Karl Blaser

Die Stille im Dorf


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und deshalb nicht im BDM aufgenommen worden war. Sie besäßen einen Krämerladen, der liege mitten in der Stadt. Sogar Senatoren zählten zu ihren Kunden, die halbe Bürgerschaft kaufe bei ihnen ein. Es gebe nichts, das nicht aufzutreiben sei. Paul behauptete, er könne alles besorgen.

      »Haben wir nicht, gibt’s nicht«, sagte er. »Sobald meine Schwester verheiratet ist, werde ich das Geschäft übernehmen.«

       Selbst hier, in der russischen Hölle, schmiedete Paul noch Pläne. Niklas hörte ihm andächtig zu.

       Auch der Krieg war für Paul eine Art Handel, er stellte ihn nicht infrage.

      »Was man nicht ändern kann, muss man ertragen«, sagte er, als sei es ausgemacht, dass er seine Heimatstadt, die Alster, seine Eltern und seine Schwester wiedersehen und den elterlichen Laden übernehmen werde.

       Paul dachte nicht an die Hölle, nicht an den Tod. Vor ihm lagen Hamburg, der Hafen, das weite Meer. Er konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass man auch an Land, in Schlamm und Schnee, absaufen kann wie auf einem Schiff. Warum er bei der Infanterie und nicht bei der Marine gelandet war, wusste er selbst nicht. Anders als der lange Niklas war er ja klein und hätte locker in ein U-Boot gepasst. Hier hockten sie: der Junge aus der Stadt und der Junge vom Land, so verschieden. Zwei deutsche Welten, die sich in Russland begegnet waren, saßen nebeneinander im Schützengraben und zogen an Niklas‘ Zigarettenstummel, der ihren Hunger unterdrückte.

      »Die Einschläge kommen näher«, sagte Paul. »Bald geht’s wieder los.«

      *

      Niklas schaut aus dem Fenster. Er weiß, dass Paul nicht kommen wird. Am Tisch geht es inzwischen drunter und drüber. Margarete ist näher an ihren Verlobten herangerückt. Sie prostet ihm zu. Die Gesichter der Bauern sind blau und rot angelaufen, schweißglänzend, zerfurcht. Sie sind wie aus Baumwurzeln geschnitzt. Die Dörfler kippen sich den Schnaps in ihre rohen Kehlen, einen nach dem anderen, immer hinein damit. Michel spielt auf der Ziehharmonika. Er gehört zu den armen Bauern im Dorf, sein Feld liegt an einem abseits gelegenen Nordhang, wo keine Sonne hin scheint und die Disteln höher wachsen als der Hafer, der dem kleinen Mann gerade mal bis an die Waden reicht. Im Stall stehen eine magere Kuh und eine Ziege, die weniger meckert als Ilse, seine Frau. Sie schämt sich, wenn Michel nach dem Spiel seinen verschwitzten Hut rundgehen lässt und um ein Almosen bittet.

      »Heil, Gross!«, ruft Michel. Er prostet Hitlers Ortsbauernführer zu.

      »Auf Niklas! Prost«, antwortet Johann. »Auf unsere jungen Helden! Heilige Flamme glühe und erlösche nie fürs Vaterland!«

       Anne-Kathrin steht am Ofen, füllt den süßen Holunderschnaps weiter in die Becher, stellt eine neue Flasche auf den Tisch und schaut argwöhnisch auf Margarete, die sich allzu eng an Niklas anschmiegt, was aber niemand außer ihr zu bemerken scheint. Nur die Mutter, mit ihrem siebten weiblichen Sinn, ahnt etwas. Anne-Kathrin und Anna sind Cousinen. Niklas und Margarete sind blutsverwandt. Solche Ehen zwischen Verwandten gelten als Schande. Aber die Liebe: eine Schande? Der Schnaps ist Margarete und Niklas inzwischen ziemlich in den Kopf gestiegen, sodass sie sich nicht mehr unter Kontrolle haben. Niklas hat unter dem Tisch die Hand auf Margaretes Oberschenkel gelegt, aber Anne-Kathrin, die Katze, die als einzige noch nüchtern ist, hat es bemerkt.

       Im Dorf halten sie zusammen, im Dorf ist niemand allein, im Dorf arbeiten die Männer auf dem Feld, die Frauen durchstreifen im Herbst alle zusammen den Wald: Müßiggang ist Teufelsgang, predigt der Pfarrer in der Kirch. Die Weiber sammeln also Holunderbeeren. Der Eifelwald ist im Herbst voll davon. Er leuchtet im faden Sonnenlicht dunkelrotblau. Zu Hause angekommen, leeren sie ihre Eimer und Weidenkörbe, und sie setzen ihren Schnaps für den Winter auf. Jedes Haus hat seinen Anteil an Flaschen, keine der Frauen geht leer aus, keine hat mehr oder weniger Pullen als die andere auf den Fensterbänken stehen.

