und alle stürzten sich auf den ihn. Doch Jussuf' s Freunde schafften es, ihn wegzuzerren und die prügelnde Meute solange zurückzudrängen, bis er fliehen konnte.
Mitten in der Nacht klingelte Tinas Handy. Ohne der Tati etwas zu erklären, hörte sie zu, legte auf und rannte an die Hotelrezeption. Sie nahm sich nicht mal mehr Zeit, sich etwas überzuziehen und überredete die Empfangsdame, ihren Lover vor, der blutüberströmt und völlig erschöpft vor der Glastür stand, hereinzulassen. Zu ihrer Überraschung standen die anderen drei bereits angezogen und mit gepackten Koffern da, als sie mit Jussuf ins Zimmer zurückkam. Dann ging alles ganz schnell: Während sich auch Tina anzog und ihren Koffer ergriff, checkte Elisabeth ob er sich irgendwelche gefährlichen Verletzungen zugezogen hatte. Sie nickte in die Runde, die fünf stürzten zum Hotel hinaus auf den Parkplatz, setzten sich in ihre Autos und brausten los. Bis sie sich durch den nächtlichen Verkehr aus der Stadt gekämpft und auf der Autobahn angelangt waren, sagte keiner von ihnen ein Wort. Dann rief Kirsten, die sich gemeinsam mit Tati im Audi hinter ihnen dreien befand an, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wie immer in solchen Situationen, stellte Elisabeth das Handy auf laut. Obwohl Jussuf noch kein Wort Deutsch verstand, erfasste er sofort, dass die Rede nur von Halim sein konnte. Er bat Elisabeth, auf keinen Fall anzuhalten oder umzukehren und einfach weiterzufahren. Dann deutete er Tina, ihm das Handy zu reichen, damit er alles erzählen könne. Diesem Hamid Hemidi sei er in Damaskus das erste Mal begegnet. Wie viele andere seiner Landsleute in Syrien, habe auch er sich gegen die Regierung aufgelehnt und demonstriert. Weil er nicht nur jammern und träumen, sondern auch etwas habe bewegen wollen, habe er sich gemeinsam mit seinen Freunden den oppositionellen Sunniten angeschlossen. Doch eines Nachts sei er von den regimetreuen Assad-Milizen, den sogenannten Schabiha, entführt und monatelang mit Elektroschocks gefoltert worden. Bevor er weitererzählte, liess er das Fenster runter und spuckte auf die Strasse. Diese Schabiha-Miliz hätte das Assad-Regime systematisch dabei unterstützt, den Hass auf die sunnitischen Muslime zu schüren- und dass obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung seien. Und dieser Hamid Hemid sei nicht nur irgendein Schabiha-Soldat, sondern auch sein ganz persönlicher Folterknecht gewesen. Er habe sich geschworen, dass er diesen eigenhändig umbringen werde, sollte er ihm jemals wieder begegnen.
Plötzlich fasste sich Elisabeth an die Brust und liess die Scheibe runter, um sich zu übergeben. Noch bevor Tina ins Steuer fassen und dieses rumreissen konnte, geriet ihr grauer Audi auf die Gegenfahrbahn und knallte mit voller Wucht in einen Lastwagen hinein. Der LKW-Fahrer sprang sofort aus der Fahrerkabine um zu helfen. Tati und Kirsten taten es ihm gleich. Doch bevor sie eine Scheibe einschlagen konnten, wurden sie von der Tankexplosion zu Boden geschleudert. So mussten sie hilflos mit miterleben, wie ihre Freunde mitsamt dem Auto bei lebendigem Leib verbrannten.
Nachdem auch Leonie von dieser Tragödie erfahren und den Breuers den ersten Trost gespendet hatte, wurde ihr erst richtig bewusst, dass das Leben mit einem Schlag zu Ende gehen kann. Diese Erkenntnis machte ihr Angst, denn bis jetzt hatte sie geglaubt, dass solche Schicksalsschläge nur diejenigen treffen, die sie verdienen. »Es gibt offenbar höhere Mächte, die einem daran erinnern, nicht das letzte Wort zu haben auf dieser Welt«, hatte sie ein paar Stunden zuvor geweint. Trotz allem wurde es Nacht und sie lag schlaflos im Bett. Sie griff nach ihrem Handy und begann über ihre derzeitigen Beschwerden zu recherchieren. Zuerst konnte sie gar nicht weinen, als ihr bewusst wurde, dass sie sowohl an einer ganz normalen, immer wiederkehrenden Grippe, als auch an Leukämie erkrankt sein könnte. Erst als sie diese Infos mehrmals durchgelesen hatte, wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt. Weil sie sich während der Pubertät angewohnt hatte, jeweils leise zu weinen, bekam dies bei ihr zu Hause niemand mit. Ausserdem war sie der Meinung, dass ihre Todesängste das Letzte waren, was ihre besten Freunde jetzt gebrauchen konnten. Deshalb fasste sie den Entschluss, niemanden anzurufen. Sie wollte dieser Sache so wenig Raum wie möglich geben und schwor sich, schon mal nach einem geeigneten Knochenmarkspender zu suchen.
Die lähmende Traurigkeit, die grenzenlose Ohnmacht und der ganze zusätzliche Organisations- und Administrationsaufwand, der ein Todesfall so mit sich bringt, drohte Mathea, Jutta und Kirsten aus der Bahn zu werfen: Um dies zu verhindern, bat Mathea' s Mann Marc seinen Vorgesetzten, einen Teil seiner Überstunden kompensieren zu dürfen. Wie durch ein Wunder konnte er sich während einer Woche um seine Frau und deren Freundinnen kümmern, worauf sie wieder in den Alltag zurück fanden.
