Helmut Lauschke

Zwischen Anfang und Ende


Скачать книгу

ich essen kann. Aber ich muss mir das Essen buchstäblich in den Mund schieben, weil mir der Appetit zum Essen fehlt.“ „Gibt der Arzt dir ein Eisenpräparat, denn der fehlende Appetit kann mit der Eisenmangelanämie im Zusammenhang stehen.“ „Der Arzt gibt sich große Mühe und verschreibt mir alles mögliche, was in der Apotheke nicht immer zu bekommen ist.“ „Mutter, schreib auf einen Zettel, was du brauchst. Ich werde mich bemühen, es dir zu beschaffen.“ „Danke. Nun genug von mir! Wie geht es dir, Luise Agnes und Anna Friederike? Wo seid ihr? Habt ihr was von Paul Gerhard gehört?“

      Eckhard Hieronymus hat mit der Frage gerechnet: „Nein, von Paul Gerhard haben wir seit seinem Weggang zur Front nichts mehr gehört.“ „Ach, das macht mich aber traurig.“ „Auch wir sind in großer Sorge um sein Leben; war er doch voller Hoffnung, sein Medizinstudium zu beginnen. Paul Gerhard wollte Chirurg werden. Er hatte die Begabung für den Beruf des Arztes und zum Chirurgen die manuelle Geschicklichkeit.“ „Ja, das hast du immer gesagt. Lass uns hoffen, dass der gute Junge bald zurückkommt.“ „Ja, Mutter, das hoffen wir auch. Zu deiner Frage, wo wir sind, da wirst du staunen. Wir sind auf dem Bauernhof unserer frühen Dorfbrunner-Vorfahren im Dorf Pommritz bei Bautzen.“ „Das ist aber schön. Seid ihr gut aufgenommen worden?“ „Ja, wir sind sogar herzlich aufgenommen worden.“ „Habt ihr auch genug Platz zum Schlafen?“ „Ja, den haben wir“, wobei Eckhard Hieronymus den Heuschober nicht erwähnte, „da brauchst du dir keine Sorgen machen.“ „Ob wir uns noch einmal sehen werden?“, fragte Mutter Dorfbrunner, „das wäre mir eine große Freude. Denn wir beide wissen nicht, wie die Zukunft aussehen wird.“ „Ich werde nach einer Möglichkeit suchen, denn auch wir würden uns freuen, unsere liebe Mutter und geliebte Oma wiederzusehen.“ „Lass uns das Gespräch nun beenden, denn mir ist es etwas schwindelig im Kopf.“ „Ja, Mutter, wir werden uns in den nächsten Tagen wieder sprechen. Ich wünsche dir eine gute Besserung, dass du uns noch lange erhalten bleibst. Grüße Friedrich Joachim und Onkel Alfred. Wisse, dass wir dich alle sehr lieb haben.“ „Dafür danke ich euch. Auch ihr liegt mir am Herzen. Grüße Luise Agnes, Anna Friederike und die Dorfbrunners vom Hofe. Gott beschütze euch!“ „Und dich, Friedrich Joachim und Onkel Alfred auch.“

      Eckhard Hieronymus legte den Hörer auf und stand noch eine Weile vor der Kommode mit dem Telefon. Er sah im Geiste, wie auch Mutter in der Wohnung ihres Bruders Alfred Decker im zweiten Stock des Mietshauses in der Münchner Straße 27 noch eine Weile vor dem Telefon verharrte, um, wie er, das Gespräch noch einmal Revue passieren zu lassen. Er ging in die Küche zurück, wo die Augen der am Tisch Sitzenden auf ihn gerichtet waren, richtete die Grüße an alle aus und berichtete in zusammengefasster Form das Telefonat. Bäuerin Dorfbrunner drückte ihre Freude aus, dass ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn zustande kam. Besonders freuten sich Luise Agnes und Anna Friederike, dass sich die Großmutter vom Schwächeanfall soweit erholt hatte, dass sie zumindest telefonieren konnte. Auf ihre Frage, ob ein Wiedersehen möglich sei, wusste aus dem Stegreif keiner eine Antwort. „Da müssen wir uns unsere Gedanken noch machen“, sagte die Bäuerin, während Eckhard Hieronymus den Obersturmführer Reinhard Dorfbrunner ins Visier seines geistigen Auges nahm, der ihm in der Sache des Wiedersehens mit der Mutter am ehesten helfen könnte, zumal er seine Hilfe beim Mittagessen im Speiseraum des Hotels, in dem die Standortkommandantur Ost in der Steinstraße untergebracht war, angeboten hatte und das Angebot mit dem dicken Blut der Dorfbrunners begründete, dass ein Dorfbrunner dem andern Dorfbrunner hilft, wenn er die Hilfe braucht.

