Karl Blaser

Die Stille im Dorf


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das passiert?«

       Anna schüttelt nur unwissend mit dem Kopf. Es habe einen Knall und einen Schrei gegeben. Erst ein Knall, dann der Schrei. Man sei nach hinten gelaufen, habe die Tochter, am Boden liegend, sich krümmend vor Schmerzen, auf der Streuobstwiese unter dem Apfelbaum vorgefunden.

      »Ruhe, Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe«, verordnet der Arzt. »Eigentlich müsste sie ins Krankenhaus zur Beobachtung, aber das ist zwecklos. Der Transport schadet ihr mehr, als dass er nützt. Sie muss viel trinken!«

      »Ja«, antwortet Anna. »Ich achte darauf.«

      Der Arzt klappt seinen Koffer zu. Er fühlt noch einmal Margaretes Puls.

      »Schimpfen Sie nicht mit ihr, wenn sie wieder zu sich kommt. Aufregung ist Gift. Sie behält sonst ihr Leben lang Kopfschmerzen.«

      »Das fehlte noch. Das kann hier keiner gebrauchen.«

       Anna hat ihm ein Paket mit Lebensmitteln zurechtgelegt, das sie ihm in die Hand drückt: selbstgemachte Butter, ein Brot, Kartoffeln, rote Beete, ein Stück Schinken.

      »Sie könnten mir einen Gefallen tun«, sagt der Arzt. »Haben Sie ein rohes Ei für mich?«

      »Aber sicher! Gerne!«

       Anna eilt in die Vorratskammer. Sie kommt mit einem braunen, rohen Ei zurück.

      »Es ist frisch von heute.«

       Sie hält ihm das Hühnerei vor die Nase.

      »Eine dünne Stopfnadel, bitte!«

       Anna wühlt in der Schublade. Sie reicht ihm eine Nadel. Der Arzt pikst die Ober- und die Unterseite des Eis mit einer Nadel durch, dann setzt er es auf den Mund und saugt es vor Annas staunenden Augen leer.

      »Köstlich«, sagt er und seufzt. »Ich habe schon nachts von rohen Eiern geträumt. »Einfach köstlich!«

       Anna hat dem Arzt zugeschaut, wie er genüsslich das Ei ausgeschlürft hat. Sie schüttelt den Kopf. Wie kann einer nur von einem rohen Ei schwärmen? Niemand hier in den Weiten der Eifel käme auf so eine Idee.

      »Wie gesagt: Viel Ruhe, keine Aufregung und deshalb keine Schuldzuweisungen an ihre Tochter. Das würde sie nur aufregen.«

      »Viel Glück für Ihre Frau Mutter«, ruft Anna ihm zu, als er sich mit dem prallgefüllten Proviantbeutel im Hof auf sein klappriges Fahrrad schwingt und davonradelt.

       Der Tag ist trübe. An der Hohen Acht hat es in der Nacht sogar Frost gegeben. Die Wiesen sind mit weißem Raureif überzogen, wie eine Zuckerglasur. Anna schließt die Fensterläden, befeuert die Öfen. Sie muss an Doktor Prinz denken und setzt sich wieder neben die Tochter ans Bett. Margarete atmet ruhig. Sie schläft. Draußen ist es wieder kälter geworden. Der Winter will in diesem Jahr einfach nicht weichen.

       Der Krieg schon eher.

      Aber noch sind längst nicht alle Toten gezählt.

      2

       November 1944

      An einem trüben Novembermorgen 1944 erreicht Niklas endlich den Steinbüchel. Von dem kleinen, mit Ginster und kargen Fichtenbäumen bestandenen Hügel schaut er hinab auf das schlafende Dorf. Es ist kalt. Niklas wirft den schweren Tornister ab und rammt ihn in die Erde. Dann setzt er sich darauf, zieht einen sorgfältig in Silberpapier verpackten Zigarettenstummel aus der Tasche der durchnässten Uniform, zündet ihn an. Hier sitzt er und raucht und schaut auf die Häuser wie auf ein Gemälde, das in einem Pariser Museum hängt. Tagelang hat er schweigend, dicht an dicht mit seinen verletzten Kameraden, in einem verlausten Waggon gehockt. Weg, nur weg von der Ostfront, wo sich eine Tragödie abspielt und die Russen unaufhaltsam nach Westen vorrücken.

       In Koblenz, von wo aus der Zug rheinabwärts Richtung Bonn weiterfuhr, ist Niklas aus dem Abteil gesprungen, mit seinem schweren Gepäck ist er die Moselweinberge hinaufgeklettert und landeinwärts über die Hügel geflohen. Eine Woche ist es her, dass der Hauptmann ihn zu sich in den Unterstand rufen ließ.

