Helmut Lauschke

Zwischen Anfang und Ende


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schwere Geschütze auf. Die könnten wir jetzt gut in Breslau und an der ganzen Front gebrauchen, um den Feind zu stoppen. Meinst du nicht auch, dass Europa auf dem Prüfstand und damit auf dem Spiel steht, je tiefer die russischen Armeen ins deutsche Reichgebiet eindringen?“ „Da stimme ich dir zu“, sagte Eckhard Hieronymus, „dabei müssen wir uns fragen, wer den Krieg mit dem Riesenreich im Osten begonnen hat, an dem schon Napoleon, der in Moskau war, strauchelte und den Großteil seiner Armee mit Waffen durch Typhus verloren hat. Man hätte daraus lernen können, dass der russische Koloss vom Westen her zwar verwundbar, aber nicht zu erobern ist. Dafür sind die geographischen Dimensionen viel zu groß.“

      „Dass du als Kirchenmann dich in der Kriegsstrategie profilierst, das habe von dir nicht erwartet. Ich meine aber, dass jeder bei seinen Leisten bleiben solle. Hast du nicht schon mit dem lieben Gott genug zu tun? Ich gebe zu, dass ich mit meinen Leisten auch nicht weiter komme, weil es an Panzern und anderem schlagkräftigen Kriegsgerät fehlt. Wir haben das Ziel nicht erreicht. Nun überrollt uns die Rote Armee mit ihren T34. Doch widerstandslos werden wir nicht von der Bühne verschwinden, das sind wir dem deutschen Boden und der deutschen Ehre schuldig.“ „Der deutschen Ehre sind wir vieles schuldig geblieben“, gab Eckhard Hieronymus zu bedenken und fragte, ob es sinnvoll sei, nun noch das Letzte mit den unersetzbaren Baudenkmälern in Schutt und Scherben zu schießen. Darauf bemerkte der Obersturmführer, dass der Krieg fürchterlich in seiner Einfachheit ist, in dem es ausschließlich auf den Sieg ankommt. Da nimmt keiner Rücksicht auf die Baudenkmäler, auch wenn sie aus historischer, architektonischer und künstlerischer Sicht unersetzbar sind. Man denke an die ägyptischen und griechischen Tempel, die zerstört wurden, an die Skulpturen, denen die Augen ausgestochen und die Arme, Nasen und Ohren abgeschlagen wurden.

      Es war ein Mittagessen mit Diskussion zur Lage der verbluteten und verbrauchten Nation. Der Obersturmführer zielte auf den Untergang des Abendlandes hin, weil der bolschewistische Einfall in die Mitte Europas nicht aufzuhalten ist; Eckhard Hieronymus ging es um Gründe und Schuld, warum der Weg in die Katastrophe zu gehen war. Beide hatten in der Schule den „Phaidon“ gelesen. Sie kamen auf Sokrates zu sprechen, dass er zur Erhaltung Athens als Infanterist im Peloponnesischen Krieg bei Delion und Amphipolis kämpfte und nach den Kämpfen den Vorsitz im Rat der Rechtspartei übernahm und das aufgebrachte Volk zu beschwichtigen und davon abzuhalten versuchte, die Feldherren wegen der verlorenen Arginusenschlacht hinzurichten. Er erlebte den Niedergang und die Katastrophe Athens. „Weißt du“, fragte Eckhard Hieronymus den Namensvetter, „warum Sokrates kein Partei- oder Staatsführer sein wollte?“ Der Obersturmführer wusste es nicht; Eckhard Hieronymus zitierte aus der Apologie: „Niemand sei seines Lebens sicher, der einer Volksmasse offen und ehrlich begegnet. Deshalb müsse, wer ein Kämpfer für das Rechte sein und dabei kurze Zeit am Leben bleiben wolle, sich auf den Verkehr mit Einzelnen beschränken.“ Der Namensvetter lachte und sagte, dass der „Führer“ diesbezüglich doch Glück gehabt habe, worauf der andere Vetter ironisch wurde und sagte, dass Sokrates etwas anderes unter Offenheit und Ehrlichkeit verstand, wobei er die Toleranz anders denkenden Menschen gegenüber als unverzichtbar angesehen hatte.

      Bei der Nachspeise sah Eckhard Hieronymus auf die Uhr, es war halbdrei, und sagte, dass Eckart auf sie warte, um sie nach Pommritz zurückzubringen, und sie um drei Uhr eine Absprache beim Frauenarzt hätten. Da fragte der Obersturmführer, ob denn die hübsche Tochter schwanger sei. „Nein“, winkte Anna Friederike ab, „aber vielleicht kann er mich als Schwester in seiner Frauenklinik gebrauchen. Dann verdient wenigstens einer das Brotgeld für die Familie.“ Der Vetter legte den Arm auf ihre Schulter und sagte: „das ist eine gute Idee. Hat sich doch wieder gezeigt, wie nutzlos Kirchenleute sind, wenn man sie braucht.“ Er brachte die Breslauer zum Ausgang. Bei der Verabschiedung sagte er zu Friederike, dass er ihr die Daumen drücke und die Lebensmittelkarten mit den größeren Zuteilungen vom Fahrer am nächsten Tag nach Pommritz bringen lassen werde. „Vielleicht komme ich auch selbst. Dann bringe ich echte Kaffeebohnen mit.“

