Hannes Kratzer

Psychologie für Sportschützen


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ohne Theorie ist blind, Theorie ohne Praxis unfruchtbar“

      John Desmond Bernal

      2.1. Einige, nicht ganz so theoretische Vorbemerkungen

      Spitzenschützen zeichnen sich durch eine besondere geistige Leistungsfähigkeit aus. Diese Aussage lässt sich anhand von Beurteilungen erfahrener Praktiker sowie vieler sportpsychologischer Untersuchungsergebnisse belegen. Zwischen leistungsstarken und weniger leistungsstarken Schützen existieren im körperlichen Bereich (zum Beispiel körperbauliche Merkmale, Kraft) keine oder nur geringfügige Unterschiede, dafür aber bei bestimmten psychischen Leistungsvoraussetzungen deutliche. Es steht außer Zweifel, dass die geistige Leistungsfähigkeit letztlich den Erfolg eines Schützen bestimmt.

      Wenn das so ist, kommt es darauf an, im sportlichen Training sowohl die notwendigen körperlichen als auch die geistigen (psychischen) Leistungsvoraussetzungen zu entwickeln. Das kann ein Trainer oder Sportler aber nur, wenn er genau weiß, was eigentlich ausgebildet werden soll. Im sporttechnischen oder athletischen Bereich gibt es da kaum Probleme. Jeder Schütze könnte sofort Eigenschaften (z.B. Kraft, Kondition, sporttechnische Fertigkeiten) und dazugehörige Trainingsmittel aufführen, die zur Ausbildung konkreter sporttechnischer Fertigkeiten oder athletischer Voraussetzungen geeignet sind.

      Aber welche psychischen Leistungsvoraussetzungen sollen entwickelt werden? Gibt es dafür bereits bewährte Methoden? In der Fachliteratur finden wir eine verwirrende Vielfalt der Beschreibung verschiedenster psychischer Eigenschaften, deren Bedeutung für das Sportschießen jedoch oftmals nicht ausreichend begründet wird. Einige Beispiele: Mobilisationsfähigkeit, Steigerungsfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit, Wahrnehmungstempo, Mut, psychische Stabilität. Diese Reihe ließe sich ohne Schwierigkeiten fortsetzen.

      Es existieren Eigenschaftslisten für das Sportschießen mit mehr als 50 sogenannten leistungsbestimmenden oder -beeinflussenden Eigenschaften. Aber wer weiß schon, was sich hinter den Begriffen verbirgt, welche Unterschiede zwischen einzelnen Eigenschaften bestehen und welche schließlich wirklich die wesentlichsten sind. Diese eher vorwissenschaftlichen Eigenschaftszusammenstellungen (oft auch Anforderungsprofile genannt) liefern kaum Informationen. Im Gegenteil, sie tragen zur allgemeinen Verwirrung bei.

      Voraussetzung für die Ermittlung der leistungsbestimmenden Eigenschaften ist eine gründliche Analyse der sportlichen Tätigkeit, in unserem Falle der schießsportlichen Disziplinen:

      ❶ Es steht zunächst die Frage, welche Anforderungen stellt die jeweilige Disziplin an den Schützen? Das werden im Gewehrschießen sicher andere sein als in den Wurfscheiben-Disziplinen. Diese objektiven Leistungsvoraussetzungen existieren unabhängig vom Schützen.

      ❷ Die zweite Frage ist die nach den subjektiven Leistungsvoraussetzungen. Diese entscheiden letztlich darüber, ob und in welcher Qualität die geforderte sportliche Leistung erbracht werden kann. Verfügt der Schütze zum Beispiel über die notwendige Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit?

      ❸ Die sportliche Leistung ist immer unter bestimmten Bedingungen zu erbringen. Dabei unterscheiden wir unveränderliche Bedingungen (Regeln/Vorschriften) und veränderliche (Umweltbedingungen: Temperatur, Wind, Lichtverhältnisse). Insbesondere letztere sind bei der Ableitung wichtiger Eigenschaften zu beachten, da diese die Anforderungen entscheidend erhöhen können: Wechselnder Wind stellt höhere Anforderungen an die Konzentration (Gewehr) oder Reaktion (Wurfscheibe).

      Die Abbildung 1 verdeutlicht die dreifache Abhängigkeit der sportlichen Leistung, die bei einer umfassenden Tätigkeitsanalyse beachtet werden muss. Es genügt also nicht, am Schreibtisch die logische Ableitung eventuell wichtiger Eigenschaften vorzunehmen, vielmehr ist der Beleg zu erbringen, dass zwischen dem Ausprägungsgrad einer Eigenschaft (ungenügende oder sehr gute Reaktionsfähigkeit) und der sportlichen Leistung ein Zusammenhang besteht.

