Karl Blaser

Die Stille im Dorf


Скачать книгу

weiß, dass es keinen Sinn mehr hat, wenn du zurück an die Front gehst«, flüstert der alte Jockem Niklas zu.

       In der Scheune habe er ein Radio versteckt, erzählt er ihm mit gedämpfter Stimme. Abends, in der hintersten Ecke, höre er den Engländer ab. Tonnenweise würde es Bomben auf die deutschen Städte regnen.

      »Die Amerikaner haben Aachen erobert und Heinsberg, Jülich, Euskirchen und Düren schwer bombardiert«, sagt er leise.

       Warschau sei zerstört, und die Rote Armee habe bereits Belgrad eingenommen. Die Front sei zusammengebrochen. Die Russen hätten die Weichsel überquert, die Wehrmacht habe dem Ansturm nur wenig entgegenzusetzen, die Menschen aus den Ostgebieten seien auf der Flucht.

      »Wer weiß, wie lange die sich da hinten noch über die Ostsee retten können. Bald werden wir die Rechnung zahlen«, tuschelt Jockem. »Dann kriegt auch Johann sein Fett ab!«

      »Unkraut vergeht nicht«, entgegnet Niklas und wiegelt ab. Johann ist schließlich sein zukünftiger Schwiegervater. »Wer weiß das besser als wir Bauern! Wollt ihr, dass der Iwan auf unseren Feldern das Regiment übernimmt? Wir müssen uns auf unsere erfahrenen Heeresführer verlassen, uns kleinen Leuten bleibt gar keine andere Wahl.«

      »Erfahrene Führer? Dass ich nicht lache!« Jockem hüstelt spöttisch. »Der Herr Reichsmarschall Göring hat in Karinhall gesessen und seinen Wanst gemästet, statt die Luftwaffe auf der Höhe zu halten. Der ist schuld, dass alles in Schutt und Asche liegt, der ganz allein. Der Krieg ist verloren, die Ostfront längst zusammengebrochen, hörst du, Niklas?«

      »Wart‘s nur ab, bis der Frühling kommt, Jockem, dann marschieren wir wieder vorwärts. Du wirst sehen: Das Blatt wird sich noch mal wenden.«

      »Hör auf, dir was vorzumachen, Junge! Rumänien hat im August mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und Deutschland den Krieg erklärt. Paris ist bereits an die Alliierten übergeben. Die Amerikaner haben nordwestlich von Trier die Reichsgrenze überschritten. Das Spiel ist aus«, raunt Jockem leise.

      »Das hab ich gehört!«, lallt Johann. »Woher willst du das wissen, du Lump? Hörst du etwa den Feind ab? Das werde ich dir austreiben, na warte! Kein Wort davon ist wahr! Der Krieg geht weiter vorwärts! Heil unserem Führer!«

      »Drohst du mir etwa? Willst du mich anzeigen?«

       Erbost springt Jockem vom Stuhl.

      »Und ob ich das tue!«

      »Dann tu’s doch, gleich morgen, wenn du wieder nüchtern bist. Schreib deinem Führer einen Liebesbrief! Trotzdem hat es sich bald ausgerommelt! Seine Panzer haben schon längst den Rückwärtsgang eingeschaltet!«

      »Genug jetzt«, fährt Niklas dazwischen. »Ich werde meine Kameraden nicht im Stich lassen. Basta.«

      »Richtig!«, ruft Johann. »Richtig! So redet ein deutscher Soldat! Habt ihr das gehört? Ihr werdet euch alle noch wundern!«

       Der Volkssturm werde alles niederschlagen. Mutig sei der Germane, treu bis in den Tod. In Marzabotto hätten Wehrmacht und SS ein Exempel statuiert und gezeigt, wie man mit Widerständlern verfahre. Das solle allen eine Lehre sein.

      »Mart … a … baaa«, nuschelt Marlies, die Melkerin bei Hermann Mahlberg, dem reichsten Bauern im Dorf. Er fehlt an diesem Abend. Marlies kommt nicht aus der Eifel. Sie spricht nie über ihre Vergangenheit, aber ihr bayerischer Akzent verrät ihre Herkunft. Im Dorf erzählen sie sich, dass sie in einem Heim aufgewachsen sei. Irgendwann hat sie auf Mahlbergs Hof gestanden und gefragt, ob es Arbeit für sie gebe. Ein kräftiges Weibsbild könne er immer gebrauchen, hat Hermann geantwortet und sie auf der Stelle eingestellt. Es heißt, die beiden hätten einen Klüngel.

      »Noch ‘nen Schnaps! Her damit!«, fordert die burschikose Marlies. Sie schiebt ihren leeren Becher über die Tischplatte. Darunter knetet Gross ihre dicken Schenkel. Ihre Bluse ist halb aufgeknöpft und gibt einen tiefen Einblick auf ihren prallen Busen.

