieden sie in Zukunft wie die Pest. Am Abend erzählte Erich dann seiner Mutter, dass er heute tatsächlich beinahe ein Kaninchen geschossen hätte. Das waren die schönsten Jahre seiner Kindheit. Unbeschwert und leicht, wie eine Kindheit sein sollte. Dann begann der Krieg. In den kommenden sechs Jahren sollten sechzig Millionen Menschen ihr Leben verlieren. Weitere Millionen verloren ihre Familien, ihre Heimat oder wurden deportiert. Die Schlange des Krieges langte ordentlich zu, und verschlang jeden und alles, dessen sie habhaft werden konnte. Der Krieg tobte die ersten Jahre an Fronten, die weit, weit weg von Ostpreußen lagen, und die teilweise niemand in Cranz kannte. Ungarn, Rumänien, Griechenland, Belgien, Schweiz, Luxemburg, Teile Afrikas, Frankreich, Norwegen. Überall schien der deutsche Soldat ohne großen Widerstand Siege zu erringen. Das klang natürlich in den Ohren der deutschen Bevölkerung verlockend. Solange sich der Krieg nicht vor der eigenen Tür abspielte, war er vertretbar. Außerdem war immer die Rede vom Endsieg, also musste der Krieg ja auch bald mal zu Ende sein. Man wollte ja nicht auf ewig im Kriegszustand sein. Aber die Alten, die hatten kein gutes Gefühl dabei. Der alte Seilermeister Pahlke sagte manches Mal mit Sorgenfalten auf der Stirn. „Nee, nee, Kinners,wenn das mal jut geht. Nich das wir eines Tages mal den Iwan vor der Tür haben. Ihr kennt den Iwan nich. Nee, das wünschen wir uns mal besser nich, Kinners.“ Werners Vater war von Kriegsbeginn an irgendwo als Soldat eingesetzt. Keiner wusste genau, wo er für Führer, Volk und Vaterland diente. Er war mit tausenden anderen, schon älteren, nach Russland marschiert. Von irgendwo dort kam im Winter 43/44 noch ein einziges Mal eine Feldpostkarte von ihm. Dann blieb es stumm um ihn. Das war die letzte bekannte Tatsache von Andreas. Und die Kriegsjahre dauerten an, bis es im Sommer 44 geschah. Der Krieg hatte sich nach der Invasion in der Normandie schon eine Weile gegen Deutschland gewandt, und jetzt kam der russische Alptraum nach Ostpreußen. Unaufhaltsam rückte er näher. Frontverschiebung nach hinten, hieß es bei der Wehrmacht. Keine Front hielt ihm und den alliierten Waffen auf Dauer Stand. Der Krieg war verloren. Ostpreußen war verloren. Endgültig. Der Exodus begann. Tausende Menschen quälten sich Richtung Westen. Als Volksschädlinge, Feiglinge, ja sogar als Vaterlandsverräter titulierte man Frauen, Kinder und alte Leute, die nichts weiter als ihre Haut retten wollten. Im Winter, der mit bitteren Temperaturen aufwarten sollte, gingen planlos Zehntausende Menschen zur Massenflucht über. Ganze Familien, meist ohne die Männer, flohen zu Fuß bei einer Schneedecke von bis zu 20 Zentimeter und Temperaturen von unter 20 Grad Minus. Weg hier, nichts wie weg, war das Motto. Der Russe sitzt uns im Nacken. Und was der Russe mit ihnen anstellen würde, sollte er sie packen, daran gab es keinen Zweifel. Die Flugblätter, die deutschsprachige Juden verfasst hatten, sprachen eine deutliche, grausame Sprache. Kein Deutscher aus Ostpreußen sollte entkommen. Die Straßen und Feldwege waren von kaputten Fahrzeugen, Leichen und toten Pferden verstopft. Oft mussten große Umwege über Felder und Gräben in Kauf genommen werden. Dabei stürzten nicht selten Wagen um und alles flog durcheinander. Mensch und Tier schrien vor Schmerz, Hunger und in höchster Not. Geflucht, gejammert und gebetet wurde ohne Unterlass. Und viele Trecks wurden vom einbrechenden, nachsetzenden Russen zersprengt. In den Wäldern lauerten teils einzelne Trupps Soldaten, um vom Wege abgekommene Wagen oder Nachzügler abzupassen. Auch die ehemals der Heimat beraubten Polen, die sich bis dahin noch still verhielten, veranstalteten nun furchtbare Rachefeldzüge und Gemetzel an den Deutschen. Vielen Menschen gelang es nicht mehr, die relative Sicherheit im Westen zu erreichen. Die rettende alte Heimat war weit weg, und der Russe war da. Das Drama um Ostpreußen ging seinem Ende zu.

