Freitagabend vor der Berufsschulwoche freute ich mich darauf, dachte jedes Mal auf dem Heimweg… »So! Geschafft! Jetzt könnt ihr mich erst mal eine Woche lang nicht mehr trietzen. Höhöhö!… Sauhaufen! Am Arsch lecken könnt ihr mich!… Höhö!«
Das frühe Aufstehen machte mir plötzlich nichts mehr aus. Es fiel mir sogar leichter, mich aus dem Bett zu werfen, mich fertig zu machen und mich in die kühle, junge Luft des neuen Tages zu begeben. Ich nahm mir wieder Zeit zum Duschen, verbrachte das Frühstück in Ruhe und zog mich mit Sorgfalt und Gemach an und die Spuren des Schlafes beseitigte ich wie ein Mensch, wissend, dass ich in den befleckten Aufzug der Unterdrückten, gleich den Kleidern von Sklaven, die keine anderes Leinen besaßen, da sie ohnehin nur für die Bewältigung ihres täglichen, unsäglichen Dienst lebten, nicht sehr bald wieder einzusteigen hatte.
Gegen sieben Uhr verließ ich das Haus und begab mich zur Haltestelle, wo ich, auf den Bus wartend meine erste Zigarette rauchte. Man brauchte circa eine Stunde, einschließlich des Fußweges, zur im innersten Schlund der Stadt gelegenen Schule. An Jeder der vielen Haltestellen auf dem Weg stiegen mehr und mehr müde Gesichter zu… Schüler, Studierende, Arbeiter… All die Menschen, die das Leben und der Erwerb in den frühen Morgenstunden auf die kaugummiverklebten Bürgersteige spülten. All die immergleichen Gestalten, noch im Halbschlaf, deren erste bittere Melodie am Morgen das Klingeln des Weckers war. All die Namenlosen die gelangweilt dasaßen im überfüllten Bus. Das sonore Dröhnen des Dieselmotors ließ Hämmer und Ambosse und Steigbügel in ihren Gehörgängen, sofern sie nicht von Kopfhörern verstopft waren, taktlos aufeinander dengeln, bis sie ausstiegen und hastig an die Orte ihrer Pflichten eilten… Es baute richtig auf, mich eine ganze Woche lang zumindest nicht zu den Arbeitern zählen müssen… Und dann eines Tages, wenn sie alt geworden wären und sich geschafft hätten… Was würdem sie sagen? Wenn sie zurückblickten, würden dies bestimmt nicht die Momente sein, an die sie sich erinnern würden, nicht die Geschichten, die sie erzählen würden… Nein, es würden völlig andere, rar gesäte Augenblicke sein… Würde ich vielleicht einmal so wie sie werden?… War ich es nicht schon?… Stieg ich doch, genau wie sie alle, an meiner Haltestelle aus und verschwand zwischen den Häuserzeilen, auf den Schultern den Rucksack mit meinen Büchern.
In den Parkbuchten, auf den Bürgersteigen vorm Schulgelände, hauptsächlich aber in der Auffahrt machte ich die Klassenkameraden aus, stellte mich nahe an den Rand ihrer Ansammlungen und rauchte die zweite Zigarette, bevor man in das Klassenzimmer ging… Dort blieb für den Rest des Tages… Für das, was man uns beibrachte, musste man nicht extra den Raum wechseln. Man hatte seine Arbeitshefte und die Sachbücher, die als Nachschlagewerk dienten, mit allerlei Fachtheorie und obendrein jeder Menge ergänzender Aufgaben… Aufgaben, die man nie löste. Zeit war knapp und dennoch wurde oft nahezu verschwenderisch damit umgegangen. Fing der Unterricht endlich einmal an, blieb gerade einmal die Zeit ein paar Aufgaben im Arbeitsheft zu lösen, die sich an den gängigen Lernfeldern orientierten… Im Laufe der Ausbildung vierzehn Lernfelder… Mit Aufgaben lösen war nicht gemeint, dass man sich die Antworten auf die vielen Fragen hätte selber erarbeiten müssen. Nein! Der gängige Habitus gestaltete sich folgendermaßen… Der jeweilige Fachpauker projizierte die Lösungen für die Aufgaben mittels Overhead-Projektor an die Wand, einige davon ließen sich kurz und zügig besprechen, bevor die Lösungen aufgedeckt wurden… Je nachdem, wie gnädig die Uhr gegenüber der Schülerschaft war… Dann hieß es Augen auf und abgeschrieben… Und vielleicht nie wieder draufgeschaut… Man könnte sagen, es ging recht locker zu. Wesentlich lockerer als ich es von der Gesamtschule gewohnt war. Doch wer nicht hinterherkam, oder nicht hinterherkommen wollte, der hatte gelitten. Man erwartete jetzt von uns, dass wir plötzlich erwachsen genug waren, uns selbst um unser Wohl zu kümmern. Nicht alle waren so weit, mit dieser Freiheit umzugehen, und blieben auf der Strecke. Einige verließen die Schule und verloren ihren Ausbildungsplatz. Andere brauchten wesentlich länger als nötig, um ihre Ausbildung, letztendlich auf einer halben Arschbacke abgesessen, zu bestehen. Man hätte aber nicht allen von ihnen Vorwürfe machen können.
