Karl Blaser

Die Stille im Dorf


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heimträgt, dampfende Kartoffeln aus dem Kessel in einen Eimer schöpft, mit den Händen zerquetscht, die Schweine damit füttert. Und dann hatten sie seinen toten Körper nach Hause gebracht. Er hätte ihn noch vieles fragen wollen: wie man einen störrischen Ochsen vor den Pflug spannt, einen Zaun repariert, einen Baum pflanzt; wie man einer Frau sagt, dass man sie liebt.

       Als sie jung waren, konnte er mit seinem Freund Micha, mit Margarete und Maria Forellen fischen, sie über dem Lagerfeuer braten. Er konnte Margarete in den Arm nehmen. Aber er konnte ihr nicht sagen, dass er sie liebt. Er wusste nicht, wie ein Mann einer Frau seine Gefühle gesteht. Durch sie weiß er jetzt, wie es sich anfühlt, wenn man eine Frau begehrt; seit ihrem Kuss spürt er das Kribbeln in seinem Bauch. Wenn der Krieg vorbei ist, so denkt er, werde ich Margaretes Versprechen erneuern! Ich werde mich zu ihr bekennen, egal, was die Leute reden! Egal, ob wir miteinander verwandt sind!

       Alles hat seine Zeit: der Krieg, die Liebe.

      *

      Anne-Kathrin kommt am Morgen in die Küche. Auf dem Tisch liegt ein Brief. Sie hat gehofft, dass Jockem Niklas überredet hat, sich in den Wäldern zu verstecken, bis der Krieg vorbei ist. Sie nimmt das Papier, stolpert die Treppe hinauf, reißt die Tür zu seiner Schlafkammer auf, starrt auf das leere Bett. Sie läuft hinaus in den Stall, Penelope springt ihr entgegen.

      »Niklas ist fort«, sagt Anne-Kathrin enttäuscht. »Er ist fort! Hat sich nicht von uns beiden alten Damen verabschiedet.«

       Zurück in der Kammer sinkt sie auf den Stuhl neben dem Ofen, öffnet den Umschlag und liest den Brief. Er beginnt mit Pauls Gebet:

       »Noch schwebe ich hoch in den Lüften.

       Schwer zieht die Erde an meinem Seil.

       Herr, wenn meine Flügel lahmen:

       Wirf deinen Blick

       hinab in mein Tal.

       Bleib bei mir! Rette mich!«

      Anne-Kathrin liest und liest, bis die Buchstaben vor ihren Augen verschwimmen. Sie streichelt Pauls Gedicht, streichelt den Brief, schiebt beide Blätter zurück in den Umschlag und legt ihn in die alte Eichenkommode zu ihrer Wäsche, die nach getrockneten Sommerwiesenblüten duftet. Erst jetzt versteht sie, wie verzweifelt ihr Junge gewesen sein muss. Sie hätte ihrem Sohn noch so viel sagen wollen, so viel sagen müssen. Aber sie hat in diesen wenigen Tagen nie den Mut, nie den richtigen Augenblick, nie die richtigen Worte gefunden. Vielleicht ist es jetzt zu spät. Wie grausam der Krieg doch ist und wie ungerecht!

       Sie schaut aus dem Fenster hinab auf die Straße. Nachbarskinder rennen über das Pflaster. Sie spielen im frischen Schnee. Der Morgen ist weiß. Er ist unschuldig. Ein paar Spatzen lassen sich auf dem Gartenzaun nieder und fliegen wieder davon. Mit ihren Füßchen haben sie eine feine Spur in den Schnee gestanzt, es sieht aus wie ein kleines Kunstwerk. Die Kirchturmuhr schlägt, Anne-Kathrin zählt nicht, wie oft. Von ihrem Dachfenster aus kann sie den Turm sehen. Wo ist die Eule, denkt sie. Warum müssen Frauen immer alles allein durchstehen? Sie geht die steilen Stiegen der Holztreppe hinunter, huscht durch den dunklen, kalten Flur in die Küche. Sie wandert hin und her wie eine Gefangene in ihrer Zelle. Sie legt dünne Holzscheite auf die abgebrannte Glut, die gleich zu lodern beginnt. Die dürren Knüppel brennen wie Zunder. Feiner Rauch weicht durch die Ritzen der Ofenplatte in den Raum, Anne-Kathrin schlägt die Herdklappe zu. Sie setzt sich an den Tisch: Das monotone Ticktack, Ticktack der Uhr an der Wand, daneben das verrutschte Bild des Führers, das Knistern des Feuers.

       Anne-Kathrin kennt sich aus mit dem Feuer, den ganzen Winter über geht es nicht aus. Abends wickelt sie einen dicken Eichenklotz in nasses Papier und legt ihn auf die zischende Glut. Das hat ihr die Mutter gezeigt. Am Morgen legt sie dünne Scheite auf den glühenden Klotz, und sogleich flackert die Flamme. Das Geäst, das sich in ihrem Schuppen stapelt, ist trocken und liegt dort schon seit Jahren. Die Buchenscheite müssen lange lagern, mindestens ein Jahr. Ihr Mann hat sie noch geschlagen, er hat immer für genug Gehölz gesorgt.

