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1. Kapitel: Hilfreiche Entdeckungen
»Also dies muss ich noch auskundschaften, bevor wir in die Stadt zurückfahren«, grölte Leonie und schritt schnurstracks auf das geheimnisvolle alte Bauernhaus zu. Sie und ihre beiden besten Freunde Cem und Victor hatten das Wochenende in der stillen Natur genossen. Der Zufall hatte ihnen einen idealen Zeltplatz am Seeufer, unterhalb eines üppigen, grünen Wiesenhügels unmittelbar am Waldesrand beschert! Nach zwei Nächten draussen im Wald am Lagerfeuer fühlten sie sich zwar etwas müde, dafür aber umso glücklicher: Die Stimmung ausserhalb dieses Dorfes ist ja so friedlich und vor allem- tiefenentspannt: Die Wiesen leuchten in allen möglichen saftigen Grüntönen, die Vögel zwitschern allerhand fröhliche Melodien und wenn man das Auge in die Weite schweifen lässt, könnte man meinen, dass es sonst nichts auf dieser Welt gäbe. Ausser eben das alte Bauernhaus, das einem durchaus unheimlich werden kann, wenn man es aus der Nähe betrachtet. Cem und Victor schritten schweigend Leonie hinter her, weil sie wussten, dass alles andere zwecklos ist: Leonie gehört zu den Menschen, die bereit sind Risiken einzugehen, um ihre Neugier zu stillen, Spass zu haben oder sich für einen guten Zweck einzusetzen. Kurz bevor sie auf dem erdigen Vorplatz des Bauernhauses ankamen, steckte sie ihre rotblonden, wilden Locken mit einer Haarspange hoch, band sich den dunkelblauen Pulli um die schmalen Hüften und nahm einen kräftigen Schluck Mineralwasser. Cems tiefbraune Augen blitzten vor Vergnügen als sie ihn verstohlen anlächelte: »Brauchst du noch eine kleine Stärkung vor der letzten Entdeckungstour?« Er bot ihr und seinem Freund die restlichen Chips an. »Ich hätte fast lieber noch ein Bier«, keuchte Victor lachend und musterte das Haus von oben bis unten. »Wer weiss, vielleicht kriegen wir sogar noch einen selbstgebrannten Obstler.« Während sie die letzten Kekse und Chips vertilgten und die Petflaschen leerten, drangen plötzlich seltsame Schreie aus dem obersten Fenster des Hauses: »Nein! Ich kann doch nichts dafür! Bitte nicht! Bitte nicht!« Cem zuckte zusammen und wurde kreidebleich. Leonie lief zur Hochform auf: »Zu blöd, dass ich nicht mehr Proviant besorgt habe, was?«, scherzte sie. »Lasst uns verschwinden, dies ist echt nicht mehr lustig«, schlug Victor vor und war im Begriff wegzurennen. »Lustig nicht, aber dafür umso wichtiger«, strahlte Leonie und versuchte vergeblich, die schwere, von innen verschlossene Holztür zu öffnen: »Hier braucht ganz offensichtlich jemand Hilfe. Kommt mit!« Die beiden Freunde sahen sich ratlos an und folgten ihr. Sie rannte instinktiv hinters Haus, wo sie richtigerweise einen Hintereingang vermutete: Dann ging es die Treppe hoch ins Obergeschoss. Links und rechts türmten sich Müllberge aus Zeitungen, Zeitschriften und unzähligen Schachteln in allen Formen und Farben und sonstige zahlreiche Gegenstände zu Müllwänden. Der Holzboden knarrte und klebte, die Luft war erfüllt vom Staub, den ihre Schritte aufwirbelten und von aufgestautem, längst liegengelassenem Schmutz. Als sie auf dem Flur ankamen, hörten sie eine Stimme flüstern »Bssssst, jetzt musst du ganz still sein, dann geschieht uns nichts, bsssst«, dann kehrte die gespenstische Stille zurück. Leonie drehte sich zu den Jungs um und flüsterte: »Höchstwahrscheinlich sind die Leute in diesem Zimmer hier«, und deutete auf die letzte Tür am westlichen Ende des Flurs. »Wir machen den Leuten doch nur Angst, lasst uns endlich hier verschwinden, bevor wir Ärger bekommen«, antwortete Victor. Cem nickte schweigend. »Jungs! Wer in solcher Not lebt ist sicher nicht gefährlich.