       Das Ende von Werners Kinheit

      Januar 1945. Sie waren den dritten Tag unterwegs. Zum Glück hatten sie nicht nur einen großen Wagen mit zwei Pferden, sondern die Großeltern aus Palmnicken hatte auch noch viel Futter für die beiden Tiere gepackt. Werner, seine große Schwester Liesel und Erich waren gut eingepackt im Wagen verstaut. Unter die Kinder hatte der Opa zwei dicke Strohballen und darauf zwei Matratzen gelegt, damit die Kälte draußen blieb. Viele andere hatten das nicht. Die Großeltern wollten ihre Heimat nicht mehr verlassen. Durch nichts waren sie zu überreden, mitzukommen. Sie vertrauten darauf, dass der Russe auch Eltern hatte, und alten Leuten wohl nicht mehr viel passieren konnte. Elisabeth musste letztendlich ihre Schwiegereltern allein lassen. Sie kam sich vor als, würde sie sie im Stich lassen. Nachdem sie sich alle weinend voneinander verabschiedet hatten, ging es los. Das Grauen und Elend, welches ihnen bereits an diesem ersten Tage ihrer Flucht aus der Heimat begegnete, war unbeschreiblich. Bereits wenige Kilometer hinter Cranz sahen sie die ersten Leichen. Nachbarn, Fremde, Soldaten. Teilweise lagen sie einfach so da. Ohne Gepäck, ohne Mantel. Einfach tot im Schnee, als wäre es das normalste auf der Welt, tot im Schnee zu liegen. Der Treck kam, da sie sehr früh losgefahren waren, noch am hellen Nachmittag vor Frauenberg am frischen Haff, in einem Waldstück an. Da es unsagbar kalt war, wollte man trotz aller Eile anhalten, Feuer machen und für die Alten und Kinder, schnell etwas zu Essen richten. Nicht lange, aber gerade genug für eine kleine Erholung für Mensch und Tier. Die Pferde hatten es ebenso bitter nötig, wie die Menschen. Dort wo sie lagerten, fanden sie eine ehemalige Stellung des deutschen Heeres und einige tote Soldaten, sie lagen kreuz und quer durcheinander. Hier ein Hauptmann mit dem Gesicht nach unten, der an seinen Zeichen auf der Schulter zu erkennen war, da zwei Unteroffiziere, überall Soldaten, einfache Männer, die beim Versuch, Ostpreußen vor dem Feind zu schützen, ums Leben gekommen waren. Väter und Söhne, Brüder, Onkel, die jetzt in irgendeiner Familie für immer fehlen würden. Alle vor wenigen Stunden gestorben. Kaputte, zerschossene Fahrzeuge, Waffen, Landkarten, Essgeschirre und viele andere, teils persönliche Dinge der Soldaten, lagen herum, und schauten aus der dünnen Schneedecke heraus. Der kleine Treck aus Cranz konnte diesen Ort nicht so ohne weiteres hinter sich lassen. Der nächste Wald war ein gutes Stück entfernt und sie alle brauchten eine kurze Rast. Wahrscheinlich sah es im nächsten Waldstück ähnlich aus. Deswegen blieben sie jetzt hier, und versuchten, so gut es ging, die Toten nicht zu sehen. Zum Glück waren die Leichen schon mit einer leichten Schneeschicht bedeckt, so dass der Anblick eher zu ertragen war, da man keine Gesichter sondern nur Umrisse sah. Gerade als die ersten Menschen des Trecks die vorderen vier Wagen verlassen hatten, um sich endlich die Beine zu vertreten, kamen drei Männer mit Karabinern in den Händen, aus dem Wald auf den Treck zu gelaufen. Es gab keine Chance ihnen auszuweichen. Sie hielten die Karabiner auf die abgestiegenen Menschen gerichtet, und schrien teils auf Polnisch und deutsch. Es war zu verstehen, dass die drei eben abgestiegenen Mädchen von den Wagen zu ihnen rüber kommen sollten, und dass die Frauen ihre Wertsachen den Mädchen mitgeben sollten. Es fiel immer wieder das Wort: Gold. Die Frauen schauten sich hilflos an, die Alten begannen zu jammern und bekreuzigten sich. Die Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren wussten gar nicht was los ist. Da standen drei Männer und schrien, es war eisig kalt und ihre Mütter fingen nun ebenfalls zu jammern und schluchzen an. Ein paar Jungs von zehn, zwölf Jahren kamen ebenfalls aus den Wagen, sie hatten noch gar nichts mitbekommen. Einer der Männer kam bis auf ein paar Meter heran und herrschte die Jungs an, sie sollen verschwinden und die Frauen, sie sollen sich gefälligst beeilen. Die Frauen sprangen auf die Wagen, kramten darin herum, und jede kam mit irgendeiner Tasche oder Schachtel wieder hervor. In der Zwischenzeit waren die Mädchen, durch das ständige Winken mit den Gewehrläufen und dem Gebrüll, gezwungen, auf die Männer zögernd zugegangen. Einer der Kerle griff sich die zwölfjährige