Helmut Lauschke

Zwischen Anfang und Ende


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die vor ein paar Tagen Junge bekommen hat, deren Nest in der Scheune ist“, erklärte Marga Dorfbrunner. Eckhard Hieronymus setzte dem hinzu, dass er etwas gehört hatte, es aber im Schlaf nicht einzuordnen wusste. „War etwas?“ Das hast du gesagt und dich zu Mama rumgedreht“, vervollständigte Anna Friederike die Geschichte vom Katzensprung. Sie gab zu, dass sie sich erschrocken hatte. Alle lachten über diesen Teil des mitternächtlichen Scheunenerlebnisses. Eckhard Hieronymus schloss den zweiten Teil an, der nicht mehr zum Lachen war, als nämlich Heinz die Folterszene träumte und aufschrie: „Hört endlich mit der Prügel auf! Ihr schlagt mich noch tot.“ „Der arme Junge“, sagte Marga Dorfbrunner. „Das habe ich auch nicht gehört“, sagte Luise Agnes und machte ein betroffenes Gesicht. Eckart kam von seiner Hofarbeit zurück, hatte sich die Pantoffeln angezogen und setzte sich mit an den Tisch. Die Mutter briet zwei Spiegeleier und tat sie ihm auf den Teller. Er berichtete, dass Heinz noch schlief und Klaus dabei sei, sich anzuziehen. „Haben wir noch Decken?“, fragte er die Mutter. „Nein“, sagte sie, „wir haben alle Decken verteilt. Frag mal den Gutsherrn, ob er uns mit Decken aushelfen kann.“ „Ja, den werde ich fragen“, sagte Eckart. „Will jemand von euch mitkommen?“, fragte er die Breslauer. Eckhard Hieronymus erinnerte sich, dass sein Großvater ihm von einem Gut in Pommritz erzählte, auf dem die ersten Dorfbrunners gearbeitet hätten, bis sie durch Fleiß und Sparsamkeit den eigenen Hof erwarben. Das erzählte er bei Tisch, konnte sich allerdings nicht mehr an den Namen des Gutsherrn erinnern, den sein Großvater genannt hatte.

      „Von Wittkopf“, sagte Bäuerin Dorfbrunner. „Seit urdenklichen Zeiten ist das Gut im Familienbesitz der Wittkopfs.“ Eckhard Hieronymus sprach sein Interesse aus, mit Eckart zum Gut zu fahren, um zu sehen, wo seine Vorfahren einst gearbeitet hätten. Nun kamen auch Klaus und Heinz. Sie entschuldigten sich für das Zuspätkommen. „Das macht nichts; ihr habt viel Schlaf nachzuholen“, sagte die Bäuerin mit mütterlichem Verständnis. „Setzt euch, ich mache euch das Frühstück.“ Wieder schlug sie Eier in die Pfanne, stellte zwei Tassen auf den Tisch und goss den Kaffee ein. Während sie die Spiegeleier briet, fragte sie, wie sie denn geschlafen hätten. „Wie tot haben wir geschlafen, ich jedenfalls“, sagte Klaus, „und ich auch“, sagte Heinz, der hinzufügte, dass er seit mehr als einer Woche das erste Mal richtig geschlafen hätte. Seinen erschütternden Foltertraum erwähnte er nicht. Das nahmen die Dorfbrunners mit Erstaunen zur Kenntnis, die daraufhin auf den Schrecken, den das Nachterlebnis mit dem fürchterlichen Aufschrei auslöste, nicht mehr eingehen wollten.

      Eckhard Hieronymus fragte die Bäuerin Dorfbrunner, wann jemand aus dem Dorf in die Stadt führe, weil er die Lebensmittel- und Kohlekarten für die Familie besorgen müsse und sich um Arbeit für sich und Anna Friederike umsehen wolle. „Für hier braucht ihr diese Karten nicht“, sagte Marga Dorfbrunner, worauf Luise Agnes bemerkte, dass sie den Pommritzern nicht auf der Tasche liegen wollen. „Wie könnt ihr so etwas sagen“, widersprach die Bäuerin, „als die Breslauer Dorfbrunners gehört ihr mit zur Familie. Ihr habt doch euer Schlesien verloren. Wo sonst wolltet ihr bleiben!“ Luise Agnes und ihr Mann bedankten sich für die ungewöhnliche Gastfreundlichkeit. „Versteh uns bitte richtig“, versuchte Eckhard Hieronymus die Lage zu erklären, „wir können dir nicht die ganze Zeit auf der Pelle sitzen und nichts tun.“ „Das versteh ich“, sagte die Frau von Haus und Hof, „hier gibt es genug Arbeit. Wenn es euch nichts ausmacht, dann könnt ihr Eckart und mir bei der Arbeit helfen.“ „Das möchten wir auch gerne tun“, sagten beide wie aus einem Mund. „Hoffentlich stellen wir uns da nicht zu ungeschickt an“, fügte Luise Agnes hinzu. „Kein Meister ist vom Himmel gefallen. Das gilt insbesondere für die Arbeit auf einem Bauernhof“, sagte die Bäuerin mit Blick auf die Breslauer aus der Weisheit der Bodenständig- und -gehörigkeit. Sie fragte Eckhard Hieronymus, was sonst noch zu erledigen sei. „Ich muss versuchen, Kontakt mit meiner Mutter und meinem Bruder sowie mit der Mutter von Luise Agnes zu bekommen“, sagte er. „Wisst ihr denn, wo ihr sie finden könnt?“ „Meine Mutter und mein Bruder Friedrich Joachim wollten zu Onkel Alfred nach Dresden in die Münchner Straße. Wo Luisens Mutter ist, die von einem freundlichen Bauernehepaar auf dem Treckwagen mitgenommen wurde, das wissen wir nicht.“ „Lass uns nochmal auf den Zettel der Lorchs schauen“, wandte Luise Agnes ein, „vielleicht ist da doch ein Vermerk, wo sie hinwollten.“ Während Eckhard Hieronymus den Zettel aus der Jackentasche zog, machte Bäuerin Dorfbrunner die zutreffende Bemerkung, dass es bei der Vielzahl der auseinandergerissenen Familien letztlich dem Zufall überlassen bleibe, ob sich die Familienmitglieder wiederfänden. Er gab den Zettel Luise Agnes, die nun das Geschriebene von vorn nach hinten und von hinten nach vorn, Buchstabe für Buchstabe verfolgte.

