dieser Transport hier würde ihm ewig in Erinnerung bleiben. Nichts weiter als ein dick vermummtes Bündel sah er. Ein paar Sekunden später hörte er das gewaltige Knattern eines Hubschraubers. Das Geräusch wurde immer lauter, bis es schier unerträglich wurde. Der Hubschrauber ging tatsächlich mitten auf dem weitläufigen Gelände runter, bis er sanft aufsetzte. Werner kam sich vor wie im falschen Film. Als würde er bei Dreharbeiten zu einer spannenden Szene zusehen. Er realisierte alles gar nicht so richtig. Es wirkte so unecht wie nur sonst was. Er sah die verletzte Person nicht ein einziges Mal. Sie war extrem dick verpackt worden, gerade im Bereich des Kopfes und des restlichen Oberkörpers, damit sich keine Folgeschäden ereignen konnten. Und trotzdem musste sie bewegt werden. Vorsichtig schoben die Sanitäter den Wagen zum Hubschrauber. Werner hatte noch nie einen Hubschrauber aus dieser kurzen Distanz gesehen. Er wunderte sich, wie klein so ein Fluggerät tatsächlich war. Er ging zu einem der Ärzte, die den Wagen schoben und sagte ihm, wer er sei und ob er wüsste wo seine Enkelin sei. Der Arzt schaute ihn kurz an und riet ihm, mit einem der Rettungsfahrzeuge zur Polytraumaklinik zu fahren, er könne jetzt und hier rein gar nichts sagen. Werner drehte sich zum Trainer um, den er in seinen Sportsachen in der Menge schon ausgemacht hatte. Als er bei ihm ankam, hatte dieser Tränen in den Augen. Noch bevor Werner auch nur eine Silbe sagen konnte, platzte es aus dem Trainer heraus. Er sagte zu Werner: „Es tut mir so unglaublich leid. Glauben Sie mir. Ich hab`s nicht gesehen. Keine Ahnung warum. Ich habe nicht hingeschaut nachdem sie angelaufen war, weil mein Handy ging. Als ich das Gespräch angenommen hatte, hörte ich den Sturz. Vielleicht hat sie sich bei den Schritten vertan oder ist zu kurz gesprungen. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, was genau passierte. Es waren doch nur vier Meter. Also nichts Besonderes. Es war fürchterlich, wie sie so still da lag, einfach fürchterlich. Ich habe mit dem Handy sofort Hilfe geholt, und die Sanis waren auch unglaublich schnell da. Oh, mein Gott, hoffentlich wird sie wieder gesund, hoffentlich. Sie muss wieder gesund werden. Da schaust du einen Moment nicht hin, und dann das.“ Er ließ Werner stehen und ging kopfschüttelnd Richtung Umkleide. Eine Frau mittleren Alters kam auf Werner zu und nahm ihn in den Arm. Sie schluchzte und schaute ihm durch den Schleier ihrer Tränen in die Augen. Werner schob sie ein Stück zurück und fragte: „Rosi, was, zum Teufel ist hier eigentlich los, was ist mit Ina?“ Rosi, eine alte Bekannte von Werner erschrak bei dieser Frage und sagte. „Ina ist beim Sprung gestürzt, die Ärzte konnten uns nicht sagen, wie schwer sie verletzt ist. Überhaupt nichts sagten sie auf unsere Fragen. Alle hier leiden mit. Wir lieben sie doch, unsere kleine Motte.“ Sie brach in hemmungsloses Schluchzen aus und setzte sich schwer auf einen Hocker an der Glasfront der Trainingshalle. Werner ließ sie jammernd da sitzen und schaute sich fragend um. In seinem Kopf drehte sich alles. Alles stand wild durcheinander und diskutierte, draußen und drinnen, während der Transportwagen den Hubschrauber erreichte. Es war sein Glück, dass alles so ziemlich wie ein zäher Brei an ihm vorbeilief. Hätte er die Tragweite des Unglücks jetzt schon erkannt, wäre er auf der Stelle verrückt geworden. Seine Augen suchten nach Ina während er langsam zu seinem Auto ging.
