Weise Meise

Die Zufluchtsoase


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Leutchen hätten sich bestimmt über Nachhilfeunterricht mit Kirschen gefreut in Svens Alter«, grübelte Leonie. »Selbst wenn es eine Stunde weniger Ferien pro Tag bedeutet. Während Svennielein nichts besseres zu tun hat, als sich vor meiner individuellen Lernhilfe zu drücken, um nächsten Monat übellaunig zur Schule zu gehen, sterben tausende Kinder auf der Flucht- ohne jemals die Chance zu haben, mit Esswaren das Einmaleins zu lernen.« Mit diesem Gedanken schlief sie ein.

      2. Kapitel: Der Beginn eines Abenteuers

      »Steigt ein, meine Lieben. Heute Abend habe ich was ganz Besonderes für uns Extremgeniesserinnen vorbereitet«, begrüsste Elisabeth ihre besten Freundinnen an diesem freien Tag. Jutta und Kirsten nahmen auf der Rückbank Platz und lächelten sich vielsagend an. Dieses Strahlen in Elisabeths Augen verhiess bestimmt eine wunderbare Überraschung. Trotz des aufziehenden Gewitters und des stockenden Feierabendverkehrs war die Stimmung unter ihnen gut und wurde noch besser, als klar wurde, dass die Überraschungsfahrt aufs Land geht. Fünfviertelstunden später standen sie vor dem Bauernhaus, das mehr einer Hexenvilla glich und das sie doch erst kürzlich auf Facebookfotos gesehen hatten. Elisabeth strahlte übers ganze Gesicht, als sie die Bleischwere Eingangstür aufschloss und ihre Gäste durch die leergeräumten besenreinen Räume führte. »Ist das deine Ferienwohnung oder dein neues Zuhause?«, wollte Jutta wissen, als sie den kleinen runden gedeckten Tisch mitten im leeren Wohnzimmer entdeckte. Obwohl es überhaupt nicht kalt war, begann es wie vorhergesagt zu regnen. »Nein, das wird was viel besseres, wenn es fertig ist: Das wird nämlich eine langfristige Flüchtlingsunterkunft!«, strahlte Elisabeth. »Jetzt wo meine Eltern im Altersheim sind, kann hier etwas neues, grossartiges entstehen. Es war absehbar, dass unsere ehemalige Abschlussballlocation, wie ich es hier gerne nenne, zu gross wird für die beiden.« Kirsten wunderte sich. Das hast du uns vorletzten Sonntag, als wir uns die schönen Bilder von hier angeguckt haben, ja noch gar nicht erzählt?« Mathea legte fürsorglich den Arm um sie: »Lis hat ihr Leben seit unserem Wellnesstrip ziemlich auf den Kopf gestellt. Das wollen wir heute Abend mit Euch feiern!« Das Strahlen kehrte in ihr müdes Gesicht zurück: »Ganz genau. Und weil ich euch unbedingt als allererstes zeigen wollte, wie meine eigene Flüchtlingsunterkunft vorankommt und ich dem uralten Kochherd hier im Haus nicht traue, habe ich unser Nachtessen gleich im Kofferraum mitgenommen: Lasst uns dies ausladen, ihr habt bestimmt auch Hunger!«