« Das Augenrollen der Jungs hielt sie nicht davon ab, ihren Monolog zu Ende zu flüstern: »Oder wenn hier zum Beispiel eine Frau zusammengeschlagen wird und dabei draufgeht, weil ihr niemand hilft, werden wir unseres Lebens nicht mehr froh! Wollt ihr das etwa?!« Die geflüsterte Diskussionsrunde wurde jäh unterbrochen: »Raus hier, aber zackig!«, schrie eine uralte Männerstimme aus dem Dunkeln. Vor ihnen stand ein sehr alter, kleiner Mann mit langen weissen Haaren, der mehr waagrecht, als aufrecht gehen konnte. Im ebenso langen Bart klebte noch das Frühstücksei vom Vortag, das weisse Hemd war mit allerlei bunten Flecken übersät und die Kniestellen bei den braunen Manchesterhosen waren weiss vor Staub. »Ganz ruhig. Wir wollen Ihnen nichts böses. Wir haben Schreie gehört und machen uns Sorgen, um Sie«, begann Cem als erster. Alle drei standen einfach mit erhobenen Händen da und hatten nicht den Nerv, irgendwie davonzulaufen. »Ich bin der Cem und das sind meine Freunde, Leonie und Victor«, begann Cem die Wogen zu glätten. Der Opa nahm sein Gewehr runter. »Und was zur Hölle habt ihr hier in meinem Haus verloren?!« - »Wir haben Schreie gehört und dachten, dass Sie vielleicht Hilfe brauchen. Leben Sie alleine hier?«, versuchte Leonie den Opa weiter zu beruhigen. »Nein. Ich lebe hier mit meiner Frau«, zischte dieser. Victor versuchte den Schreien weiter auf den Grund zu gehen: »Hat Ihre Frau Sie irgendwie geärgert, oder haben Sie sich gestritten?« Der Opa wurde wieder laut: »Was geht's dich an, Junge? Du wirst auch noch merken, dass die Weiber im Alter faul und seltsam werden.... « Victor ging ein paar Schritte rückwärts und nickte eifrig. Dabei zuckte er mit den Schultern und blickte Leonie verzweifelt in die Augen. Der Opa war so in seinen Vortrag vertieft, dass seine volle Aufmerksamkeit voll und ganz dem liebevoll lächelnden Victor galt und ihm das Gewehr auf den Boden fiel. Leonie und Cem nutzten die Gelegenheit, drängten sich am Opa vorbei und rannten ins Schlafzimmer: Die Oma lag im Bett und versuchte im Liegen und ganz ohne Schreibunterlage, etwas in ihr Notizbuch zu schreiben. Leonie und Cem setzten sich zu ihr auf den Bettrand: »Guten Abend, ich bin die Leonie Krug und das ist einer meiner besten Freunde, Cem Rabia.« Die Oma schrieb völlig unbeteiligt weiter an ihren Notizen. Ihre restlichen schütteren, schneeweissen Haare waren völlig zerzaust und klebten wie weisse Regenwürmer an ihrem fast kahlen Kopf. Aus einem nimmermüden, von einem schweren Leben gezeichneten Gesicht blickten die wässerigen stahlblauen Augen verträumt ins Notizbuch. Der schmale Mund lächelte ununterbrochen zahnlos. Ein heillos verschmutztes rosafarbenes Nachthemd hing am völlig abgemagerten Körper. Leonie räusperte sich und berührte die Schreibhand der Oma. Bevor sie irgendwie weiterreden konnte, liess diese ihr Schreibzeug fallen und sah sie verwundert an: »Lisi! Komm wir gehen ein Glas Honigmilch trinken!