      »Niemand darf es wagen, die Hand gegen einen Deutschen zu erheben«, sagt Johann über den Tisch.

      »Genau, und deshalb lass deine dreckigen Pfoten von mir!«, brummt Marlies mit rostiger Stimme. Hurenböcke seien die Nazis! »Alles Hu … huuuren …! Lass dassss! Scher dich weg! Geh deine Hüüühner ffficken!«

       Die Nazis hätten doch alle zwei Familien.

       Die Küchendielen knarren, die Bauern tanzen, und die Töne aus Michels Akkordeon überschlagen sich fast: deutsche Gretel, deutscher Hans gehn des Sonntags gern zum Tanz!

      »Versteck dich!«, haucht Jockem Niklas ins Ohr. Er hat sich neben ihn auf die Bank gesetzt.

      »Geh auf keinen Fall zurück an die Ostfront. Versteck dich hier in den Wäldern! Die Russen mähen alles nieder. Sie marschieren auf Berlin.«

      »Und das ist schließlich immer noch unsere Reichshauptstadt«, lallt Küsters Jupp.

       Er ist einer von Johanns strammen braungefärbten Parteigängern, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Aber Jockem nimmt kein Blatt mehr vor den Mund.

      »Scheiß auf die Hauptstadt und das Reich«, murmelt er.

      »Schluss jetzt! So zu reden, ist keinem Deutschen erlaubt!« Johann beugt sich mit hochrotem Kopf vor. Er springt auf und streckt seine Hand aus zum tausendjährigen Gruß: »Heil Hitler!«

      »Ja, ja, ja, ein Volk, ein Führer. Nicht mal warme Kleider haben unsere Männer an der Front. Soll Niklas barfuß gegen die russischen Panzer kämpfen?«, fragt Jockem ruhig und schüttelt mit dem Kopf.

      »Jetzt reicht’s aber wirklich!« Niklas schlägt mit der Faust auf den Tisch. »Hört auf, euch zu streiten!«

      »Jawohl!«, sagt Johann und haut das leere Schnapsglas auf den Tisch. »Jawohl, Niklas! »Seht ihn an, unseren Soldaten! Wie gut sie ihm steht, diese deutsche Uniform!«

       Margarete nickt betrunken mit dem Kopf. Er ist wirklich ein fesches Mannesbild, ihr Niklas.

      »Eine Unifo-o-o-o-rm steht nicht jedem«, lispelt sie.

      »Der Krieg ist trotzdem verloren!« Jockem gibt nicht klein bei.

      »Sieg Heil! Wir werden den Endsieg mit einem großen Dorffest feiern«, ruft Johann laut in den Raum.

       Er werde den Führer persönlich einladen. Persönlich! Ob sie vergessen hätten, wer den Nürburgring und die Hunsrückhöhenstraße gebaut und ihrer armen Gegend Arbeit gebracht habe?

      »Sieg Heil! Auf den Führer!«, grölt er durch die Küche und prostet dem Hitlerbild zu, das schräg an der Wand hängt.

      »Dem wird‘s da über dem Ofen jedenfalls nicht kalt«, sagt Jupp. Sein Sohn ist vor drei Wochen gefallen.

      »Jockem hat recht«, flüstert die rothaarige Monika Niklas zu. »Versteck dich! Bleib hier!«

       Er schüttelt den Kopf.

      »Wir haben Befehl, bis zum Schluss Widerstand zu leisten. Kapitulation kommt nicht infrage. Für niemanden! Sieg oder Untergang! Das ist eine Frage der Ehre.«

      »Ehre? Ehre, wem Ehre gebührt! Was faselst du jetzt noch von Ehre?«, fährt Monika ihn an.

       Niklas solle klug sein und dableiben im Dorf. An die Mutter solle er denken, nicht an Ehre und nicht an den Führer.

      »Was, wenn sie auch dich verliert?«, fragt Monika. Ihre Augen blitzen zornig. »Das bricht ihr das Herz! Dann hat sie niemanden mehr! Bleib hier! Dieser Krieg kennt keine Ehre!«

       Niklas hat genug.

      »Es ist schon spät. Geht nach Hause!«, ruft er in die Runde und Margarete nickt.

       Sie greift unter dem Tisch nach seiner Hand. Der alte Jockem steht auf, streichelt nachdenklich seinen grauen Bart, der sein Gesicht fast vollständig verdeckt. Er zieht den Filzhut tiefer ins Gesicht. Er schlurft zur Tür und dreht sich noch einmal um.

      »Überleg’s dir gut, mein Junge. Überleg’s dir gut!