      Der Ausspruch des Breslauer Pfarrers Rudolf Kannengießer beschämte ihn. Eckhard Hieronymus dankte ihm für die Lektion, die aus der Weisheit eines unerschütterten Glaubens kam. Er empfand den Ausspruch als einen Leitsatz im Hinblick auf das Gefragtwerden am Tage des letzten Gerichts. Anna Friederike hörte das ‘Mea culpa’ und fragte den Vater, was er denn hätte, wofür er sich schuldig sprach. Eckhard Hieronymus nahm die Tochter an die Hand und sagte: „Schuldig bin ich, dass ich zu alledem geschwiegen habe, als es an der Zeit war, dagegen zu protestieren. Ich kann doch nicht unschuldig sein, dass ich nichts unternommen habe, weder geistig noch weltlich, als der Demagoge das Krankheitsbild des Größenwahnsinns zeichnete und bot.“ „Was hättest Du denn tun können?“, fragte Anna Friederike. „Das ist eine andere Sache. Aber ich habe gar nichts getan, habe es einfach laufen lassen. Es gab Menschen wie die Geschwister Scholl, die etwas gegen das Unrecht unternommen haben.“ „Und dafür hingerichtet wurden wie die Menschen des 20. Juli.“ „Wie dem auch sei, nun ist es zu spät. Auch ich habe am Schicksal, durch das wir nun zu gehen haben, meinen Teil der Schweigeschuld zu tragen.“

      Er erzählte Anna Friederike, was Pfarrer Kannengießer sagte, als er sich von ihm verabschiedete, dass die Kirche kläglich versagt habe, als es um die Erfüllung des Auftrags ging, sich für die armen, wehrlosen und gequälten Menschen einzusetzen. Die Kirchenmänner hätten sich selbst zu ängstlichen Zuschauern degradiert, anstatt wie ein Paulus aufzustehen und die Nazi-Verbrechen an den Menschen laut und deutlich anzuprangern. Das Schweigen war ein schwerer Fehler. Sie ließen den Kornmarkt und den Reichenturm links liegen, gingen rechts über den Blumenmarkt auf das Hotel mit der Standortkommandantur zu und fragten an der Rezeption nach dem Obersturmführer. Der kam mit ernstem Gesicht die Treppe runter und sagte, dass die Russen Breslau mit Artillerie und geballten Panzerverbänden eingeschlossen hätten. Es sei eine Frage von Wochen oder Tagen, dass die Festung fällt.

      Sie gingen zum Speiseraum und setzten sich an denselben Tisch, an dem sie vor zwei Tagen zusammen mit Luise Agnes gesessen hatten. Als Vorspeise wurde Hühnerbouillon mit Ei serviert. Der Obersturmführer bestellte gleich den Chablis vom 40er Jahrgang. Er fragte, während die Serviererin die Weingläser auf den Tisch stellte, die Flasche öffnete, das Glas des Gastgebers zum Probeschluck füllte, der es nach dem Probeschluck auf den Tisch stellte, wie das Gespräch unter den Kirchenbrüdern verlaufen sei. Eckhard Hieronymus sagte, dass es nichts gebracht hätte und der Superintendent im Amt von den Schwierigkeiten berichtete, die er aufgrund der Streichung einer Pfarrstelle aus Kostengründen habe, dass ein Pfarrer, der kurz vor seinem Ruhestand steht, das letzte Jahr noch durchhalten wolle, um sein Ruhegeld in voller Höhe zu beziehen. „Du siehst“, sagte der Namensvetter Reinhard Dorfbrunner im spöttischen Tonfall, „wieweit die Hilfsbereitschaft bei einem Kirchenmann geht, wenn er einem Amtsbruder helfen soll.“ Er lachte: „Sagen wir erstmal Prost! Das andere wird schon kommen, wenn auch ganz anders, als wir es gedacht haben. Denn wenn Breslau fällt, dann sind die Bolschewisten bald in Bautzen. Aber sag, hast du deinem heiligen Mitbruder nicht gesagt, dass du eine Familie mit einer hübschen Tochter hast?“ „Ich habe die Familie erwähnt, die Tochter hat er gesehen“, erwiderte Eckhard Hieronymus. Es fuhr dem Obersturmführer „der aufgeblasene Hosenkacker“ aus dem Mund, als er sich mit Messer und Gabel über den Schweinsbauch mit Sauerkraut und Salzkartoffeln hermachte und sich dazu reichlich scharfen Mostrich auf den Teller gelöffelt hatte.

      „Versteh mich richtig“, sagte der Namensvetter, „ich meine nicht dich persönlich, denn du bist ein Dorfbrunner, ich meine es ganz allgemein, dass ihr Kirchenleute jedes Mal jämmerlich versagt, wenn man euch braucht.“ Eckhard Hieronymus schwieg, und sein Schweigen wurde als Ausdruck der Zustimmung verstanden. Sie stießen die Gläser auf das Wohl der Dorfbrunners und die guten Geister an, die sie zur Bewältigung der Zukunft brauchten, sich aber nicht greifen ließen. „Aus meiner philosophisch angehauchten Sicht wird es nicht einfach sein, den Schlamassel zu durchwaten und durchzustehen, der auf uns zukommt nach allem, was passiert ist“, meinte Reinhard, der Obersturmführer, mit ernster Miene.

      Eckhard Hieronymus ging darauf ein und meinte, dass die Zukunft von den Taten abhänge, die begangen wurden, egal ob bewusst oder unbewusst. Jeder müsse sich selbst fragen, ob er das Richtige oder das Falsche getan hat, ob er ehrlich oder korrupt war. „Es wird die Frage nach dem Wissen und Gewissen sein, wie die Zukunft auf uns zukommen wird. Sie wird deshalb anders auf uns zukommen, als wir denken, dass sie auf uns zukommen soll, weil wir die Wahrheit nicht ertragen, sie wegdrücken und uns weiter belügen. Der Mörder wird nicht ungestraft davonkommen, wie auch der Schweiger nicht, der den Mord gesehen, aber nichts unternommen hat. Die Schuld des Schweigens ist eine gemeine und schwere Schuld, die zu verantworten ist. Sie wird weit in die Zukunft reichen, und die nächsten Generationen werden ihre Köpfe schütteln, dass so etwas möglich war. Wer sich noch schämen kann und Grund zum Schämen hat, der sollte sich jetzt schon schämen.

      Wer