      Eckhard Hieronymus fragte die Namensschwester, ob sie vielleicht ein Telefonbuch von Dresden habe. „Augenblick mal, ich schaue in die Schublade nebenan.“ Sie wurde in der Schublade fündig und kam mit einem völlig veralteten Telefonbuch aus dem Jahre 1936 in die Küche zurück. Eckhard Hieronymus schlug die Seiten auf und wieder um; er suchte unter „D“ nach Decker A. in der Münchner Straße und fand ihn mit der Nummer 37582. Er freute sich über den Sucherfolg, zu dem Marga Dorfbrunner kommentierte, dass es glückliche Zufälle gäbe. „Schau mal her!“, stupste Luise Agnes ihren Mann an, „kannst du an den Ecken und zwischen den Zeilen die Buchstaben sehen? Und da ist unten rechts noch eine kleine Halle mit einer Giebelwand vorn skizziert, in der „HA“ steht.“ „Ja, ich kann es sehen.“ „Aber wie muss ich die Buchstaben zusammensetzen, dass sie einen Sinn ergeben? Gehört das „HA“ mit der Giebelwand dazu?“ „Lass mal sehen!“ So sahen beide auf den Zettel, gingen auf ihm auf Forschungsreise, lasen horizontal und vertikal sowie in beiden Diagonalen. Nach einer längeren Odyssee kamen sie auf den Trichter. Sie nahmen das „HA“ mit der Giebelwand und der kleinen, perspektivisch skizzierten Halle als Ausgangspunkt, fanden zwischen den Zeilen und versetzt geschrieben die zum „HA“ fehlenden Buchstaben „L“ und „L“ und „E“, brachten sie in eine Reihenfolge, die dem Sinn nach der Skizze mit der Halle entsprach und kamen so auf den Namen der Stadt Halle an der Saale.

      Staunend gratulierte Bäuerin Dorfbrunner zu diesem Erfolg, die am Tisch die Suchodyssee der beiden aufmerksam verfolgt hatte. Eckhard Hieronymus fragte, ob er ihr Telefon benutzen dürfe. Marga Dorfbrunner führte ihn in den Nebenraum, wo das Telefon auf einer kleinen Schublade stand, an der das oberste Ladenfach offen stand, aus der sie das veraltete Dresdner Telefonbuch geholt hatte. Er wählte die Nummer 37582. Beim dritten Klingelzeichen war Friedrich Joachim am Apparat. An beiden Enden der Leitung verschlug der Überraschungseffekt für Sekunden die Sprache. Bei dem großen Fluchtdurcheinander, den die Volksauswanderung, die die Dimension einer Völkerwanderung angenommen hatte, war es für die beiden Brüder unbegreiflich, dass sie nun direkt miteinander sprachen. Sie fragten, wie der andere die Flucht mit den Ängsten und Beschwernissen, den Entbehrungen und schlaflosen Nächten überstanden hat. Eckhard Hieronymus erkundigte sich nach dem Befinden der Mutter, die, so berichtete Friedrich Joachim, im Zug einen Schwächeanfall erlitten hatte, aus dem sie dank schneller Hilfe eines Arztes gerettet wurde. Nun sei sie mit Onkel Alfred zum Arzt gegangen, der bei ihr einen hochgradigen Erschöpfungszustand mit einer Eisenmangelanämie und der seelischen Depression festgestellt hat und sie darauf behandelt.

      „Wie seid ihr denn bei Onkel Alfred untergekommen?“, fragte Eckhard Hieronymus. Friedrich Joachim berichtete von einer Dreizimmerwohnung im zweiten Stock eines alten Mietshauses in der Münchner Straße 27, die Onkel Alfred nach dem Tod seiner Frau Trude vor fünf Jahren beibehalten hatte. Von den drei Zimmern seien nun zwei zu Schlafzimmern geworden, wobei das größere, das Wohnzimmer ihr Schlafzimmer sei, wo Mutter im dort aufgestellten Bett von Tante Trude und er auf dem Sofa schlafe. „Könnt ihr so leben?“ Eckhard Hieronymus merkte die ungeschickte Frage und nahm es hin, ohne weitere Fragen zu stellen, als Friedrich Joachim ihm antwortete: „Was heißt schon leben können in einer Zeit, in der die Not den Menschen unter den Füßen brennt und es so viele Tote gibt.“ Eckhard Hieronymus sagte nach einer Pause des betroffenen Mitgefühls, dass er, Luise Agnes und Anna Friederike auf dem bäuerlichen Stammhof der Dorfbrunners im Dorf Pommritz seien und ihre erste Nacht auf dem Heuschober der Scheune verbracht hätten. „Dann sind wir bei Onkel Alfred gut dran, weil Mutter hier ein Bett und ich ein Sofa zum Schlafen habe“, meinte Friedrich Joachim, worauf Eckhard Hieronymus sein tiefempfundenes Dankgefühl ausdrückte, dass er mit seiner Familie überhaupt eine Unterkunft gefunden hatte. „Da hast du völlig recht“, bestärkte