Karl Blaser

Die Stille im Dorf


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setzt sich an den Tisch, schlürft seine Suppe und verschwindet gleich darauf mit herunterhängenden Mundwinkeln und ohne ein ‚Gute Nacht‘ in seine Bettkammer.

      Anna muss in diesen Tagen die Stuben säubern, sie wachst die Dielen mit Ochsenblut, damit sie an Ostern glänzen. So ist es Brauch, das Dorf macht sich für Ostern fein, egal, ob die Welt um sie herum zusammenkracht. Noch spielt Johann dann und wann auf seiner Mundharmonika. Noch werden am Abend auf seine Anordnung hin alle Fenster verdunkelt, noch stapfen sie im Dunkeln zu Fuß zur Frühmesse ins Nachbardorf durch den langsam schmelzenden Schnee, egal ob ein Tiefflieger sie erspäht – nur das »Oh du fröhliche« singt keiner mehr. Die Häuser sind voller einquartierter Frauen und Kinder aus der Stadt, die vor den Bomben fliehen, die auf Köln, Düsseldorf, Hannover, München, Berlin und Kiel niederregnen. Da ist die Luft schwarz. Hier haben sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. Hier gibt es noch genug zu essen. Soll sie wirklich, wie jedes Frühjahr, den Holzboden schrubben? Anna denkt an die Männer an der Ostfront, die mit den vielen Flüchtlingen auf dem Rückzug sind – rette sich, wer kann. Ihr fällt ein Satz aus dem Matthäus-Evangelium ein, den die Küsterhelferin Christel immer zitiert: »Bittet aber, dass eure Flucht nicht im Winter geschehe.«

       Anna beschließt, den Fußboden in diesem Jahr nicht zu bohnern. Es ist sinnlos.

       Als sie die knarrenden Stufen der alten Treppe hinabsteigt, ziehen noch einmal die Bilder jenes Tages an ihr vorüber, als sie Johann auf dem Marktplatz kennenlernte. Einen Augenblick lang bleibt sie auf den Stufen stehen und schließt die Augen. Eine wohlige Wärme durchfließt ihren Körper. Fast schämt sie sich. Die Menschen sind in Sorge, sie haben keine schönen Träume. Anna gibt sich einen Ruck und geht in die Küche. Sie legt kleine Holzspäne auf die Reste der Glut im Herd, sie beginnen zu glimmen, fangen Feuer. Sie schiebt weitere Holzscheite nach und will gerade die Luftklappe schließen, als es an ihre Küchentür klopft. Wo ist Margarete, fährt es ihr durch den Kopf. Sicher schläft sie noch. Auch Mathilde, Will und Lissy haben noch kein Lebenszeichen von sich gegeben. Anna liebt diese Zeit, sie liebt die Frühe. Dann ist es still. Dann ist sie mit sich allein. Sie hat sich gerade heiße Milch aufgebrüht und sich an den leeren Tisch gesetzt. Noch einmal klopft es. Anna erwartet niemanden, und eigentlich will sie keinen hereinlassen und mit niemandem reden; sich diese Stille nicht zerstören lassen. Sie dreht sich zur Tür um, die sich im selben Augenblick öffnet: Da steht er vor ihr: Micha, ihr Sohn! Mit ihm hat sie am wenigsten gerechnet. Sie schlägt die Hände vor den Mund und stößt einen so hellen Seufzer aus, dass er das ganze Haus aufzuwecken vermag. Wie es unerwartet in ihr wühlt und bebt! Ihr wird schwindelig vor Freude, fast ohnmächtig fällt sie in seine Arme. Sein Rucksack knallt dumpf auf die hölzernen Dielen.

      »Micha!«

      »Mutter!«

      »Mein Sohn!«

       Sie klammert sich an ihn, am liebsten würde sie ihn an sich ketten.

      »Du lebst, mein Gott, du lebst! Der Herrgott hat unsere Gebete erhört«, stammelt sie.

       Langsam kommt sie wieder zu sich. Micha setzt sich an den Tisch. Es fällt ihm schwer. Er ist verwundet.

      »Dein Bein!«

      »Ja, ich habe was abgekriegt. Halb so schlimm«, sagt er. Er werde es ihr erzählen. Aber nicht jetzt. Er habe Hunger. »Es riecht so gut in deiner Küche!«

      »Ich habe einen Streuselkuchen gebacken«, sagt sie und stellt keine weiteren Fragen.

       Micha hat Hunger wie ein Bär, Anna huscht aus der Küche. Sie holt einen Laib Brot aus der Speisekammer.

      »Es ist ganz frisch«, sagt sie und hockt sich zu ihrem Sohn an den Tisch.

