Anschein nach schon eine ganze Weile in der Bundesrepublik lebt, sonst hätte er nämlich kaum als Bürge auftreten können. Mein Frankfurter Kollege will mir aber noch genauere Auskunft über ihn zukommen lassen. Ich glaube, das ist alles, was wir in diesem Fall bisher wissen. Wie gesagt, als ich erfuhr, dass Sie persönlich kommen werden, habe ich, da ich noch einen anderen brisanten Fall bearbeite, bislang keine weiteren Nachforschungen angestellt, denke aber, wir sollten dies nunmehr tun.“
„Gerne. Woran denken Sie dabei?“ Claude ist froh, aller Wahrscheinlichkeit nach in Kürze seinen Tatendrang befriedigen zu können.
„Wir müssen mehr über den Toten in Erfahrung bringen, seinen Freundes- und Bekanntenkreis, wer ein Motiv gehabt haben könnte, ihn zu ermorden, und nicht zuletzt, woher er die Pistole hatte und zu welchem Zweck er sie bei sich trug. Und natürlich, warum er Ihr Bild bei sich trug.“ Sich erhebend und den Stuhl unter den Schreibtisch schiebend, konkretisiert Strelow sein weiteres Vorgehen: „Als erstes möchte ich mich einmal im Studentenwohnheim umsehen, in dem er gewohnt hat. Vielleicht können uns die anderen Heimbewohner weiterhelfen.“ Und mit mahnendem Unterton an Claude gewandt: „Wenn Sie wollen, können Sie mitkommen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Sie keine Alleingänge unternehmen.“ Krüger scheint ihn offensichtlich über Claudes Drang zu eigenmächtigen Nachforschungen in Kenntnis gesetzt zu haben. „Versprochen?“
„Versprochen.“ Es fällt Claude leicht einzuwilligen, schließlich muss er Strelow dankbar sein, dass ihn dieser überhaupt in die Ermittlungen mit einbezieht und nicht von vornherein ausschließt.
„Dann lassen Sie uns gehen.“ Claude ist mittlerweile ebenfalls aufgestanden und verlässt vor dem Kommissar den Raum. „Sind Sie mit Ihrem eigenen Wagen da?“, erkundigt sich der Kriminalbeamte, der bei Claude in den wenigen Minuten, die er ihn kennt, einen überaus vertrauenserweckenden und engagierten Gesamteindruck hinterlassen hat.
„Nein, ich bin mit dem Taxi gekommen.“
„Dann fahren Sie bei mir mit.“ Trotz ihrer Bestimmtheit klingt Strelows Stimme nicht gebieterisch, eher wohlwollend ordnend, den Eindruck vermittelnd, dass hier ein Mann spricht, der jederzeit Herr der Lage ist.
Die Fahrt in die Innenstadt nutzt der Kriminalbeamte, um sich mit weiteren Details des Falles vertraut zu machen. Die kurzen, prägnant gestellten Fragen lassen dessen jahrzehntelange Routine erkennen, sich in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Informationen zu verschaffen. „Waren Sie schon einmal in Erlangen?“, weicht Strelow beim Passieren der innerstädtischen Fußgängerzone vom Thema ab.
„Nein.“
„Gar keine so schlechte Stadt. Abends ist zwar nicht allzu viel los, vor allem wenn man bedenkt, dass rund 20.000 Studenten hier studieren, andererseits macht sie ihr vieles Grün und ihre Fahrradfahrerfreundlichkeit irgendwie lebenswert. Und das Umland ist auch nicht ohne. Aber wir sind schon da. Das da drüben ist übrigens die Mensa.“ Das in einem dunklen Gelb gehaltene Gebäude liegt am Rande eines kleinen Platzes, der von geschotterten Wegen durchzogen wird, entlang derer in Reih und Glied hochaufragende Bäume stehen, unter denen wiederum Blumenrabatten für optisch belebende Farbkleckse sorgen. Vor einem recht nüchtern wirkenden viergeschossigen Plattenbau, an dessen Außenseiten sich auf jedem Stockwerk kleine Balkongalerien entlangziehen und der dank einigen Grüns ringsum ein wenig von seiner Hässlichkeit einbüßt, bringt Strelow den Wagen zum Stehen. Henkestraße, macht Claude nach dem Verlassen des Wagens über die Schulter blickend auf dem Straßenschild aus, während er dem zwei Schritte vorausgehenden Kriminalbeamten die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf folgt, neben der jener auf dem Klingelbord jenes Schildchen ausfindig zu machen versucht, das den Namen Wang Bing trägt, wobei er bereits nach wenigen Sekunden fündig wird. Gerade im Begriff die Klingel des mutmaßlichen Nachbarzimmers zu drücken, zeichnet sich hinter der Reliefglastür eine diffuse Schattengestalt ab, der sie wenige Augenblicke später von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
„Entschuldigen Sie bitte“, fängt Strelow die junge Frau ab, deren Plateausohlen sie gut acht Zentimeter größer machen und deren weit, sehr weit nach oben gerutschter Rocksaum einen Blickfang für jedes Männerauge darstellt, „können Sie mir sagen, wo ich die Hausverwaltung finde?“
Das strohblonde lange Haar mit einem eleganten Schwung zur Seite werfend weist sie dem Fragenden den Weg zum rückwärtig gelegenen Nachbargebäude. Die Selbstsicherheit, mit der sie die Stufen hinuntergeht und die wenigen Schritte bis zur Straße zurücklegt, macht deutlich, dass sie um die Wirkung ihres Erscheinungsbildes weiß, weiß, dass die Augenpaare der beiden Männer sie in ihrem Rücken vom Scheitel bis zur Sohle musternd abtasten.