      Langjährige Untersuchungen im Sportschießen haben zur Ermittlung einiger wesentlicher Eigenschaften geführt, auf die wir im Folgenden noch näher eingehen werden.

      Jede einzelne Handlung des Sportschützen wird psychisch reguliert, sei es das Einnehmen des Anschlages, das Erfassen des Zielbildes oder die Betätigung des Abzuges. Nicht alles ist gleichermaßen bewusst, viele Bewegungen laufen auch nahezu „automatisch“ ab, insbesondere bei erfahrenen Schützen. So kommt zum Beispiel der Finger von selbst, wenn das Zielbild stimmt, ohne dass es eines besonderen Befehls bedarf.

      Ein System, das die ablaufenden Regulationsprozesse beschreibt und erklärt, ist die Theorie der Handlungsregulation (Hacker 2005), die auch die Basis unserer Betrachtungen ist. Wir unterscheiden dabei drei Teilsysteme (siehe Abb. 2), die nur in ihrer Einheit regulativ wirksam sind.

       ❶ Orientierung/Realisierung

      Dieses Teilsystem umfasst jene psychischen und motorischen Komponenten, die die eigentliche Durchführung und Kontrolle der Handlung gewährleisten. Dazu zählen die Prozesse der Informationsaufnahme (zum Beispiel Wahrnehmen), der Informationsverarbeitung (Denkoperationen) und die motorische Antwortreaktion (zum Beispiel Betätigen des Abzuges, Führen der Waffe). Leitkriterien dieses Teilsystems sind demzufolge die Kognitionen (Erkenntnisprozesse) und die Sensomotorik.

       ❷ Antrieb

      Im Rahmen des Teilsystems wird das Tun veranlasst und auf ein Ziel hin fixiert. Es geht dabei also in erster Linie um Fragen der Motivation, um Interessen, Einstellungen, Wünsche, Vorsätze usw.

       ❸ Zustand

      Ein optimaler aktuell-psychischer Zustand ist Voraussetzung für eine individuelle Spitzenleistung. Das wichtigste Kriterium für die Einschätzung des psychischen Zustandes ist der Grad der Erregung (auch Aktivierungsgrad genannt). Jeder weiß, dass weder Trägheit noch Übererregung zu Spitzenleistungen führen.

      Diese drei Teilsysteme wirken bei der Regulation der sportlichen Handlung gleichzeitig und sind wechselseitig voneinander abhängig. Eine zu hohe Erregung kann zum Beispiel zu hektischen Bewegungen und somit zu Fehlhandlungen führen, diese wiederum verunsichern den Sportler, seine Motivation verändert sich usw.

      Der Ausbildungsprozess muss sich also gleichermaßen auf alle drei Teilsysteme in ihrer Einheit beziehen. Der Trainer ist nicht nur Vermittler der sportlichen Technik, er sollte gleichzeitig die Entwicklung einer leistungsfördernden Motivation und die Ausprägung eines optimalen psychischen Zustandes als Schwerpunkt seiner Arbeit betrachten. Dafür benötigt er vielfältige psychologische Kenntnisse. Er weiß, welche Leistungsvoraussetzungen vorrangig und mit welchen Mitteln ausgebildet werden können, anhand welcher Merkmale er leistungsbestimmende Eigenschaften beurteilen kann, wie individuelle Besonderheiten im Training zu beachten sind, welche Möglichkeiten der Selbststeuerung er dem Schützen vermitteln sollte und was bei der Belastungsgestaltung oder auch der Talentsuche zu beachten ist. Auf einige dieser Fragen werden wir versuchen, Antwort zu geben.

      Anhand umfangreicher Analysen in der Schießsportpraxis, in die während eines Jahrzehnts über fünfhundert Schützen vom Anfänger bis zum Olympiasieger einbezogen wurden, konnte der leistungsbestimmende Charakter einiger psychischer und sensomotorischer Leistungsvoraussetzungen belegt werden. Auf die wohl wesentlichsten soll im Folgenden eingegangen werden. Die Erläuterung der ausgewählten Eigenschaften soll dazu beitragen, diese im Trainings- und Wettkampfprozess differenzierter zu erfassen.

      Qualität und Geschwindigkeit der Wahrnehmungsprozesse bestimmen entscheidend die Leistung im Sportschießen. Die Abgabe eines guten Schusses