Die Diagnose
Prof. Dr. Jäger schüttelte den Kopf, als er den Befund ansah. Wieder ein Mensch zu lebenslänglich verurteilt. Axisfraktur, inkomplette Querschnittslähmung nach dem Bruch des fünften Halswirbels. Die Restfunktionen, die die Nerven noch aufwiesen, würden mit der Zeit auch verschwinden. Es gab Tage, da widerte ihn diese Diagnose dermaßen an, dass es kaum zu ertragen war. Während für die anderen Menschen das Leben in gewohnten Bahnen weiterging, brach bei den damit geschlagenen, die Welt ein für alle Mal zusammen. Es gab kein weiter oder von vorne. Kein zurückspulen des Lebens Filmes oder rechtzeitiges Umschalten auf einen harmlosen Sender. Es tat in der Seele weh, sehr weh. Die junge Frau war zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte einen Sportunfall beim Stabhochspringen erlitten und sich wie der Volksmund so salopp sagte, das Genick gebrochen. Das Urteil war endgültig. Ein paar Fasern hielten sich noch hartnäckig fest, aber die würden wegen fehlender Aktivität auch irgendwann den Geist und ihre Funktion aufgeben. Traurigkeit war gar kein passender Ausdruck dafür, was er empfand. Er wollte Arzt werden, um den Menschen zu helfen. Beim Leben und beim Sterben. Aber in solchen Fällen stand seine Kunst vor einer unüberwindlichen Wand. Da zeigte es sich, dass alles Wissen der Ärzte doch ihre unüberwindbaren Grenzen hatte. Sie konnten totgesagte oft noch dem Tod von der Schippe holen, sie konnten viele, viele Krankheiten heilen oder so verlangsamen, so dass ein Weiterleben möglich war. Aber wenn die Nervenstränge durchtrennt waren, dann war es vorbei mit der Mobilität desjenigen. Die Medizin war heutzutage zu unglaublichen Leistungen fähig. Allein ein MRT oder CT, das waren die Offenbarungen bei der Diagnostik. Früher war man auf recht grobe Dinge wie Röntgen oder Ultraschall angewiesen. Diese Geräte taten ihren Dienst natürlich auch, waren aber eben ziemlich ungenau. Heute konnte man den Menschen virtuell in Scheiben schneiden, und eine viel sichere Diagnose stellen. Oder die Mikromedizin, das Elektronenmikroskop, welches einem einen ganz anderen Kosmos zeigte, als man bisher kannte. Man konnte minimalste Teilchen sehen und danach behandeln. Die Therapien wurden immer ausgefeilter. Selbst Krebsbehandlungen waren heute wesentlich einfacher und umfangreicher. Sogar aus dem homöopathischen Bereich war vieles in die reguläre Medizin übernommen worden. Globulis, die von der Pharmaindustrie geächteten Traubenzuckerkügelchen ohne nachweisbare Inhaltsstoffe, taten ihre Wirkung. An allen Ecken und Enden fanden kleine und große Revolutionen statt, die dem Menschen zum Vorteil reichten. Aber dann gab es auch diese endgültigen, unmenschlichen Diagnosen. Dieses „nie wieder“, war ein unfassbar hartes Urteil. Auch unfassbar für die Angehörigen, die in Zukunft ebenso mit dem Zustand des geliebten Menschen leben mussten. Da war noch manchem ein echtes Ende lieber als das. Lieber tot, als lebendig begraben, war die Devise einiger. Doch keiner konnte fühlen, was in diesen daliegenden, hilflosen Geschöpfen vor sich ging. Wollten sie um jeden Preis leben, oder wollten sie sterben, um einer grausamen Zukunft zu entgehen? Es war ein Dilemma, dieses nicht zu lösende Problem, das die Menschheit hatte. Einen Hund oder einen Hamster würde man einschläfern lassen. Man hätte das Gefühl, gnädig gewesen zu sein. Aber bei der eigenen Tochter, oder dem Sohn, oder dem Mann? Da gab es kein Überlegen, keine Gnade. „Mensch, du lebst, das ist doch schon mal was.“ Leb wohl, sagte man beim Abschied oft. Welch ein grausamer Witz in diesem Fall. Das Sterben war die eine Geschichte, eine die endete. Das unsägliche Weiterleben als querschnittsgelähmter aber, eine völlig andere. Professor Jäger hoffte für Ina, dass sie einen starken Lebens- und Überlebenswillen hatte, der sie weiter durchs Leben tragen würde. Ohne den gab man sich nämlich meistens auf und hatte als Gelähmter verloren. Das durfte nicht sein. Auch das Leben eines Menschen mit dieser Behinderung hatte noch positive Aspekte zu bieten. Auch wenn sie sicherlich auf ein Minimum reduziert waren. Aber dann wurden eben andere, kleinere Dinge, an die man ohne Behinderung erst gar nicht dachte, relevant. Er legte die Akte auf den Schreibtisch und sah seinen ältesten Sohn Jan an. Schau sie dir bitte mal an, wenn du Zeit hast. Sie liegt auf der neurologischen, 17 B.
Dr. Jan Jäger
Jan Jäger saß an Inas Bett und schaute ihr in die Augen. Er ertrank fast in diesen großen, gequält blickenden, grünen Augen. In seinem Kopf kreiste unaufhörlich der Gedanke. Mein Gott, da liegt ein Engel. Ein Engel ohne Flügel. Er tat sehr professionell bei ihrer Untersuchung, wollte auf keinen Fall Mitleid zeigen, konnte es aber nicht so ganz vermeiden. Sie hatte wieder ein leichtes Sedativa bekommen, da sie sehr unruhig war, bevor der Arzt kam. Es war besser sie noch eine Weile ruhig zu halten, als das man sie gleich mit der grausamen Wahrheit überfiel. Sie war durch das Beruhigungsmittel natürlich nicht komplett stillgelegt wie in einer Narkose, aber immerhin soweit beruhigt, dass ihre Vitalfunktionen nicht beeinträchtigt waren, und sie trotzdem ihre Umwelt wie durch einen leichten Schleier wahrnahm. Es machte die Sache einfach für eine Weile für alle Beteiligten leichter. Nicht nur sterbenden gab man heutzutage Sedativa, sondern auch leidenden. Das Schicksal dieser jungen Frau ging ihm gewaltig an die Nieren. Er nahm immer wieder Anteil am Schicksal seiner Patienten. Das war für ihn als Menschen normal, aber manchmal traf es ihn extrem, so wie hier. Im letzten Jahr hatte die Klinik zwei junge Menschen an den Krebs verloren. Ein kleines Mädchen von acht Jahren und einen zehnjährigen Jungen. Sie starben beide nacheinander innerhalb weniger Wochen, nachdem ihre Therapien in keinster Weise angeschlagen hatten. Der Tod wollte sie scheinbar haben. Alle in der Klinik, die mit den beiden vertraut waren und sie in der letzten Zeit