dass sich jeder seinen Luxus, wie Häuser, Autos und sowas, selber erarbeiten muss und dass es ein Riesenglück ist, einen Schlafplatz inkl. Bewerbungskurs und Essen in unserer Zufluchtsoase zu kriegen«, warf Tina ein. »Ausserdem zeigt dieser Auswahlwettbewerb auch, welche Chancen jemand auf dem Arbeitsmarkt hat.« Kirsten liess nicht locker und hinterfragte weiter: »Vielleicht habe mich falsch oder zu kompliziert ausgedrückt: Ich meine es kann ja wohl nicht sein, dass man den Flüchtlingen anstelle eines eigenen Zimmers einen Schlafplatz anbietet und dies zusammen mit einem Bewerbungskurs, einem Deutschkurs und drei täglichen Mahlzeiten als Gewinn verkauft! Ich will damit sagen, dass ein Wettbewerbspreis eine Sache ist, die sich von unserem Lebensstandard positiv abheben muss. Dass wir uns heute offenbar nicht mehr einig werden, tut mir echt leid.« - »Hast du jetzt ausgeredet, Kirsten?«, baute sich Tina vor ihr auf. Diese verschränkte die Arme vor der Brust und nickte entnervt. Elisabeth stand einfach nur lächelnd daneben und sagte nichts. »Dieser Selektionswettbewerb war die Idee von mir und Tati. Du musst wissen, wir beide hatten zu Hause nie ein eigenes Zimmer! Der Zufall wollte es so, dass wir beide mit je einer Schwester und unseren teilweise hart schuftenden Eltern grossgeworden sind. Wir hätten als Jugendliche alles gegeben für einen Schlafplatz inkl. Bewerbungs- und Fremdsprachenkurs und drei ausgewogene Mahlzeiten am Tag in einem völlig fremden Land! Stattdessen mussten wir unter anderem unser Essen selber zusammenklauen, als unsere Eltern zu saufen begannen und den Drogen verfielen.« Tati schaute ihre Freundin verblüfft an: Mit dieser Ansage hatte sie ihre beiden Schicksale treffend auf den Punkt gebracht. »Wie geht's nun weiter? Falls wir hinschmeissen und nach Hause fahren will ich einfach zuerst ein paar Stunden schlafen, irgendwo tanken und was essen«, blickte Tina fragend in die Runde. Diesmal versuchte ausgerechnet die sonst so forsche Tati, die Wogen zu glätten: »Ich mache Euch folgenden Vorschlag, Ladies: Wir fahren jetzt zu unserem Hotel, checken dort ein, gönnen uns ein typisches mailändisches Nachtessen und gehen schlafen.« Sie fuhr sich dabei mit der Zunge so witzig über den Mund, dass alle auflachten und sich die aggressive Spannung in Luft auflöste. Wortlos stieg Kirsten wieder in den Audi ein und fing an zu weinen, als sich Elisabeth ans Steuer setzte und das Abenteuer weiterging.
»Vielleicht sollten wir den Auswahlwettbewerb einfach in den fahrenden Zügen durchführen«, überlegte Tina am nächsten Morgen beim Frühstück. »Hast du 'nen Knall? Da rafft doch jeder, dass wir eine illegale Aktion durchziehen.«, Elisabeth und Kirsten tauschten einen amüsierten Blick. Inzwischen kannten sie den liebevollen schwesterlichen Umgangston, den Tati und Tina miteinander hatten. »Und überhaupt: Wenn wir ständig die Strategie ändern, bringt mich das total aus dem Konzept. Lasst es uns doch so versuchen, wie wir es gestern zuletzt besprochen haben und erst dann das nächste ausprobieren«, schloss Tati. So machten sich die vier auf zum Hauptbahnhof. Trotz der Sommerhitze an diesem strahlenden Sommertag, spielten tatsächlich einige junge Typen Fussball vor der Stazione Centrale! Anstatt sich jegliche Hoffnung nehmen zu lassen, hatten sie ein Stück Asphaltfläche in Beschlag genommen und zu ihrem eigenen pflasternen Fussballfeld umfunktioniert. »Na? Ich glaube wir haben eine Open-Air-Location gefunden, in der wir unseren Auswahlwettbewerb von der Verteilung der Umschläge bis zur Rangverkündigung durchführen können, was?«, strahlte Tati. Die Lebensfreude, die diese fussballspielenden Typen in dieses asphaltierte Niemandsland brachten, mutete beim Anblick des ganzen Flüchtlingselends, geradezu mystisch an. Die vier hatten sich am Abend zuvor entschlossen, sich diese Stazione Centrale zuerst anzuschauen, um dann die Vorgehensweise gegebenenfalls anzupassen. »Du hattest Recht, mit dem was du gestern sagtest«, wandte sich Elisabeth an Kirsten. Das Elend dieser gestrandeten Menschen, liess sie ernsthaft an ihrem Auswahlwettbewerb zweifeln. »Bleibt mal bitte kurz alle stehen.« Etwas überrascht wandten sich die drei ihrer Chefin zu. »Lasst uns diese Umschläge einfach aufreissen, die Getreideriegel verteilen und wieder gehen«, meinte sie mit Tränen in den Augen. »Kirsten hatte Recht, mit dem was sie sagte. Bestimmte Leute auszusuchen und alle anderen zurückzulassen war eine gutgemeinte, aber strohdumme Idee von mir.« Sie drückte die Einkaufstasche mit den Umschlägen drin Tati in die Hand und rannte davon. Die anderen drei blickten sich sprachlos an und folgten ihr mit langsamen Schritten. Unzählige Menschen waren angekommen und warteten, bis ihre Reise in ein besseres Leben weiterging: Wer nicht gerade mit Fussballspielen abgelenkt war, sass einfach nur da und starrte ins Leere. Sie sahen Menschen, die ihre wenigen Kleidungsstücke am Brunnen wuschen, wo andere ihre Zähne putzten. Andere wiederum legten sich in den Schatten der Bäume und schienen ihre Zukunft regelrecht zu visualisieren. »Was haltet ihr davon, wenn wir die Getreideriegel schon mal verteilen?