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dir zu Hause damals, Lis, als wir die Dorfschule hinter uns liessen«, strahlte Mathea, während sie ihr Handy herumreichte. Sie und ihre drei besten Freundinnen liessen gerade ihre alljährliche Wellnesswoche bei einem Nachtessen in einem der leckersten Restaurants der Stadt ausklingen und warteten auf die Rechnung. Die Ladies waren entzückt: Victors Profilbild war zur Zeit ein tosender Wasserfall, hinter dem man über eine Eisenbrücke von einem Felsenende zum anderen gehen kann! Dann folgte der besagte, aktuellste Post: Ein sanfter üppig grüner Hügel, mit einem unverkennbaren geheimnisvollen, hölzernen Bauernhaus darauf, das auf Anhieb mehr wie eine Hexenvilla anmutet. Daneben der dichte dunkelgrüne Tannenwald, der die Idylle wie ein Schutzwall abgrenzt. Darunter ein heller Kiesweg, auf dem es sich wunderbar walken und joggen lässt. »Schön, dass auch Victor mit seinen Freunden in der Natur auftanken kann«, antwortete Elisabeth mit einem gequälten Lächeln: Denn so wunderschön diese Naturbilder waren, so entsetzlich waren die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, die sie hervorriefen. Sie versuchte verzweifelt, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich der Sohnemann ihrer besten Freundin in einer Gegend vergnügt, die sie einfach nur hinter sich lassen und vergessen wollte. »Ist alles okay, Lis? Das ist doch der Hof deiner Eltern?!« Kirsten sah sie mit ihren treuen braunen Rehaugen fürsorglich von der Seite an. »Jetzt wo du's sagst erkenne ich ihn auch wieder«, stiess Elisabeth hervor. »Es ist halt gar lange her, seit wir diese Party geschmissen hatten. Bevor wir in die Stadt zogen, um zu studieren, musste ich den Sommer lang bei der Heuernte helfen, und zwar sieben Tage die Woche.« - »Wieso hast du das uns nicht erzählt, Mensch«, bedauerte Mathea ihre Freundin »wir hätten dir bestimmt alle geholfen.« - »Vielleicht hätten uns meine Eltern gleich alle auf dem Feld abgeholt, damit wir im Sonntagsgottesdienst wenigstens etwas hätten schlafen können«, lachte Jutta, wobei sich ihr kugelrundes Gesicht vor Wonne rötete. »Wann bist du das letzte Mal an diesem schönen Ort gewesen?«, wollte Kirsten wissen. »Das ist leider bereits einige Wochen her, seit ich es mal wieder zu ihnen schaffte.« Elisabeth machte eine Pause und schien zu überlegen. »Es ist auch nicht wirklich einfach, seine Familienangehörigen regelmässig zu sehen, bei unseren Monsterpensen als Chirurginnen.« - »Kommen die beiden noch gut alleine zurecht in diesem grossen Haus?«, bohrte Jutta als erste weiter. »Als wir sie damals vor ewig langer Zeit an unserer weitherum bekannten Schulabschlussparty das einzige Mal sahen, machten sie mir einen sehr zähen, bodenständigen Eindruck«, plauderte Mathea weiter. »Sie kam gar nicht aus dem Schwärmen über ihren Alltag als Bauernfrau heraus.« - »Da hast du allerdings Recht. Ohne ihre Zähigkeit hätten sie die ganze Arbeit nicht stemmen können. Das hat den Vorteil, dass sie in ihrem hohen Alter noch geistig und körperlich fit genug sind, um dort alleine leben zu können. Die Leiterin des örtlichen Hauspflegedienstes erzählte mir neulich, wie sie und ihre Mitarbeiterinnen jede Woche mit einem leckeren Stück Kuchen empfangen werden, wenn sie den beiden die Wocheneinkäufe bringen, um nach ihnen zu schauen.« Mathea runzelte die Stirn: »Wollte diese Aufgabe nicht deine jüngere Schwester übernehmen? Die lebt doch seit Ewigkeiten in derselben Gemeinde und arbeitet halbtags?« - »Doch, das hat sie eine Zeit lang bestimmt grossartig gemacht«, lächelte Elisabeth zerknirscht, »aber sie soll sich dermassen daneben aufgeführt haben, dass sie von ihrem Robert rausgeschmissen wurde. So jedenfalls erzählte es mir ihre Nachbarin, als ich sie das letzte Mal besuchen wollte und sie nicht da war.« Kirsten lachte auf: »Ich werde nie vergessen, wie wir alle vier irgendwann vor unserer Abschlussparty mal bei dir übernachteten, Lis: Sie meinte doch tatsächlich, sie könne sich ein Laken über den Körper werfen, einen auf Gespenst machen, und uns damit erschrecken.« Jutta lief der Sekt vor Lachen zur Nase raus: »Oh ja, das war was: Wir waren mucksmäuschenstill und sahen ihr oben vom Heuboden aus zu, wie sie durch den Stall geisterte und dabei über ihren Umhang stolperte.....« - »....und als sie sich dann doch noch dazu durchgerungen hatte, hoch auf den Heuboden zu kommen, schrie ich dermassen laut Buh, dass sie vor Schreck die Laterne fallen liess«, vervollständigte Kirsten den witzigen Part der Erzählung. »Weil ich in dieser Nacht mit sowas rechnete, ergriff ich sofort den Feuerlöscher und behob die drohende Katastrophe«, lächelte Elisabeth. »Unsere Eltern wurden so sauer, dass sie unser Ruthchen einen Monat lang jeden Abend das Geschirr alleine spülen und abtrocknen liessen. Anstatt den Fehler einzusehen und den Geschirrberg schnellstmöglich abzutragen, heulte sie jeweils erst mal eine Stunde lang rum«, schloss sie. »Wenn sie sich bei ihrem Robert, auch so aufgeführt hat, wundert es einen nicht, dass diesem der Geduldsfaden riss«, lästerte Kirsten weiter. Elisabeth lächelte schadenfroh. »Das ist nicht alles, was ich von meinem Schwesterlein erfahren habe: Denn dieselbe Nachbarin erzählte mir noch, dass sie daraufhin ans andere Ende des Landes ziehen wollte. Sie habe das alleinige Sorgerecht für ihre extrem schwierige Tochter und werde diese zur Adoption freigeben. Und dass obwohl das Mädchen bereits dreizehn Jahre alt ist.« - »Soso«, lästerte Kirsten »hat sie sich dort etwa den nächsten anlachen und vor der Pubertät ihrer Tochter davonlaufen wollen?«, schloss sie lachend, während der Kellner einkassierte und sie sich auf den Heimweg machten.

