Marianne Le Soleil Levant

Skyline Deluxe


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Er unterstützte die Illusion die Kontrolle behalten zu können. Sie wollte sich ihm hingeben. Das hatte sie vor. Wenn bis dahin alles gut ging. Also warum nicht ihren Namen preisgeben? Kindisch.

      In ihrer Aufregung sagte sie ihn auf die in Japan übliche Weise, den Familiennamen zuerst: „Kashiwa Chiyoko“, und vergaß die unab­dingbare zugehörige Anrede dahinter, aber davon wusste Tom natürlich nichts.

      Sofort erklärte sie berichtigend: „Chiyoko. Chiyoko ist mein Rufname.“

      Tom sah sie an. Er verspürte natürlich ihre Unsicherheit, die ihn sehr für sie einnahm. Sie war verletzlich. Sie zeigte es. Besser gesagt, konnte sie ihre Verletzlichkeit trotz ihrer guten Selbstbe­herrschung nicht verhehlen. Da wurde sie gleich viel menschlicher und wahrscheinlich regte sich auch sein Beschützerinstinkt gleich wieder. Er dachte an ihre Schenkel. Jedenfalls mochte sie ihn wirklich. Sonst wäre sie nicht verletzlich.

      Sogleich antwortete er aufrichtig: „Ein wunderhübscher Name. Ganz allerliebst. - Very lovely.“

      Sie lächelte ein 0,02 Millimeter Mundwinkellächeln. Sie war alles andere als beschwichtigt.

      „Bedeutet er etwas?“

      „Kind der 1000 Generationen oder auch Kind der Ewigkeit. Es sind zwei Silben: Ewigkeit und Kind“, antwortete sie abwesend.

      „Was ist?“, fragte Tom.

      „Ich wollte Namen eigentlich vermeiden.“

      „Aha, und warum? Spricht man sich nicht mit Namen an? Ich war schon ganz unsicher, ob ich nicht einen unverzeihlichen Fehler gemacht habe, mich so lange nicht vorzustellen. Obwohl, es war irgendwie keine Gelegenheit.“

      „Zugegeben ist das ein bisschen komisch … a little bit strange“, fing sie an, als er sie unterbrach: „Es ist ziemlich komisch - Quite strange“, und sich am liebsten gleich auf die lange, spitze Zunge gebissen hätte.

      Er wollte natürlich die zerbrechliche Vertrautheit nicht mit dem Vorwurf, sie sei komisch, belasten, schob deshalb ein fröhlich konspiratives: „Sagen wir ganz schön komisch. - Lets say pretty strange“, nach und lachte sie an.

      Sie lachte mit.

      „Iss lieber deine Austern. Dann erklär es mir“, ließ er den Namen vorerst weg.

      Sie nahm eine und verschlang sie. Es waren nicht mehr viele übrig.

      „Iss du auch noch eine.“

      „Nein, die sind jetzt für dich.“ Er sah ihr zu.

      Sie schwiegen und genossen es beide.

      „Ich bin hier ganz für mich. Möchte mich ausklinken und für ein paar Tage Alles vergessen. Beruf, Familie, Japan, Alles. Ich muss mich nach niemanden und nichts richten. Bin frei und mache nur, wonach mir ist. Da kommst du und es ist bestimmt nicht meine Art, mich mit Fremden einzulassen. Aber du bist du. Du bist hier. Du gehörst zur Echtzeit. Ich möchte diese Begegnung ausprobieren. Ich will nicht darüber nachdenken. Ich weiß nicht, was es wird. Ich will es nicht wissen. Ich möchte uns aus dem, was mein Leben sonst ausmacht raushalten. Ich habe es dir schon erklärt. Es ist nur zwischen uns. Mein Name erinnert mich an Japan, mein Leben, an mich.“

      „Aber es ist wirklich ein schöner Name. Ich finde ihn schön. Du bist doch nicht plötzlich jemand anderer.“

      „Nein, nicht anders, aber frei.“

      Tom sah sie fragend an. Frei war gut. Frei wovon?

      „Versteh mich richtig. Es gibt kein Problem. Weder bin ich eine verlassene Ehefrau, noch eine verkrachte Existenz, es geht uns gut. Es gibt kein Krebs- oder sonstiges Krankheitsdrama, keine Welt­kriegsopfer oder solche Sachen in unserer Familie. Vielleicht ist alles zu gut. Aber eigentlich gibt es eben kein Problem. Ich befreie mich einfach eine Zeit lang von mir.“

      „Das hört sich nach einer guten Idee an.“

      Tom fand das ehrlich interessant. Diese Frau, Chiyoko, war interessant.