«, meinte sie und streichelte ihr übers rotblonde Haar. Victor kam mit dem Gewehr an der Schulter und dem Opa ins Schlafzimmer hinein. »Wir haben uns versöhnt. Ich konnte den Willi überzeugen, dass wir ihm und seiner Wiltrud nichts böses wollen.« Leonie strahlte abenteuerlustig in die Runde, während Cem seinerseits zusammenfasste: »Unserer Wiltrud scheint es soweit gut zu gehen- sie ist mit ihren Notizen beschäftigt und will ˃Lisi˂ und mir eine Honigmilch servieren«, erklärte Cem auf Leonie deutend. Der Opa klopfte Victor auf die Schulter: »Bitte entschuldigt, dass ich euch für Verbrecher hielt: Aber meine Frau ist manchmal ganz schön verwirrt. Und dann redet sie wirres Zeug und schreit wirres Zeug. So ist das halt mit uns Alten.« Dann wurde sein spindeldürrer Körper vom nächsten Hustenanfall durchgeschüttelt. Er putzte sich die Nase, richtete sich auf und küsste seine Wiltrud auf die Stirn: »Aber ich würde ihr niemals weh tun.« Leonie wollte die spontane Hilfsaktion vorantreiben: »Was meinen sie, Wiltrud? Wollen wir gemeinsam aufstehen, um uns in der Küche eine Honigmilch zu machen? So eine leckere Spezialität vom Land haben meine Freunde noch nie gehabt und würden sich freuen, dies mal zu kosten?« Sie reichte ihr beide Hände, die sie dankbar ergriff und drückte. »Wisst ihr was, Jungs, geht doch schon mal vor, wir kommen gleich nach.« Die drei Herren verliessen den Raum und machten sich auf in die Küche. Wiltrud klagte über Schmerzen am ganzen Körper und sackte immer wieder in die weichen Kissen zurück. Daraufhin schlug Leonie vor, dass sie sich ganz entspannt auf den Rücken legte, und sie sie ganz behutsam auf die eine Seite und dann auf die andere Seite drehte. Dann würde sie ihr schmerzstillenden Tigerbalsam einreiben. Wiltrud war natürlich begeistert. »Vielleicht hätte ich doch besser Pflegewissenschaften studieren sollen«, schoss es ihr durch den Kopf, als sie die zahlreichen wunden Druckstellen entdeckte. »Diese Leute hier sind nicht bloss in einer echten Notsituation, sondern auch echt dankbar.« Die Tür sprang auf und Cem streckte den Kopf herein, fiel fast in Ohnmacht vor Schreck, als er die halbnackte Wiltrud entdeckte, schlug die Tür wieder zu und stammelte durch den Türspalt: »Na, meine Damen? Alles klar bei Euch?« - »Nun, ich fürchte, wir müssen die Honigmilch ein andermal trinken kommen«, rief sie durch den Türspalt. »Wir sind gerade wahnsinnig beschäftigt, warte.« Sie legte Wiltrud auf die rechte Seite zum Fenster in die Kissen zurück und ging vor die Tür. »Dies hier ist echt krass. Sie hat sich am ganzen Körper wundgelegen. Lass uns einen Krankenwagen rufen, damit die beiden endlich mal anständig versorgt und gepflegt werden. Das dies in unserer Gesellschaft noch vorkommt ist nun wirklich ein echtes Armutszeugnis.« Cem nickte und antwortete lächelnd: »Genau das hat Victor gerade eben getan.« Die beiden klatschten ab, der Rettungswagen traf ein und die Brandners waren gerettet.
In diesem Moment erfreuten sich auch noch andere am Naturtrip der