      Eckhard Hieronymus und Anna Friederike überquerten den Blumenmarkt, wo an der Ecke Kornstraße Eckart mit dem Pritschenwagen schon wartete. „Wir haben noch einen Termin beim Arzt am Albertplatz. Kannst Du da auf uns warten?“, fragte Anna Friederike. „Kein Problem.“, sagte Eckart. Der Arzt, ein großer, schlanker Herr der Endvierziger, saß hinter dem Schreibtisch und trug die Untersuchungsdaten in die Karteikarte der Patientin ein. „Nehmen Sie bitte Platz.“ Vater und Tochter setzten sich dem Arzt gegenüber und warteten, bis er die Eintragung beendet hatte. „Sie kommen das erste Mal. Was ist ihr Problem?“ Eckhard Hieronymus stellte sich und seine Tochter vor, erwähnte, dass sie Flüchtlinge aus Breslau seien. Er stellte die Frage, ob die Möglichkeit bestehe, dass seine Tochter in der Klinik arbeiten könne. Der Arzt schaute Anna Friederike an. Sein erster Eindruck stimmte ihn positiv. „Wo haben Sie ihre Ausbildung abgeschlossen?“, fragte er mit gütigem Blick. „Ich habe keine Ausbildung; dazu habe ich es nicht geschafft“, sagte Anna Friederike. Eckhard Hieronymus erklärte die Situation, dass die Tochter vorhatte, Medizin zu studieren, dass sie aber nicht immatrikuliert wurde, weil sie das Blut einer jüdischen Großmutter habe. Alternativ stand für sie der Beruf der Krankenschwester. Da hatte der Krieg die Ausbildung verhindert. Er erwähnte, dass er als Superintendent von Breslau mit dem hiesigen Superintendenten Bosch gesprochen habe, der ihm aber nicht zu einer Arbeit verhelfen konnte. Nun gäbe es in der Familie keinen, der durch Arbeit das Geld für das tägliche Brot verdiene. Der Frauenarzt hatte die prekäre Situation verstanden und sagte seine Unterstützung zu, dass Anna Friederike in der Klinik als Hilfsschwester arbeiten könne. Als Eckhard Hieronymus sagte, dass sie auf einem Hof im Dorf Pommritz untergebracht seien, bot der Arzt ein kleines Zimmer unter dem Dach an, von dem die Tochter Gebrauch machen könne. Vater und Tochter bedankten sich für das Angebot. Es wurde vereinbart, dass Anna Friederike unverzüglich mit der Arbeit beginnen könne.

      Die Frage nach dem Wohin stand ernst in den Gesichtern der Kutscher, auf denen die Zuversicht mit der Bestimmtheit, dass sie die Antwort kannten, so gut wie bei keinem zu sehen war, auch wenn die Fahrtrichtung stimmte. Die Zeit drängte, und die Menschen aus dem Osten drückten mit ihrer aufgeladenen Habe in den Westen hinein. Die Landschaft, über die hinweggezogen wurde, lag hartgefroren unter den Hufen und Rädern; sie lud ihrerseits nicht zum Verweilen ein.

      Nach etwas mehr als einer Stunde hatte Eckart das Dorf erreicht. Er fuhr in den Hof, sprang vom Bock herunter, spannte den Hengst aus und führte ihn in den wärmeren Stall, wo er ihm Heu und Wasser gab. Die beiden Breslauer legten die Decke zusammen und auf die Bank, stiegen vom Wagen und gingen in die Küche, in der es behaglich warm war, und Luise Agnes der Bäuerin beim Kartoffelschälen half. „Kommt, setzt euch! Ich mache erstmal einen Kaffee.“ Vater und Tochter waren froh, dass sie zurück waren und sich an den Tisch in der warmen Küche setzten. „Wie war’s?“, fragte Luise Agnes, wobei sie den beiden in die Gesichter blickte und dann mit dem Schälen der Kartoffeln weitermachte. „Es gibt zwei gute Nachrichten und eine schlechte. Welche willst Du zuerst hören?“, fragte Anna Friederike die Mutter. „Fang mit den guten an!“ Da berichtete ihr Anna Friederike, dass sie in der Frauenklinik sofort mit der Arbeit beginnen könne und dass der Namensvetter Lebensmittelkarten mit den besseren Zuteilungen beschaffen werde, die der Fahrer morgen bringen würde, wenn er sie nicht selbst bringt. „Das sind in der Tat gute Nachrichten“, sagte Luise Agnes, die auf Kartoffel und Schälmesser blickte.

      „Nun weiß ich auch die schlechte Nachricht“, fuhr sie fort, „dass Vater mit dem Superintendenten gesprochen hat, der ihm nicht helfen kann, weil er keine Arbeit für ihn hat.“ „So ist’s; du bist eine Hellseherin“, sagte Anna Friederike. Die Mutter meinte, dass man kein Hellseher sein muss, um die Schwächen von Kirchenleuten zu kennen. Schweigend saß Eckhard Hieronymus vor seiner Tasse Kaffee, die die Bäuerin Dorfbrunner eingegossen hatte. Er war mit seinen Gedanken noch einmal bei dem kurzgewachsenen Konsistorialrat Braunfelder in Burgstadt, der, als er ihm an dem großen Schreibtisch mit der polierten Schreibtischplatte gegenübersaß, wie ein Wasserfall sprach und jeden Versuch, wenn er etwas sagen wollte, „wegspülte”, dass er bei den Gesprächen, zu denen er ihn gerufen hatte, einfach nicht zu Wort kam. Er sah die Manie, wie der Rat in seinem Wortschwall das metallene Brustkreuz mit seinen kurzen, fleischigen Finger fasste und umfuhr und nicht mehr aus den Fingern gab. Der andere Kirchenmann war der Bischof Rothmann in Breslau, der am Entwurf des pastoralen Rundbriefes die Passage streichen