       »Also meine Lieben«, begann sie ihre tiefgreifenden Veränderungen zu schildern, als sich alle von den Leckereien aufs Teller geladen hatten. »Ich will Euch nicht länger auf die Folter spannen....« - »Dass du jetzt ins Cateringbusiness eingestiegen bist, haben wir allerspätestens jetzt mitgekriegt«, scherzte Jutta. »Ich muss schon sagen, diese Gurkensuppe, das wäre auch etwas gewesen für meinen fünfzigsten, letzten Monat«, schwärmte Kirsten. »Vielleicht werde ich eines Tages tatsächlich noch ins Cateringbusiness einsteigen. Aber zuerst nehme ich mir eine einjährige Auszeit, in der ich jede Menge Gutes tun und Spass haben werde. Diese Epoche will ich heute Abend mit Euch einläuten!« Die vier Frauen hoben jubelnd ihre Gläser und stiessen darauf an. Während Elisabeth schilderte, wie sie ihren Job gekündigt hatte und aufgrund der zahlreichen Überstunden, die Kündigungsfrist zu Hause absitzen konnte, schlemmten sie weiter: »Ihr habt vielleicht gemerkt, dass ich plötzlich total geistesabwesend war, als wir von unserem diesjährigen Wellnesstrip nach Hause gekommen sind«, räusperte sie sich plötzlich. Ihr schossen die Tränen in die Augen. Mathea, die bis jetzt als einzige wusste, was es mit diesem Nachtessen auf sich hatte, klopfte ihr fürsorglich auf die Schulter. »Tut mir leid, ich kann das nicht!«, stürzte Elisabeth in den strömenden Regen hinaus. Mathea rannte ihr hinterher, um einen Regenschirm über ihr aufzuspannen. »Hör mal, du kannst doch nicht bei diesem Mistwetter draussen rumrennen, du wirst doch klitschnass. Du musst dies nicht machen, wenn du nicht willst. Das ist zweifellos das Mutigste, was ein Mensch tun kann. Aber ich habe dir von Anfang an geraten, dich nicht selbst unter Druck zu setzen. Soll ich den anderen erzählen, was los ist?« - »Ich schäme mich so. Ausgerechnet ich bin völlig therapieresistent und verliere deshalb heute Abend noch meine besten Freunde.« Die beiden standen unter dem Vordach neben dem Vordereingang. Weil es ein warmer Sommerregen war, hatten sie die Tür vorhin offen gelassen. Mittlerweile blickten auch Kirsten und Jutta um die Ecke. »Feiern sieht aber anders aus, ihr Lieben«, meinte Jutta. »Sagst du es, oder soll ich es erzählen?«, versuchte Mathea ihr in die Augen zu sehen. Elisabeth die immer noch weinte, sah Mathea dankbar an und nickte. Die vier gingen wieder ins zukünftige geräumige Wohnzimmer und setzten ihr leckeres Picknickdinner fort. »Ich habe Euch vorletzten Sonntag angelogen und es tut mir leid», stiess Elisabeth hervor. »Ich war überfordert und hätte nie und nimmer damit gerechnet, dass meine Vergangenheit, die ich längst bewältigt zu haben glaubte, mich so unvermittelt einholt.« Alle sahen sie liebevoll an. »Es ist leider so, dass ich seit Jahren, ja seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr habe zu meiner Familie. Warum das so ist, weiss ich nicht und über die letzten Begegnungen und Interaktionen möchte ich auch gar nicht reden.« Kirsten unterdrückte den Wunsch, sich für die Lästerei über Elisabeths Schwester zu entschuldigen. »Gestern vor einer Woche, erfuhr ich von den Sozialbehörden, dass meine Eltern ins Pflegeheim gezogen. Schliesslich ist das Ganze ja nicht gratis und ich werde jetzt im Rahmen des sogenannten Elternunterhalts zur Kasse gebeten, wie viele andere auch. Wie ihr wisst, bin ich einen Tag später im Treppenhaus umgekippt und wurde für die restliche Woche krankgeschrieben. An diesem Tag bekam ich dann Besuch von zwei Damen vom Sozialamt, die mir unter anderem mitteilten, dass meine Schwester, die Ruth und ihr Mann vor anderthalb Jahren bei einem Verkehrsunfall in Russland gestorben seien. Wenn also keine Neffen und Nichten auftauchen, dann bin ich die Alleinerbin dieses wunderbaren Grundstücks. Trotzdem muss ich mich wohl noch einigen schmerzhaften Erinnerung aus meiner Vergangenheit stellen und diese erneut bewältigen.« Sie machte eine Pause und trank ihr Wasserglas leer. »Ich hoffe, dass ihr mir diese Lügen irgendwann verzeihen könnt.« Die Frauen versicherten ihr, dass sie sich darüber keine Gedanken machen müsse und das nichts selbstverständlicher sei. »Ich und die Kirsten plaudern manchmal einfach zu viel«, entschuldigte sich Jutta als erste und initiierte damit eine Gruppenumarmung.

      So gut wie das Wochenende war, so gut fing die neue Woche an: Die Handwerker trafen pünktlich auf dem Brandnerhof ein, verlegten neue Böden, strichen neue Wände und montierten brandneue wunderschöne Apparate, wie sie es nannten. Damit waren der moderne Kochherd, die Duschen, die Badewanne und natürlich die Toiletten gemeint. Elisabeth liess es sich nicht nehmen, jeden Mittag kurz vorbeizuschauen und ihnen allen einen selbstgebackenen Kuchen als Nachtisch zu bringen. Sie liebte es festzustellen, wie ihre eigene Flüchtlingsunterkunft mehr und mehr Gestalt annahm. Die Nachmittage verbrachte sie dann damit, bei der Caritas zu helfen, indem sie mithalf, die angekommenen Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Weil sie sich innert kürzester Zeit als sehr einfühlsame Charakterperle erwies und sich dementsprechend weiterbildete, durfte sie sich auch um besonders traumatisierte Menschen kümmern. Trotz des ganzen Elends, das sie mitbekam, hätte ihr Leben nicht erfüllter sein können!

      Schliesslich war es soweit: Die Handwerker hatten innert kürzester Zeit grossartige Umbau- und Renovierungsarbeit geleistet und verabschiedeten sich bei der rauschenden Dankeschönparty, die Elisabeth und ihre Freundinnen für sie schmissen. »So ein tolles Richtfest nach getarnter Arbeit hatten wir noch nie«, hatte sich der eine gutgebaute Hüne bedankt. Am nächsten Tag richtete sie dieses herrliche Haus gemeinsam mit ihren neuen Helferinnen ein. Kirsten war ganz baff, als sie das Endergebnis am darauffolgenden Montag als erste bewunderte: »Einfach genial, was du innert kürzester Zeit auf die Beine gestellt hast, Lis!« - »Oh, das war ich nicht alleine! Ich hatte die weltbesten und weltschnellsten Handwerker und noch meine beiden neuen Helferinnen, von denen ich dir erzählt habe. Die sind auch zur kreativen Hochform aufgelaufen!«, sprudelte es aus Elisabeth heraus. »Freut mich, dass es dir gefällt! Diese beiden Helferinnen werden uns bei dieser Mission auch begleiten. Es ist halt gar früh, für zwei so junge Mädels. Drum können wir uns jetzt noch einen Drink genehmigen.« Die Morgendämmerung brach über die idyllische Landschaft herein und malte ein kräftiges Morgenrot an den Horizont. Kirsten und Elisabeth gingen nach draussen und genossen diese himmlische Morgenruhe mit einem Glas Minze-Ingwer-Wasser. »Heute wird es bestimmt wieder brandheiss«, meinte Elisabeth, als sie der verwunderten Kirsten ein Wasserglas statt eine Kaffeetasse in die Hand drückte. »Das tut uns besser als Kaffee, der ohnehin nur ausschwemmt.« Schliesslich stiessen auch Elisabeths Helferinnen