      Aber interessant und spannend sagte man nicht.

      „Du befreist dich von dir, um besser zu dir, neu zu dir, wieder zu dir zu finden. Dich zu entwickeln.“

      „Das ist ein wenig psycho. Ein westlicher Psychologe könnte auch behaupten, mir sei in meiner perfekten Welt langweilig geworden. Ich fliehe vor eingefahrenen Lebenswegen, die mich anöden. Vor Langeweile. Aber mir ist nicht langweilig. Wir haben viel zu tun. Meine Familie ist super. Wir sind Asiaten. Man kann denken, ich zweifle, weil es mir zu gut geht. Ich würde Abenteuer suchen. Das ist Unsinn. Du kannst es auch Traumwelt oder Eskapismus nennen. Ich analysiere das nicht. Wir haben den Zen. Ich lasse es geschehen. Ich möchte es noch mehr geschehen lassen. Ich sehe es als ein Experiment.“

      Aha, dachte Tom, ich bin ein Experiment. Er war gar nicht beleidigt deshalb. Das Experiment einer so faszinierenden Frau sein zu dürfen, nahm er gerne als Kompliment. Er war nur Teil des Experiments, aber das übersah seine Eitelkeit geflissentlich.

      „Es ist ein Experiment ohne die Realität des Alltags. Anders gesagt: Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gibt sie doch. Es ist schwer zu erklären. Die Personen sind frei von Alltag. Emp­fangsdamen, Kellner und so weiter sind nicht verbunden. Sie haben ja ihr eigenes Leben und erfüllen in meinem Experiment nur ihre Funktion. Ich werde sie wiedersehen oder nicht. Es macht keinen Unterschied. Ich bin in dem Experiment nicht ich. Du kannst du sein. Du kannst Tom heißen, weil ich dich vorher nicht kannte. Letztlich bist du für mich nur du. Das du. Das Komplementär, das erschienen ist. Ich habe nicht gewusst, dass du erscheinen wirst. Ich wollte, hätte es auch nicht wissen wollen. Plötzlich warst du eben da. Ich bin froh, dass du da bist. Ohne dich wäre mein Experiment wahrscheinlich viel langweiliger geworden“, fing sie sich zu guter Letzt noch.

      „Nachdem die Versuchsanordnung nun weitestgehend klar umrissen ist, lass uns sehen, was sich daraus machen lässt“, willigte Tom mit neckischem Spott ein.

      „Es wäre mir lieber, wir würden nicht unsere normalen Namen verwenden“, blieb sie ernst.

      „Das ist doch zu gequält. Kunstnamen erfinden. Ich darf ja Tom sein. Hast du nicht auch einen Spitznamen?“

      „Nein, bei uns ist das anders. Trotzdem, wie nennt dich denn niemand sonst?“, fragte Chiyoko.

      „Niemand nennt mich Thomas.“ Er sprach es deutsch aus.

      „Aber ich mag Thomas.“ Sie sprach es englisch aus.

      „I like Thomas. It sounds more sophisticated than Tom. - Es klingt feiner als Tom. Darf ich dich Thomas nennen? - May I call you Thomas?“

      “Klar, gerne. Dann darf aber auch ich deinen Namen aussuchen. Was hältst du von Chi?“

      „Niemand nennt mich Chi. Das ist eine gute Lösung. Mir gefällt das wirklich. - You found a good solution. I really like that. Chi.“

      Sie wiederholte ihren neuen Namen ein paar Mal und lächelte jedes Mal ein strahlendes, kindliches Lächeln.

      Sie bewunderte die Klugheit ihres jungen Freundes. Im Moment war sie ein bisschen verliebt. Gar nicht japanisch. Eher verliebt.

      Sie versuchte sich zu fassen.

      „Heute will ich mit dir die Tempellichter am Chao Praya bewun­dern, Essen schmecken, na ja ist jetzt schon fertig“, sie lächelte ein 0,08 Millimeter Mundwinkellächeln, „über die Reflexionen im Wasser sprechen, Nachtluft riechen, Sterne zählen und bei Thomas sein. Weil er Chi mag. OK?“

      Der Chao Praya war ein prächtiger Fluss, die Sternennacht war klar und voller Gerüche. Wer würde sich dieser OKs erwehren?

      „Ich zähle zwei Sterne“, sagte Thomas. „Ich auch“, antwortete Chi

      „I count two stars.“ - „Me too.“

      3

      Das Boot glitt am Wat Arun, dem Tempel des Morgens, vorbei.