« unterbrach Tati die Stille unter ihnen. »Eines nach dem anderen«, bremste Kirsten. »Zuerst müssen wir rausfinden, was mit unserer Chefin los ist: Entweder hat sie sich etwas eingefangen und sitzt auf dem Klo, oder sie ist mit diesem Elend hier völlig überfordert«, klärte sie auf. »Ich kenne sie schon seit über zwanzig Jahren und weiss, wie nah ihr das Leid von anderen geht- manchmal eben zu nah.« Die drei setzten sich unter einen der Bäume zu einer jungen Mutter mit einem Baby auf dem Arm, das sie offenbar zu stillen versuchte. Sein älterer Bruder war allerhöchstens zwei Jahre alt und spielte mit einer leeren Chipstüte. Irgendwann wurde ihm das zu langweilig und er blickte in ihre Richtung. Entzückt stellte Tina fest, dass sie noch ein Bonbon in ihrer Hosentasche hatte und reichte es dem kleinen Strahlemann, der sich dieses gleich mitsamt dem Papier ins Mäulchen stopfte. Seine aufmerksame Mama bedankte sich lächelnd, nahm es ihm aus dem Mund und bevor er zu weinen beginnen konnte, hatte sie es ihm ausgepackt und wieder gegeben. Das Baby auf ihrem Arm schien währenddessen friedlich zu schlummern. Dies war nebst den Fussballspielern, die sich vielleicht eine Zukunft als Profifussballer ausmalten, bis dahin das einzig tröstliche, hoffnungsvolle Szenario. »Das wäre jetzt die optimale Auflockerung für unsere Elisabethchefin gewesen«, schoss es Tina durch den Kopf. Sie genoss die herrliche Aussicht aufs Fussballspiel, während die drei auf ihre Chefin warteten. Endlich klingelte Kirstens Handy, das sie sofort auf laut stellte. »Hallo du, ich bin's. Es ist nicht so, wie es aussieht«, hörte man Elisabeth am anderen Ende. »Mir ist vorhin speiübel geworden und ich musste deshalb ganz schnell aufs nächste Bahnhofsklo rennen. Ich bin bereits wieder auf dem Weg zu Euch: Mit jeder Menge Eisportionen und Wasserflaschen. Das kommt zusammen mit den Getreideriegeln bestimmt ganz gut an.« Sie ging ihrem Zufluchtsoasenteam entgegen und legte im selben Moment auf, als sie wieder dazu stiess. »Bevor wir weitermachen, hätte ich noch einen Vorschlag«, alle sechs Augen waren auf Tina gerichtet. »Lasst uns unsere Mission Stück für Stück durchziehen: Ich meine, lasst uns doch zuerst die Wasserflaschen und die Eisportionen verteilen und erst in einem zweiten Schritt, die Zufluchtsoasen-WG zusammenstellen. Wie, werde ich euch noch verraten.« Dagegen hatte niemand was einzuwenden. Sie teilten sich in alle vier Himmelsrichtungen auf, ohne einander aus ihrer Sichtweite zu verlieren und strömten aus. Es dauerte nicht lange, bis sich um jede von ihnen eine Menschentraube bildete und sie mit leeren Händen dastanden. Tina, Elisabeth und Kirsten liessen es sich natürlich nicht nehmen, ein paar Worte mit den Beschenkten zu plaudern und deren Zukunftspläne heraus zu spüren. Tati gelang es sich mit Händen und Füssen zu verständigen. Insgeheim war sie erstaunt, dass die herbeigeeilten Fussballer gelassen reagierten, weil sie nichts von der verteilten Ware abbekamen. Tina beobachtete währenddessen als einzige, wie sich eine weitere Gruppe neben das pflasterne Fussballfeld stellte und darauf wartete, auch mal spielen zu dürfen. Sie war so von der herrlichen Aussicht eingenommen, dass sie ihrer plaudernden Freundin gar nicht zuhörte. Dabei kam ihr es so vor, als hätten sich der Anführer der dominierenden Spielmannschaft und der Anführer der wartenden Gruppe einen hasserfüllten, vernichtenden Blick zugeworfen. »Dies angehenden Fussballprofis rechnen damit, dass sie bei der nächsten Verteilrunde berücksichtigt werden«, meinte Tina, die ihre eigenen Worte vor lauter Herzklopfen kaum hörte. »Du bist ganz schön blass, Kleine. Komm, wir gehen in den Schatten mit dir.« - »Wäre es nicht besser, wenn du und Tina für heute Feierabend macht und zurück ins Hotelzimmer geht?«, meinte Kirsten, als sie mit Elisabeth dazukam. Diese lächelte: »Nehmt es mir nicht übel. Aber ich habe panische Angst, dass die Fussballer, die bis jetzt nichts abgekriegt haben, sauer werden. Sie sehen uns schliesslich nicht an, ob wir im Auftrag einer unfähigen Regierung da sind oder als Privathelferinnen, die es ehrlich und gut mit ihnen meinen.« Ihre ursprüngliche Gesichtsfarbe kehrte wieder in Tinas Gesicht zurück, nachdem sie ihren Durst mit einer halben Flasche Wasser runtergespült hatte. »Es ist schon tragisch, wie hilflos man diesem Elend trotz tagelanger Vorbereitung gegenübersteht«, dachte sie bei sich, während sie weiterdiskutierten, wie ihre Mission nun weitergehen sollte. Deshalb