Wenn es ihre vollen Terminkalender zugelassen hätten, wären sie mit derselben Power an die Realisierung vom Zufluchtsoasenprojekt gegangen. Glücklicherweise erhielten die drei Freundinnen prompte Unterstützung: Victor, Mathea' s Sohn hatte sich in den Kopf gesetzt, gemeinsam mit seinen Freunden, Fluchthilfe zu leisten, bevor deren Sommerferien vorbei waren und für sie der Unialltag wieder losging. Und so liehen sich Victor, Cem und Leonie je ein Auto und machten sich über die selbe Route auf, zum Stazione Centrale in Mailand und liessen sich ihren letzten gemeinsamen Abend durch den Kopf gehen:
Bevor sie losfuhren, um dieses Vorhaben mit allen Konsequenzen durchzuziehen, hatten sie sich noch zu einer ausführlichen Besprechung auf das friedliche leere Zufluchtsoasengelände zurückgezogen: Sie waren sich schnell einig, was sie aus Tante Lis' s Konzept übernehmen wollten. »Die Idee, einen Umschlag mit der Aufschrift ˃Money to pay the Checkoutbill˂ zu versehen, darin das Bargeld für die Checkoutrechnung zu verstauen und aufs Kopfkissen zu legen, wenn man überraschend abhauen muss, finde ich super«, meinte Leonie. »Der Auswahlwettbewerb finde ich dagegen von diskriminierend bis verhältnisblödsinnig«, schloss sie. »Es macht keinen Sinn, mehr als allerhöchstens sechs Personen hier unterzubringen«, warf Victor ein: »Der Kapitalismus ist schuld daran, dass wir nur sechs angenehme Schlafplätze anbieten können- nicht wir. Darum ist es einmal mehr das System, das andere diskriminiert-nicht wir», schloss er. »Jede Zivilisationsgesellschaft braucht ein System. Tragisch ist nur, dass der Menschheit noch immer nicht gelungen ist, ein solches gerechtes System zu entwickeln. Trotzdem haben wir die Pflicht, diese Menschen in unsere Zivilgesellschaft zu integrieren, und zwar möglichst schnell«, sinnierte Cem. »Wie würdet ihr beide eigentlich Zivilgesellschaft definieren?«, wollte Leonie wissen. »Unter einer Zivilgesellschaft verstehe ich eine heterogene oder homogene Menschengruppe, die sich im Bezug auf das tagtägliche Miteinander und Nebeneinander auf ein allgemein gültiges und immerwährendes Rechtsystem geeinigt hat und daraus ihre rechtsstaatlichen Organe daraus ableitet«, strahlte Cem wie aus dem Maschinengewehr geschossen. »Wow, du hast dir echt Gedanken darüber gemacht«, staunte Victor. »Ein Jusstudent hätte es nicht schöner sagen können. Dem kann man, beziehungsweise frau, sich deiner Definition ausschliesslich anschliessen.« Cems Augen leuchteten vor Begeisterung. »Ja, ich habe mir tatsächlich das Gehirn zermartert: Ich habe nämlich noch zwei Vorschläge: Erstens müssen wir immer noch dafür sorgen, dass die Nazischweine nie wieder Einfluss gewinnen....« - »Ich wüsste nicht, wie das diesen halbstarken Vollidioten jemals wieder gelingen sollte. Ich meine, ich sehe jetzt gerade überhaupt keinen Zusammenhang zu unserer Sache hier«, unterbrach ihn Victor. »Diese Gefahr kommt folgendermassen zustande«, fuhr Cem fort: »Die Menschen kommen hierher und müssen sich mit einer brandneuen wildfremden Kultur und Sprache auseinandersetzen. Weil das ganze seine Zeit braucht, werden sie auf Unterstützung angewiesen sein. Wenn sie jedoch dermassen traumatisiert sind von der Flucht, dass sie damit überfordert sind, könnten sie ausrasten und unerlaubte Dinge tun: Und jede Straftat ist Wasser auf die Mühle von Neonazis, da sind wir uns doch hoffentlich einig....« - »Wie willst du das ändern?«, lachte Victor. Cem nahm eine Münze in die Hand. »Erstens sollten wir Leute einer Religion aufnehmen. Wenn ich diese Münze aufwerfe und sie mit dem Kopf zum Himmel auf den Tisch fällt, dann nehmen wir Christen auf. Andernfalls nehmen wir Muslime auf. So haben wir die Entscheidung dem Zufall überlassen.«
Schliesslich kamen die drei an, checkten für eine Nacht im selben Hotel wie ihre »Vorgängerinnen« ein und mischten sich am nächsten Tag in aller Früh unter die Flüchtlinge. Sie redeten nicht lange um den hiessen Brei und sprachen den erstbesten jungen Typen, den sie allerhöchstens in ihrem Alter schätzten, an. Dann erteilten sie diesem Mehmet den Auftrag, zwei weitere Männer und drei weitere Frauen in seinem Alter auszusuchen, die mit ihnen weiter nach Norden flüchten sollten. »Damit ihr in eurer neuen Heimat möglichst schnell glücklich werdet, habe ich euch bereits den ersten Vertrag mitgebracht«, drückte ihm Cem einen dünnen Stapel Papier und eine Hand voll Kugelschreiber in die Hand. »Auf diesen Blättern hier sind die wichtigsten Infos für