Da war zum Beispiel einer, der stets dann zur Schule erschien, wenn der Akku seines Handys tiefentleert war und er das Stromnetz der Schule für sein Ladegerät benötigte… Etwa ein Mal in einer Blockwoche, wenn überhaupt, geschah das. Während sein Telefon an der Steckdose hing schlief er meistens, spielte auf einem seiner zahlreichen anderen Handys herum oder hing regungslos auf dem Stuhl, das Gesicht so schlaff und leer, dass daneben noch jedes ausgestopfte Tier quicklebendig wirkte… Seine Gelassenheit war fast zu beneiden, wäre sie nicht um den Preis des Hirntodes zustandegekommen… Nach vielen, stets nutzlosen und mit immer weniger Enthusiasmus vorgetragenen Ermahnungen flog er raus. Ich fragte mich was er wohl anfangen wollte?… Auf einem Baum leben und Ameisen fressen? Vielleicht würde er ja Versicherungsfachangestellter werden… Irgendeine Art Büroangestellter… Kassierer bei Aldi oder Lidl… Reinigungskraft… Oder Gemeindepolitiker.
Einige der Schüler waren schlicht überfordert. Sie schafften es nicht, hatten Zeit ihres Lebens nicht einmal gelernt wie man lernt. Da saßen Leute, die sich, um Sackhaaresbreite und mit mehr Glück als Verstand, zu ihrem Hauptschulabschluss durchgewrungen hatten. In der Werkstatt stießen diese Kandidaten in der Regel auf keine großen Schwierigkeiten… Jeder der die entsprechenden motorischen Fähigkeiten besaß, mit Werkzeug umzugehen und bei sich behalten konnte, wo welches Teil am Auto saß, vermochte es, alte gegen neue Teile zu tauschen… Doch wenn es darum ging, systematisch in einem vieladrig verstrickten System Fehlerquellen auszuschließen, oder ein elektrisches oder mechanisches Funktionsprinzip zu durchschauen, sah man sich die Spreu vom Weizen trennen… Die Mehrheit von ihnen schaltete dann ab, tat so, als wäre es scheißegal. Reparieren konnten sie ohnehin fast alles, sofern man ihnen sagte, was genau defekt war… Reparaturleitfäden konnte man überall finden… In den Archiven der Werkstätten… Im Netz… In der einschlägigen Literatur… Bei den Gesellen erfragt… Und so weiter.
Vereinzelt gab es noch ein paar arme Tropfe, die zwar begreifen wollten, es aber schlicht und ergreifend nicht konnten. Das war ihnen schrecklich peinlich und kränkte sie in ihrem Stolz. Der Lehrer frage sie aus, versuchte sie auf den Weg zu bringen, bemühte sich um Erklärung… Verzog das Gesicht… Nach einer Weile wendete er seine Blicke zur Uhr, selbst peinlich berührt… Nur selten blieb genug Zeit, es allen wirklich begreiflich zu machen und so gab sich der Lehrer spätestens dann zufrieden, wenn sie ihn aus Scham oder Desinteresse anlogen, indem sie behaupteten, begriffen zu haben.
Gedanklich widmete ich mich denen, die wollten, aber nicht konnten… Wie gingen sie wohl damit um, wie und wieso machten sie dennoch weiter? Erwachten sie jeden Morgen mit dem Gefühl, dass ihnen weniger Zeit gegeben war, reif zu werden, als nötig gewesen wäre?… Zerstreuung gab es zu genüge, aber es gab keinen Weg zurück. Also passte man sich an oder ließ es bleiben… Leicht gesagt… Was sollte man machen, wenn das Leben in Wirklichkeit kurz wäre? Und der Sand in der Uhr riesele von oben herunter und man würde davon begraben werden. Was sollte man machen, wenn der Tag einem zunächst vorkäme wie ein erigierter Pferdeschwanz… Lang und hart… Und man am Ende am liebsten nur noch der Ablenkung frönen wollte, sich ärgernd, dass der vermaledeite Gaul bald schon wieder geil darauf werden würde, einen mit Anlauf in den Arsch zu pöllern?… Man müsste von Rechtswegen lernen, versuchen mitzukommen, weiter zu kommen… Ständige Selbstverbesserung, um eines schönen Tages an Geld zu kommen… Na, klar… Was sollte man machen, wenn man unvorbereitet in die Welt geworfen worden wäre?… So unvorbereitet wie mir einige meiner Mitschüler vorkamen… Was hatten sie getrieben all die Jahre in der Schule? Was hatte unser Schulsystem so mit ihnen getrieben? Was hatten ihnen BGJs und BVBs und was nicht alles für berufsvorbereitende Maßnahmen gebracht, wenn sie doch ihren Beruf verfehlt, eine für ihre Qualifikationen unpassende Laufbahn eingeschlagen hatten? Waren sie am Ende den selben Wunschvorstellung hinterhergejagt wie ich?
Aber auch denen, die vorgaben, dass es ihnen scheißegal war… Irgendeine Richtung würden sie nehmen… Irgendeinen Weg würden sie gehen… Irgendwohin würden sie alle gehen.
Für den Augenblick, den ich auf den Versuch verwendete, sie zu erfassen… Ihre Motivationen… Die Leiden, die ich ihnen beimaß… Fühlte ich mich ihnen verbunden und war es aber doch nicht… Etwas stimmte nicht… Etwas war verdreht.
Wie empfanden sie den