      »Frisches Brot«, sagt er leise.

       Anna ritzt mit dem Messer ein Kreuz ein, sie murmelt ‚Gott segne dieses Brot’ vor sich hin, schneidet es an und reicht ihm eine dicke Scheibe. Er hält die Brotschnitte an seine Nase.

      »Ich hatte diesen Geruch fast vergessen. Dafür weiß ich jetzt, wie Pulver riecht.«

       Anna kommt mit einem Schöpflöffel, nimmt den Teller, füllt ihn mit Haferflockensuppe. Micha trägt einen Bart. Er ist abgemagert, tunkt die Brotscheibe in den Napf. Anna sieht mit besorgter Miene, wie ihr Sohn das Essen in sich hineinschaufelt.

      »Brot mit richtiger Milchsuppe, dass ich das noch mal erleben darf.«

       Er solle langsam essen, sonst werde ihm schlecht, mahnt sie.

      »Und wenn schon! Besser satt kotzen als hungrig sterben.«

      »Wo ist Vater?«

      »Ich weiß es nicht.«

      »Und Max?«

      »Der steht im Stall. Das Pferd und die Katzen sind das Einzige, was deinen Vater hier auf dem Hof kümmert. Gottseidank haben wir die Polen. Wir müssen Brennholz haben, aber das ist deinem Vater egal. Der Winter dauert lange dieses Jahr.«

      »Das hier nennt ihr Winter?«, ruft Micha.

       Darauf weiß sie keine Antwort. Sie reicht ihm noch ein Stück Brot.

      »Hitler braucht kräftige Soldaten, aber bald gibt’s keine mehr.«

      »Pst! Ich will jetzt nicht über diesen Kerl reden!«

       Micha lächelt sie an und streichelt ihr mit der Hand über die rote Wange.

       »Du hast Recht. Es ist so schön warm hier.«

      »Leg dich erst mal hin. Ruh dich aus. Du siehst so müde aus. Versuch, ein bisschen zu schlafen.«

      »Schlafen …«, sagt Micha leise. »Schlafen ...«

      »Ja, schlafen«, wiederholt Anna. »Schlaf heilt die Seele.«

      »Ich weiß nicht, ob ich das noch kann. Gibt es Nachricht von den andern Jungs im Dorf?«

      »Ich erzähl‘s dir später, das hat doch Zeit.«

      »Nein«, insistiert der Sohn. »Hast du was von Karl gehört?«

      »Ella, Karls Verlobte, hat vor ein paar Tagen einen Brief von ihm aus Frankreich bekommen. Im Umschlag steckte auch ein Bild von ihm. Er steht lachend, in Siegespose und mit Zigarette in der Hand, vor einem feindlichen Panzer«, erzählt Anna.

      »Karl steckt an der Westfront? Er ist verlobt?«

      »Karl hat Ella kennengelernt, als er beim letzten Heimaturlaub im Herbst in Cochem Wein gehamstert hat. Ella ist wirklich eine Nette! Wenn sie ihren Namen buchstabiert, dann sagt sie: Ella wie alle, nur rückwärts! Sie ist immer fröhlich und hat nette Sprüche auf Lager. Im Winter ist sie oft ins Dorf gekommen: Sie will herziehen, sobald der Krieg vorbei ist.«

      »Sie will wirklich von der Mosel herziehen?«

      »Ja, das hat sie vor. Warum auch nicht? Bei den beiden hat’s richtig gefunkt. Das hat sogar der einäugige Edmund erkannt.«

      »Nicht zu fassen«, sagt Micha.

       Er schüttelt den Kopf.

      »Auf der Rückseite des Fotos hat er ein kleines Gedicht für sie geschrieben.«

      »Ein Gedicht? Karl hat Ella ein Gedicht geschickt?«

       Micha kommt aus dem Staunen nicht heraus. Karl, sein Freund, mit dem er die Schulbank gedrückt hat, schreibt Gedichte? Ausgerechnet Karl, der früher lieber Bäume im Wald gefällt hat oder über die Felder galoppiert ist, als über Hausaufgaben zu brüten? Dieser Karl schreibt jetzt also Liebesgedichte?

      »Ja, er hat Ella ein Liebesgedicht geschrieben. Sie hat es allen vorgelesen, immer und immer wieder, sie war so stolz und glücklich. Alle Frauen kennen es inzwischen schon auswendig. Nur einer im Dorf kennt es nicht: dein Vater! Der darf nichts davon wissen!«

      »Karl hat wirklich ein Gedicht geschrieben? Sagenhaft! Erzähl! Na los! Sag schon! Du kennst es doch auch!«

       Anna ziert sich.

      »Na mach schon! Was hat er geschrieben?«

      »Du