       Niklas sitzt mit eingezogenen Schultern zwischen all den Bauern, Mägden und Tagelöhnern, dem Müller und seiner Frau, der unglücklichen Anna, die eines Tages, was ein großer Fehler war, ihren Mann Johann aus der Stadt mit hier aufs Dorf gebracht hatte, verliebt bis über beide Ohren in diesen Schurken. Johann ist als Erster in Hitlers Partei eingetreten. Er begrüßt die Kühe im Stall mit ‚Heil Hitler‘. Seine Wahrheit dröhnt aus dem neuen Volksempfänger ‚VE 301‘, den der Propagandaminister baugleich hat produzieren lassen; dessen Typenbezeichnung auf den dreißigsten Januar verweist, den Tag der Machtübernahme der braunen Heilsclique. Hinter Johanns Rücken nennen sie den klumpfüßigen Goebbels ‚et Jüppje‘ oder ‚Humpelstilzchen‘. Johann Gross ist die Stütze des Reichsnährstands im Dorf, seine Ehre ist unantastbar. Der Erbhofbauer ist so etwas wie Hitlers Vertreter, er geht mit Hakenkreuzbinde durch Dorf, Stall und Scheune, und er stolziert mit braunen Scheuklappen durch die Welt. Es werde nicht mehr lange dauern, dann würden die Deutschen das Protektorat über die Vereinigten Staaten von Nordamerika übernehmen, die Freiheitsstatue würde zum alten Eisen geworfen und Amerika in einen blühenden Garten verwandelt, posaunt er herum. Natürlich hat er eine gute deutsche Frau, Anna, die das dunkelblonde Haar nicht offen trägt wie ein Luder, natürlich ist er verheiratet mit Blut und Boden. Zucht und Lebensquell sind sein geistig‘ Brot, das tägliche Brot des neugeborenen deutschen Volks. Wenn Johann am Tisch sitzt, muss man aufpassen, was man sagt, zumindest so lange er nüchtern ist. Johann liebt die Frauen, und er liebt Hochprozentiges, von beiden kann er nicht genug kriegen.

       Wie Öl schmiert der dunkelrote Schnaps die heiseren Schlünde. Eine Flasche nach der anderen wird geköpft. Niklas schaut hinaus. Es hat geschneit. Durch das kleine Küchenfenster fällt Licht auf den Hof. Die Töne des Akkordeons wirbeln durch die Küche. Wenn sie doch nur abhauten!

      »Wisst ihr, wa-warum et Jüppje so eine gr-gr-große Klappe bekommen hat?«, fragt Edmund Pommerich über den Tisch.

       Edmund wohnt gleich gegenüber. Er ist schüchtern und stottert und zuckt.

      »Mit einem gro-o-oßen Schwanz hä-hä-hätte er nichts anfangen können«, beantwortet er die Frage selbst, mit dem linken Auge zwinkernd. Ein schmuddeliges Tuch verdeckt das rechte, das er bei einem Unfall auf dem Feld verloren hat, mit einem Hautfetzen ist es zugenäht worden. Ein Glasauge, so einen Luxus, kann sich hier niemand leisten. Sonntags trägt Edmund aber eine feine Augenklappe. Die Haare zerzaust, sieht er dann aus wie ein Pirat, der sich aufs Land verlaufen hat.

      »Das muss ich melden«, stammelt Gross.

      »Wisst ihr, wie wir in den Schützengräben singen?«, fragt Niklas in die Runde.

       Von Michel hat er das Akkordeonspielen gelernt. Er greift nach dem Quetschbeutel, schiebt sich die Riemen über die Schultern und setzt das Instrument auf seinen Schoß. Niklas beginnt zu spielen und singt:

       »Unter der Laterne, vor dem großen Haus,

       sitze ich am Abend und suche eine Laus:

       Die mich den ganzen Tag gequält

       und mir vom Russendreck erzählt.

       Und das ist nicht so schön,

       das glaubt Lili Marlön.

       Unter meinem Hemde, wohl auf des Bauches Rund,

       grabbeln Partisanen, und das ist nicht gesund.

       Und sollt ich solch ein Tierlein sehn,

       so wird ihm gleich ein Leid geschehn.

       Sein End’, das ist ein Knall,

       so geht’s den Läusen all.

       Und die Landser beten überall zugleich:

       Herr im Himmel droben, schick uns heim ins Reich!«

      »Bravo!«, ruft Margarete.

      Alle klatschen in die Hände.

      Niklas gibt Michel das Akkordeon zurück. Der Bauer spielt noch einmal das Lied vom schönen Westerwald, während der Frontsoldat seiner