       Elisabeth liefen die Tränen runter, als sie die paar Meter alleine nach Hause ging: Obwohl es nun so ungefähr neun Jahre her war, seit sie das letzte Mal etwas von ihrer Herkunftsfamilie hörte, schmerzte diese längst vergangene letzte Begegnung immer noch. Weil sie dieser jedoch keinen Raum geben wollte in ihrem gegenwärtigen Leben, wusste sie sich in diesem Augenblick nicht anders zu helfen, als schadenfrohe Lügengeschichten aufzutischen. »Es ist nicht nötig, dass ich meine Freunde oder sonst jemanden mit der für sie völlig irrelevanten Wahrheit belaste«, rechtfertigte sie sich vor sich selbst. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass es nun über zwanzig Jahre her ist, seit sie ihre einzige Schwester das letzte Mal sah. An diesem Tag war sie auf den Bauernhof gefahren und hatte für diesen besonderen Besuch sogar eine Schwarzwäldertorte besorgt. Der Zufall hatte es so gewollt, dass ihre Schwester auch da gewesen war und tränenüberströmt erzählt hatte, dass sie einfach nicht schwanger würde. Noch bevor sie ihrer Familie voller Stolz erzählt hatte, dass sie nun approbierte Ärztin sei und ihr die Arbeit als frischgebackene Assistenzärztin in der Chirurgie sehr viel Spass bereitete, hatte sie ihre Schwester deshalb zu trösten und aufzumuntern versucht. Darum hatte sie keine Ahnung, ob irgendwo auf dieser Welt Nichten oder Neffen von ihr sind, die ihr vielleicht sogar ähnelten.

      Inzwischen hatte Leonie ihrer Familie von diesem unvergesslichen Outdoortrip vorgeschwärmt. Ihr kleiner Cousin Svennie und seine jüngere Schwester Chantal kriegten den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Sogar Tante Elisabeth nickte dieses Mal anerkennend und verzichtete an diesem Abend auf ihre Mithilfe im Haushalt. So überglücklich wie sie an diesem Abend ins Bett fiel, so hundeelend fühlte sich ihr Körper plötzlich an. Die Rückenschmerzen, die sie aufs falsche Mobilisieren von Frau Brandner zurückführte, wurden so schlimm, dass sie sich entschied, eine Dafalgantablette einzuschmeissen. Schweissgebadet taumelte sie ins Bad. Dabei war ihr so schwindelig, dass sie sich unterwegs hinsetzen und eine Pause einlegen musste. »Kann man dir helfen, Leonie?«, beugte sich Onkel Richard zu ihr runter. Weil sie vor Übelkeit und Schmerzen nur stöhnen konnte, blieb sie auf dem Boden sitzen und wartete, bis er mit einem Glas Wasser und einer Dafalgantablette zurückkam. »Gut, dass ihr diesen Outdoortrip nicht kurz vor Unibeginn geplant habt, was?«, strich er seiner Nichte übers Haar und stütze sie auf dem Weg zurück ins Bett, nachdem diese ihre Tablette geschluckt hatte.

      In derselben Nacht zogen noch zwei weitere Abenteurerinnen eine ihrer Gerechtigkeitsaktionen durch: Tina hätte am liebsten gekreischt vor Vergnügen, als Tati das Türschloss wie ein Profi aufbrach. »Siehst du, allerspätestens jetzt hat sich deine Schlosserlehre doch noch gelohnt«, klopfte sie ihrer Freundin anerkennend auf die Schulter. »Zu meinem perfekten Glück müssen sie jetzt nur noch lange genug ausgeschwärmt sein, los, los, los, bevor uns doch noch jemand sieht«, schob Tati sie ins Büro des mobilen Pflegedienstes Bestcare. Dieses Büro ist so übersichtlich strukturiert und tadellos aufgeräumt, damit sich neue Mitarbeiter schnellstmöglich zurechtfinden. Deshalb fanden auch Tati und Tina innert weniger Minuten, wonach sie suchten: Während Tina allerhand Personal- und Patientendaten auf ihren Memorystick lud, behielt Tati den Eingangsbereich im Auge. »Ist die Luft noch rein?«, flüsterte Tina, während sie den PC wieder runterfuhr. Tati gab grünes Licht und sie plünderte die Kaffeekasse. »Schon irgendwie blöd, wenn man Opfer wird vom eigenen positiven Menschenbild, was«, lächelte sie, als sie auf ihren Fahrrädern davonbrausten.

      Zu Hause angekommen, setzten sie sich vor ihren Laptop und begannen, ihre Beute gleich auszuwerten. »Bist