      »Heimaturlaub, Soldat!«

       Niklas hatte ihn ungläubig angestarrt.

       Ob er verstanden habe, brüllte der Vorgesetzte. Mit seinem sächsischen Akzent klang es nicht einmal bedrohlich. Aber Niklas kapierte noch immer nicht.

      »Hast du taube Ohren, Soldat?«

      »Jawohl! ... Nein!«, stotterte Niklas.

      »Ja, was denn nun?«

      »Jawohl, Herr Hauptmann!«

      »Ach, wegtreten! Sonst überlege ich mir’s noch anders«, kläffte es aus dem spitzen Mund.

       Heimaturlaub. Der Krieg schickte ihn eine Zeit lang nach Hause.

       Hier sitzt Niklas auf seinem Tornister: unten das Dorf, darüber der runde Mond. Er hat kein Gesicht und klebt wie eine blassgelbe Scheibe schräg über den Häusern, als wolle er jeden Augenblick herunterfallen. Von weitem sieht das Dorf im Mondschein aus wie ein kleiner grauer Klecks. Im Gestrüpp, zwischen Ginster und Wacholderhecken, wo sie als Kinder Verstecken gespielt hatten, paaren sich Katzen, krächzend, wimmernd, lustvoll und laut stoßen sie ihre Liebesschreie in die Stille hinein. Wenn sich Katzen bei Vollmond laut vereinen, so sagt man hier, werden in einem Haus Zwillinge geboren.

       Niklas rafft sich auf und geht hinunter ins Dorf, an der Kirche vorbei, bis ans Ende der Straße, wo das Haus steht, in dem er wohnt. Penelope, die Schäferhündin, fast blind, niemand weiß, wie alt sie ist, hat ihn schon längst kommen hören. Sie hat ihn am Schritt erkannt. Ihren Namen verdankt das Tier dem kahlköpfigen Dorflehrer, der den Schulkindern einmal die Geschichte der treuen Prinzessin Penelope aus Sparta erzählt hatte, die zwanzig Jahre lang auf die Heimkehr ihres Ehemannes Odysseus hatte warten müssen. Winselnd kratzt das Tier mit den Pfoten von innen an der Eingangstür. Der Schlüssel liegt immer noch versteckt hinter dem hohlen Bruchstein in der Hauswand. Als er die Tür öffnet, springt die Hündin ihn an, außer sich vor Freude tänzelt sie um seine Beine. Er bückt sich zu ihr hinunter, und Penelope leckt mit ihrer warmen Zunge durch sein Gesicht, dreht sich im Kreis, pinkelt auf seine Schuhe, springt ihn an, als wolle sie sich entschuldigen, dass sie kurz eingenickt war, während er weg war. Niklas rennt die Treppenstufen hoch, Penelope ihm hinterher, in dem kleinen Zimmer unter dem Dach schläft die Mutter. Von dem Gepolter ist sie wach geworden. Anne-Kathrin richtet sich im Bett auf.

      »Niklas?«

      »Ja, Mutter.«

      »Mein Junge, mein guter Junge! Ich hatte Angst, du kommst nicht mehr wieder.«

      »Natürlich komme ich. Aber Russland liegt ja nicht gerade vor der Haustür. «

      »Mein Gott, Russland! Du bist da! Mein Junge!«

      »Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«

      »Doch, Johann hat sie persönlich vorbeigebracht. Und den ganzen Nachmittag hockte er in der Küche. Als ich gesagt hab, ich würde einen Apfelstreusel backen, ist er nicht gegangen, bis der Kuchen aus dem Ofen war und hat sich gleich zwei große Stücke servieren lassen. Ach, Niklas, ich habe den ganzen Abend auf dich gewartet, aber dann bin ich wohl eingeschlafen. Wie spät ist es?«

      »Es wird bald hell«, sagt er.

      »Du musst sehr müde sein. Ich hab deine Schlafkammer hergerichtet und den Ofen angemacht.«

      »Ein warmes Bett?«

      »Sie sagen, dass der Krieg bald zu Ende ist. Stimmt das? Ich lass dich nicht mehr gehen! Ich hab geträumt, es wäre Frühling, und wir würden mit dem Ochsen aufs Feld im Krähwinkel fahren.«

      »Der Krieg dauert bestimmt nicht mehr lang. Der Spuk ist sicher bald vorüber.«

      »So viele junge Männer in deinem Alter aus dem Dorf werden vermisst. Mein Gott, Niklas, ich hatte solche Angst um dich!«

       Niklas setzt sich auf die Bettkante und nimmt die Mutter in den