       Anne-Kathrin schließt die Augen. Irgendwo da draußen durch die Kälte irrt ihr Sohn.

      »Lieber Gott, lass Niklas gesund wiederkommen! Nimm mir nicht auch noch das einzige Kind«, betet sie leise vor sich hin. »Bald ist Weihnachten. Gott, dein eignes Fleisch und Blut wird geboren. Nimm mir meins nicht weg!«

       Sie schämt sich, mit dem Allmächtigen zu handeln, wie sie mit einem Juden im Stall um ein Stück Vieh gefeilscht hat. Sie weiß nicht mehr, was sie von diesem Heiland halten soll. Gibt es ihn überhaupt?

       Neben dem Ofen ist Penelope eingeschlafen.

      4

       Dezember 1944/Januar 1945

      Während am Heiligen Abend im Ruhrgebiet Bomben fallen, im Osten die Flucht weiter geht, die Lagerwachen »Oh du fröhliche« singen, in Budapest die Pfeilkreuzler alle noch lebenden Juden ans Ufer der Donau treiben und kaltblütig erschießen, während Pius XII. in Rom das Weihnachtsfest erstmals im Freien stattfinden lässt und eine Ansprache hält, die Menschen in Paris wieder Freiheit atmen und auf die Musik des amerikanischen Majors Glenn Miller warten, der in dieser Nacht bei schlechtem Wetter auf dem Flug von England in den Ärmelkanal abstürzen wird, während das Heilige Fest in Moskau wegen des orthodoxen eigenen Kalenders noch bevorsteht, holt Anne-Kathrin das beste Kleid aus ihrem Schrank hervor, wirft sich den dicken Mantel über und stapft hinaus in die kalte Nacht. Sie ist bei Johann und ihrer Cousine Anna eingeladen. Im Wohnzimmer des Ortsbauernführers haben sich dessen Schwester Mathilde mit ihrem Mann Will Bommersbach und ihrer Tochter Lissy einquartiert – im November haben die Bomben sie obdachlos gemacht und aus dem Eifelstädtchen Mayen vertrieben.

       Anna hat den Tisch mit grünen Zweigen geschmückt. Hier sitzen sie beisammen hinter abgedunkelten Fenstern vor dem Weihnachtsbaum, der in diesem Jahr keine Kerzen trägt, weil es der Ortsbauernführer verboten hat. Unter dem Baum steht die Krippe mit Maria und Josef und dem Jesulein in Bethlehems Stall, darüber der Stern, von dem es heißt, dass er den Hirten auf dem Feld den Weg zum Kuhstall gewiesen haben soll.

      In Johanns warmer Stube duftet es nach Lebkuchen.

      »Habt ihr die Plätzchen selbst gebacken?«, fragt Anne-Kathrin.

      »Ja«, antwortet Anna, »für Marek und Marsena, unsere Polen, hat Weihnachten übrigens schon im November begonnen«, erzählt sie. »Ich habe Marsena über die Schulter geschaut, als sie Rote-Beete-Knollen angesetzt und behauptet hat, daraus würde eine Suppe entstehen. Borschtsch, oder so ähnlich, hat sie die Brühe genannt. Igittigitt, habe ich gesagt, und das soll schmecken?«

       Die Polen seien ein seltsames Volk. Sie schüttelt sich und lacht.

      »Ja, hat er gesagt: Polnisch Suppe aus viele ‚Burakow‘. Gott vergib uns, habe ich im Stillen gefleht. Das kann ja nichts werden: Suppe aus roten Rüben!«

      »Wenn’s nicht schmeckt, bekommt ihr drei Wochen Schweinearrest, drohte ich ihm an«, mischt sich Johann ein.

      »Und dann haben wir zugeschaut, wie sie kleine Teigtaschen geformt und mit Steinpilzen gefüllt hat. Die sehen schon besser aus, dachte ich, richtige kleine Kunstwerke aus Teig, gefüllt mit Steinpilzen. Marek und seine Tochter Hanka haben sie im Sommer auf den Wiesen gesammelt, dann getrocknet und wieder aufgeweicht. Ich habe versucht, nachzusprechen, wie er sie genannt hat: Uszchhkschhha ..

      »Lass es«, unterbricht Johann sie. »Ich hab’s dir doch schon mal gesagt: Versuch es besser mal mit richtigem Deutsch.«

       Er lacht, sieht Beifall heischend in die Runde. Aber niemand reagiert.

       Am Vierundzwanzigsten kommt also Borschtsch auf den Tisch. Anne-Kathrin sieht mit großen Augen zu, wie Anna vorsichtig die Suppe serviert, die sie nur noch erhitzt hat.

      »Wo sind die Polen? Wo stecken Marek und seine Familie?«, will Anne-Kathrin wissen. »Sie sind so fleißig.«

      »Die