Weise Meise

Die Zufluchtsoase


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und der Ex deines Verstorbenen fristlos gekündigt.« Tati schluckte und schwieg einen Augenblick lang. »Lass uns weitersuchen. Ich fühle einfach, dass es für uns noch etwas zu erledigen gibt und wir unseren Arsch heute nicht umsonst riskiert haben. ̋ Nach einer Flasche Bier mit einer Tüte Chips machten sie mit ihrer Datenauswertung weiter. »Es ist doch immerhin tröstlich zu wissen, dass dein Verstorbener offenbar ein tragischer Einzelfall war, findest du nicht?« Tatis blasses Gesicht zeigte plötzlich ihre ganze Müdigkeit: »Du kennst mich doch. Ich kann mit einer Sache erst abschliessen, wenn ich ihr auf den Grund gegangen bin. Zweitens finde ich genau solche Einzelfälle am fiesesten: Da werden einzelne Menschen für völlig kranke und perverse Gewaltfantasien benutzt, die sich nicht wehren können. Gerade weil es ˃nur˂« ,bei diesem Wort symbolisierte sie mit beiden Zeige- und Mittelfingern Anführungszeichen »Einzelfälle sind, kriegen andere diese hässliche Seite gar nicht mit und können sie nicht verurteilen- geschweige denn etwas dagegen unternehmen.« Sie machte eine Pause und wäre am liebsten schlafen gegangen. »Lass uns dieses Ding zu Ende bringen.«

       »Na, habe ich dir zu viel versprochen?«, gähnte Tati, als sie die letzte Patientenakte aus dem Archiv durcharbeiteten und in Tinas hellwaches begeistertes Gesicht blickte. »Schau! Wenn das nichts für uns ist, dann weiss ich auch nicht mehr weiter! Da geht es um zwei uralte Leute und ihre beiden Töchter: Da schreibt die eine Tochter in einem eingeschriebenen Brief, dass sie, die Ruth Buschke-Brandner, die Pflege ihrer Eltern nun gemeinsam mit ihrer Schwester, der Elisabeth Brandner stemmen würde und die Hilfe des Pflegedienstes nun nicht mehr bräuchte. Und zwar hätte sie genau aus diesem Grund ihren Job als Pflegefachfrau gekündigt und ihre Schwester, würde auch nur noch halbtags arbeiten.« Sie hielt ihr das Schriftstück mitten unter die Nase und Tati verstand immer noch nicht, weshalb ausgerechnet diese letzte Akte ein Fall für sie sein sollte. »Kann es sein, dass du dies alles nur aus purer Langeweile machst, um keine Bewerbungen schreiben zu müssen?«, versuchte sie ihre Freundin zu bremsen. »Nein! Ich mache dies, um die Zeit möglichst sinnvoll totzuschlagen, das weisst du ganz genau!« Sie liess Tati kurz durchatmen, bevor sie fortfuhr: »Schau: Der erste Grund, weshalb mir die Nackenhaare zu Berge stehen, ist die Tatsache, dass die eine Schwester immer in der Ich-Form schreibt: Ich meine, wenn man zu zweit einen Brief schreibt, heisst es doch immer ˃wir˂ , oder?« Tina war so in ihrem Element, dass sie erst jetzt zu realisieren begann, wie fertig ihre Freundin war. »Was ist überhaupt mit dir los?«, versorgte sie sie mit einem Glas Wasser. Tati lief eine Träne runter, worauf Tina ihr sofort ein Taschentuch reichte und den Arm um sie legte: »Du hast ja Recht. Schliesslich war es meine Idee. Aber die Erinnerung tut einfach zu weh.« - »Versehe, verstehe«, nickte Tina, wobei ihre Stimme wieder sanft und weich wurde »das tönt nicht nur wie der Refrain eines Liebeskummersongs, sondern fühlt sich auch so an.« Sie sassen einfach nur da und schwiegen. Einen Augenblick später war Tati eingeschlafen. Sie sah sich den Brief, den sie Tati vorhin unter die Nase hielt nochmals genau an und überlegte: Die Unterschriften der beiden Schwestern auf diesem Brief sahen wirklich beinahe gleich aus. Tina kam es vor, als hätte diese Ruth Buschke-Brandner einmal für sich selbst und einmal für ihre Schwester gleich mit unterzeichnet- ohne diese zu fragen. Sie hatte auch schon von Seelenverwandtschaften gehört, die zwei Menschen dieselbe Schrift und Unterschrift haben liess. Wenn sich diese beiden Schwestern jedoch überhaupt nicht nahe standen, eine der beiden Unterschriften gefälscht war und der Brief der Schlüssel zu einem Verbrechen war, könnte sie es sich niemals verzeihen, der Sache nicht auf den Grund gegangen zu sein. Deshalb recherchierte sie weiter und stellte fest, dass es zu den ehemaligen Patienten, zu Wiltrud und Wilfried Brandner noch keine Todesanzeigen gab. Und so schwor sie sich, ihre Freundin zu überreden, gemeinsam mit ihr herauszufinden, ob das Versprechen dieses Briefes eingehalten wird.

