Karl Blaser

Die Stille im Dorf


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kennst mich. Du weißt, dass ich es mir nicht leichtmache«, sagt er.

       Gleichzeitig drückt er ihr den Brief in die Hand.

      »Muss ich ihn nehmen?«, fragt sie, fast kaum hörbar.

       Johann zögert mit der Antwort.

      »Ja, du musst ihn nehmen. Wir müssen alle stark sein.«

      »Ja, natürlich«, murmelt sie. »Wir haben das zu ertragen.«

      »Es tut mir leid«, sagt Johann noch, als er schon wieder in der Haustür steht.

       Er fährt sich durch die zerzausten Haare und wischt sich die feuchten Hände an seiner Hose ab. Er müsse weiter, sagt er verlegen, und huscht ins Freie.

       Anne-Kathrin schaut ihm durch das verschlossene Fenster hinterher, den Brief in der Hand. Sie reißt sich die Arbeitsschürze vom Leib und schleudert sie in die Ecke. Als der Ortsbauernführer außer Sichtweite ist, verschließt sie die Tür, zieht die Gardinen zu, als wolle sie sich verschanzen. Sie legt den Umschlag behutsam vor sich auf den Tisch. Sie starrt ihn an. Das Atmen fällt ihr schwer. Schweißperlen tropfen von ihren roten Wangen.

       Sie ballt die Fäuste, beißt auf die Zähne. »Nein! Nein, nein«, sagt sie immer und immer wieder. In ihrem Innern brodelt ein Vulkan. So vergehen die Stunden. Langsam. Warum soll sie den Umschlag öffnen, fragt sie sich. Soll sie ihn ins Feuer werfen? Die Wahrheit verbrennen, damit ihre Hoffnung weiterleben kann? Sie starrt auf das Papier. Was für einen Sinn haben diese vorgedruckten Briefe? Als es dunkel wird, nimmt sie ein Messer. Wäre es nicht besser, es ins eigene Herz zu rammen als diesen Brief zu öffnen, fragt sie sich. Widerwillig öffnet sie schließlich den Umschlag. Einmal, zweimal, dreimal liest sie die wenigen Zeilen, die langsam vor ihren Augen verschwimmen. Dann gleitet ihr der Bogen aus den kraftlosen Händen und fällt zu Boden. Die Schäferhündin schnuppert daran.

      »Warum haben wir ihn nur ziehen lassen, Penelope? Warum?«

       Die Hündin schaut ihr mit treuen Augen nach, als Anne-Kathrin hinaus auf die Straße stürzt.

      »Es ist meine Schuld, allein meine Schuld«, schreit sie laut. »Mein Gott! Mein Gott!«

       Sie stolpert, fällt auf das nasse Pflaster. Warum hat sie denn überhaupt gebetet, wenn doch alles sinnlos ist? Mit beiden Händen trommelt sie auf die kalte Erde, als solle sie sich öffnen.

       Anne-Kathrins kleiner Winkelhof liegt direkt neben der Kirche mit dem hohen Turm, dem Wahrzeichen des alten Haufendorfs. Um den Kirchturm herum gruppieren sich die Bauernhöfe und die Straßen der Siedlung. Anne-Kathrin und Johann wohnen nicht weit voneinander, das schwere Hoftor des reichen Bauern ist meist verschlossen. Jetzt öffnet es sich. Margarete wirft einen Blick nach draußen und läuft die Straße hinab.

      »Stimmt es? Stimmt es wirklich?«, will sie von Anne-Kathrin wissen.

       Anne-Kathrin sieht Margarete fragend, mit rotunterlaufenen, verweinten Augen an. Was soll sie ihr sagen? Beiden blutet das Herz. Beiden ist der liebste Schatz genommen, den sie auf Erden hatten. Beide sind jetzt arm. Und doch ist Anne-Kathrin unfähig und auch nicht willens, ihre Trauer mit der jungen Frau zu teilen. Als Margarete die Hand auf Anne-Kathrins Schultern legt, weist Anne-Kathrin sie ab. Niklas Mutter will sich nicht von diesem Mädchen trösten lassen. Margarete hält weinend die Hände vors Gesicht. Sie dreht sich hilflos weg und läuft gebückt zurück nach Hause, wo sie sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert und wo niemand verstehen kann, warum ihr der Tod dieses Soldaten so nahegeht.

       Mathilde und Anna eilen schließlich herbei. Sie heben die Mutter aus dem Dreck. Auch andere Nachbarsfrauen kommen und stehen hilflos herum.

      »Sie hätte ihn nicht wieder gehen lassen dürfen«, wispert eine Stimme.

      »So ist der Krieg: gefräßig und ungerecht«, sagt eine andere.