„Warten Sie hier, ich versuche den Hausmeister ausfindig zu machen“, ergreift Strelow die Initiative und verschwindet kurz darauf hinter dem Gebäude, woraufhin sich Claude auf der Treppe niederlässt, die Rückkehr des anderen abwartend, der wenige Minuten später in Begleitung eines in einen grauen Arbeitsoverall gekleideten Herren Ende Vierzig zurückkehrt.
„Ich habe Herrn Baumeister gebeten, uns das Zimmer von Herrn Wang aufzusperren“, erläutert Strelow die weitere Marschroute, Claude kaum Zeit lassend sich dem Hausmeister vorzustellen, der flinken Schrittes die Treppe zum zweiten Obergeschoß hinaufsteigt, in dem das gesuchte Domizil sich befindet. An seinem Schlüsselbund nestelnd sucht der Herbeigeholte nach dem passenden Schlüssel, mit dem er schließlich öffnet. Claude weiß zwar selbst nicht, was er in dem Zimmer vorzufinden hofft, spürt jedoch, wie die sich zuvor merklich aufbauende Anspannung beim ersten Blick in diese offensichtlich ganz normale Studentenbude sich schubweise wieder verflüchtigt. Während der Kommissar den Hausmeister mit dem Hinweis entlässt, ihn nach Beendigung der Inspektion wieder zu rufen, woraufhin dieser im Treppenhaus verschwindet, nimmt Claude eine erste optische Bestandsaufnahme des Inventars vor. Rechts vom Eingang ein zum Bett umfunktionierbares Sofa, darüber ein langes Hängeregal voller Bücher und diversem Schnickschnack, am gegenüberliegenden Ende eine Tür, die zu einem kleinen Balkon führt und neben der ein fest installiertes Arbeitsbrett den Platz unter dem sich anschließenden Fenster bis zur linken Zimmerwand füllt, an der ein Kleiderschrank steht, und gleich zur Linken der Zimmertür ein Waschbecken mit Spiegel darüber. Des Weiteren registriert er noch zwei Stühle und einige Zimmerpflanzen, die dem Anschein nach längere Zeit nicht mehr gegossen worden sind, lassen sie ihre Blätter doch schlapp darnieder hängen, wenn sie nicht gar schon gelb geworden sind, wodurch sich ihr trostloses Erscheinungsbild noch verschärft.
„Schauen Sie sich ruhig um“, trägt Strelow seinen musternden Blicken Rechnung, „aber fassen Sie bitte nichts an!“
Claude schmerzt der Anblick der darbenden Grünpflanzen, wagt es allerdings nicht, um Erlaubnis zum Gießen zu bitten, stattdessen lässt er seine Augen über die Bücherrücken auf dem Regal wandern, deren einzelne Titel zu bestätigen scheinen, dass der Zimmerbewohner tatsächlich dem Studium der Fächer nachgegangen ist, in denen er eingeschrieben war. Chinesische Schriftzeichen zieren einzelne der Bücherrücken, den Betrachter angesichts dessen, dass er dieser Sprache nicht mächtig ist, darüber im Unklaren lassend, ob es sich dabei gleichfalls um Fach- oder anderweitige Literatur handelt. Erst beim zweiten Rundumblick wird Claude klar, was ihm im Unterbewusstsein zwar schon beim ersten aufgefallen war, er indes gedanklich nicht artikulieren konnte: Das Fehlen jeglichen Bilderschmucks. Weder findet sich ein Poster an den Wänden, wie dies in der Mehrzahl studentischer Wohnungen der Fall ist, noch ziert irgendein anderes Bild die ehemals weißen, nunmehr leicht angegrauten Wände, die ihren schmuddeligen Touch unzweifelhaft dem Nikotinqualm zu verdanken haben, der trotz gekippten Oberlichtes über dem Fenster jeder Faser des Vorhanges und den anderen Textilien im Raum mit abgestandener Kälte und Penetranz entströmt und dadurch Claudes Unbehagen zusätzlich steigert. Und von irgendeinem Foto, das Familie, Geschwister, Freunde oder Freundin zeigen würde, kann schon gar nicht die Rede sein. ‚Entweder ein totaler, introvertierter Einzelgänger, oder jemand, der darauf bedacht ist, möglichst wenig Anhaltspunkte bezüglich seiner Person zu liefern’, so Claudes erstes Resümee. Von einer Ecke des Raumes in die andere gehend, stets bemüht dem Kriminalbeamten nicht im Weg zu stehen, beobachtet er diesen, wie er mal hier, mal dort etwas genauer unter die Lupe nimmt, den Schrank einer genaueren Inspektion unterzieht,