      »Ich habe nie an deinem Instinkt gezweifelt«, strahlte Tati, als sie beide am nächsten Tag von der Mittagssonne geweckt wurden. »Aber das es gleich eine Aktion sein wird, die sich von der Romanze zum Drama in drei Akten entwickeln kann, hätte ich natürlich niemals erwartet.« Die beiden stärkten sich mit einer Pfanne voll Rührei mit Speck, gingen sämtliche Akten durch, besprachen ihre Vorgehensweise und machten sich auf den Weg. »Dass es in unserem Dorf auch Drehorte für Gruselfilme gibt, hätte ich niemals erwartet«, kicherte Tina, als sie an ihrem nächsten Wirkungsort, wie sie es so schön nannten, ankamen. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir bereits in unserem ganz eigenen Gruselfilm stecken«, meinte Tati, als sich die knarrende Haustür zu dieser geheimnisvollen »Hexenvilla« ohne weiteres öffnen liess. Schockiert schritten sie durch den meterhoch gestapelten Müll und stellten fest, dass ihnen jemand zuvorgekommen sein musste und die Brandners aus ihrem Elend befreit waren- auf welche Art und Weise auch immer.

      So unbeschwert und entspannend die Wellnesswoche war, so niederschmetternd wurde Dr. Elisabeth Brandner vom Alltag empfangen und wieder in Beschlag genommen. Sie hatte es gerade eben geschafft, nach einer anstrengenden Schicht im Operationsaal nach Hause zu gehen, um als erstes ein kühles Bad zu nehmen. Nun genoss sie auf dem Balkon ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung die etwas weniger heisse Nachtluft, die von zirpenden Grillen erfüllt war und versorgte ihre zahlreichen Blumenstöcke mit Wasser. Sie trug ihren schwarzen, mit bunten Blumen bedruckten Feierabendoverall, legte sich seitlich mit ausgestreckten Beinen aufs Gartensofa und stöberte durch ihr Samsung PC-Tablet. Die hellsten Strähnchen ihrer pfiffigen naturblonden Kurzhaarfrisur leuchteten in der Abendsonne wie pures Gold. In dieser Position auf dem hellen Sofa, kamen ihre gertenschlanke Figur und ihre tiefbraune Haut so wunderbar zur Geltung, dass sie dem Nachbarn gegenüber als Model für ein Gemälde hätte dienen können. Nachdem sie eine ganze Weile lang Fotos vom vergangenen Urlaub angesehen und in den schönsten Erinnerungen geschwelgt hatte, checkte sie ihre Mails. Inmitten der zahlreichen Newsletter und einigen »wir wünschen dir nach den Ferien einen guten Start«- Messages, war da doch tatsächlich eine Nachricht der Sozialbehörden. Ihr wurde beinahe schwarz vor Augen, als sie diese anklickte: »Sehr geehrte Frau Dr. Brandner«, stand da. »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Eltern, Frau Wiltrud Brandner-Schmitz, geb. am 4. Juni 1936 in Köln und Herr Wilfried Brandner-Schmitz, geb. am 1. Mai 1921, in Köln, in einem völlig verwahrlosten Zustand hospitalisiert und behandelt werden mussten. Im Anschluss an den rund 24-stündigen Krankenhausaufenthalt, verlegten wir die beiden in ein Alters- und Pflegeheim, deren Adresse sie auf der beigelegten Eintrittsrechnung Juli 2015 finden. Dürfen wir Sie daher bitten, zum einen umgehend mit uns Kontakt aufzunehmen und zum anderen, beiliegende Rechnungen zu bezahlen? Für weitere Fragen stehen wir Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf, während sie feststellte, dass ihre Eltern in der luxuriösesten Pflegeeinrichtung der Stadt untergebracht worden waren. Sie goss sich ein weiteres Glas Mineralwasser ein und begann, diese Message zu verarbeiten. Dabei merkte sie gar nicht, wie die Zeit an ihr vorbeiraste. Weil es schliesslich schon fast Mitternacht war, traute sie sich nicht, irgendjemanden anzurufen. Also sass sie einfach nur da und liess ihre Gedanken kreisen: »Dass meine kleine Schwester, die immer bevorzugt wurde, nicht ebenfalls zur Kasse gebeten werden kann, ist mal wieder typisch«, bemitleidete sie sich selbst, während ihr die Tränen runter liefen. Ihre Traurigkeit wurde nicht besser, als sie die Nachtrichtenapps anklickte und die vielen schrecklichen Bilder von Flüchtlingskindern in heillos überfüllten Schlepperbooten sah. In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. »Hallo Mathea? Ist bei dir alles in Ordnung?«, weinte sie. »Habe ich es mal wieder geahnt, dass du eine Krise hast, meine Liebe?«, tönte es am anderen Ende. »Ich habe bloss aus einem unguten Gefühl heraus gedacht, ich schaue mal nach dir und rufe dich an. Was ist denn bloss los? Sind es die zahlreichen Überstunden oder gibt's vielleicht doch eine Hiobsbotschaft?« Sie schämte sich, dass sie noch keine zehn Sekunden vorher in Selbstmitleid über ihre Luxusprobleme badete. »Nein, nein«, meinte sie, während sie die restlichen Tränen runterschluckte. »Mir macht bloss der Wechsel von unserem genialen Wellnesstrip zum Alltag mehr zu schaffen als sonst. Ausserdem bin ich bereits jetzt wieder todmüde und habe mir gerade eben das Flüchtlingselend angesehen. Vielleicht sollten Jutta und ich uns bei Ärzte ohne Grenzen melden und dich und Kirsten als unsere engsten Vertrauten und Ratgeberinnen mitnehmen.« Mathea lachte am anderen Ende: »Ich würde ja sofort mitkommen, wenn ich selbst Ärztin wäre. Aber in der hiesigen Caritas kann man sich auch wunderbar einbringen.« Sie kam regelrecht ins Schwärmen von ihren Erlebnissen. »Stell dir vor. Als ich heute Nachmittag Wasserflaschen verteilte, wollte mich ein kleines Baby sogar auf die Wange küssen, als ich ihm die tränennassen Wangen trocknete. Seine anderen beiden Geschwister