      »Komm, wir gehen ins Haus«, flüstert Mathilde. »Es ist nicht deine Schuld.«

      »Doch, doch!«, stammelt Anne-Kathrin. »Es ist meine Schuld!«

       Sie ballt ihre Fäuste und reckt sie hoch gegen den verwaisten Turm.

      »Ich kann dir nicht mehr glauben«, schreit sie verzweifelt in den kalten grauen Himmel. »Antworte! Antworte mir! Du sollst mir antworten! Goooooott!«

       Sie drückt ihr verweintes Gesicht an Mathildes Brust.

      »Warum nur haben wir dieser braunen Bande geglaubt?«, schluchzt sie.

      »Weil wir ihr glauben wollten«, antwortet Mathilde.

       Anne-Kathrin gibt sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Nur widerwillig lässt sie sich ins Haus führen. Anna kehrt wieder zurück auf ihren Hof, um nach Margarete zu schauen. Sie hat Angst, dass ihre Tochter sich etwas antun könnte.

      »Alles wird gut«, sagt Mathilde.

       Allein sitzt sie mit Anne-Kathrin am Küchentisch.

      »Die den Krieg säen, frisst er zum Schluss«, flüstert die Elende. »Nichts wird mehr gut, niemals!«

       Wie viele Söhne werden noch fallen, denkt sie. Am Abend läutet die Glocke im Dorf zum neunten Mal.

      5

       Anfang März 1945

      Margarete schläft noch tief, als über ihrem Haus der Tag erwacht. Der Frühling liegt in der Luft. Er hat nun endlich über den viel zu langen Winter gesiegt. Ein leichter Wind weht Grüße durch das offene Fenster herein, und in den Öfen erlischt langsam die Glut. Mitte, manchmal sogar Ende März wird das Gras allmählich grün, als würden unsichtbare Hände es übermalen wie das Gesicht einer blassen Frau, die morgens vor dem Spiegel sitzt und ihre Haare kämmt. Aber noch ist es nicht so weit. Nur vorsichtig trägt die Natur Schminke auf, nur zaghaft recken sich die ersten Halme in den herrlich-blauen Himmel. Es ist kein tiefes, kräftiges Blau, wie man es vom Meer her kennt; es ist ein zartes, pastellfarbenes Blau, mit einem Schuss Weiß gemischt, wie zufällig dahingewischt mit schneller Hand. Im Traum kann sich Margaretes Blick nicht davon lösen. Sie muss es immerzu ansehen, weil es hier oben in dieser Welt, die nicht für Menschen geschaffen scheint, so selten ist.

       Margarete träumt. Sie fährt zusammen mit Niklas über das sanfte Land. Penelope läuft dem Wagengespann hinterher, am Waldrand steigen sie ab, legen sich in den Schatten, ihre Münder berühren sich, eng schmiegen sie ihre Körper aneinander. Sie spürt seinen Atem, Niklas flüstert ihr leise ins Ohr. Er will Kinder mit ihr haben, viele Kinder! Er greift nach ihrer Hand.

       »Eins, zwei, drei, vier«, zählt er.

       Er schaut tief in ihre Augen. Sie hält verschämt die Hand vors Gesicht. Niklas übersät ihren Körper mit Küssen, und sie lässt es geschehen.

       Über ihr die Wolken, der Himmel und das Zwitschern der Vögel. Am Wiesenrand grast der Ochse. Da schlägt sie die Augen auf.

       Niklas!

       Er war da!

       Er war bei mir!

      Mit ihm hatte sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen können. Sie spürt seine Haut. Sie fühlt seine weichen Lippen. Sie vermisst ihn so sehr!

      »Wenn ich wiederkomme, werden wir aufhören mit dieser Heimlichtuerei«, hatte er versprochen und ihr zum Abschied ein kleines, schlichtes Holzkreuz geschenkt, das er aus einem heruntergefallenen trockenen Ast der alten Kastanie in Johanns Hof selbst geschnitzt hatte. Wie jeden Morgen kramt sie es aus der Nachttischschublade hervor. Sie hat es versteckt, wickelt es aus dem Handtuch und umklammert es fest mit ihren Händen. Hoffen. Hoffen, hoffen. Nicht bangen, sagt sie sich. Vielleicht klopft es bald an der Tür. Vielleicht steht Niklas bald wieder lächelnd vor ihr und nimmt sie bei der Hand. Vielleicht ist er gar nicht tot, wie alle sagen.

       Ihre müden Augen wandern die graue Zimmerdecke entlang, als würden sie dort oben kleben, die schönen Spuren ihres Schlafs. Aber ihr Traum, ist er nicht längst ausgeträumt? Der Krieg,