geschrieben steht - oder ist es doch mehr Spitzbübigkeit? Ihre Antwort bleibt jedenfalls diplomatisch vage: „Machen Sie sich darüber im Moment keine Gedanken, schauen Sie erst einmal, was Sie damit anfangen können, dann schauen wir weiter. Doch jetzt: Cheers!“ Den soeben gebrachten Drink ergreifend prostet Eva-Marie Claude zu, wobei ihr Gesichtsausdruck zu sagen scheint: „Nunmehr sind wir Verbündete, auf Gedeih und Verderb!“
„Auch wenn man nicht mit Wasser anstoßen soll, trotzdem: Auf Ihr Wohl!“, erwidert Claude, sein Glas mit Mineralwasser an das ihre führend, bis sie sich in der Tischmitte sanft nachklingend treffen, quasi die Besiegelung ihres Bündnisses akustisch unterstreichend.
„Haben Sie seit unserem letzten Treffen noch etwas herausgefunden?“, erkundigt sie sich, das halb geleerte Glas absetzend, während ihre Linke durch das dichte, leicht gewellte Haar fährt, um so eine widerspenstige, in die Augen gefallene Locke zu bändigen.
„Nein.“ Die ernüchternde Erinnerung an den Vorabend blitzt wieder auf, lässt seine Stimme, begleitet von einem Seufzer, hohl und resigniert klingen. Sein Blick richtet sich an ihr vorbei in die Ferne, so als stünden dort auf einer imaginären Tafel die Antworten auf all seine Fragen geschrieben.
„Na, nun lassen Sie mal nicht gleich den Kopf hängen“, muntert Eva-Marie, die seine von Resignation getragene Niedergeschlagenheit spürt, ihn auf, „lesen Sie sich in Ruhe das Material durch, das ich Ihnen gegeben habe, vielleicht sehen Sie dann schon etwas klarer. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich auch nicht mehr genau weiß, was alles darin ist, denn manches davon ist schon Jahre alt. Eigentlich wollte ich es noch einmal kurz überfliegen, hatte aber keine Zeit dazu, da mich einer meiner Redakteure heute Morgen anrief und mir den Auftrag für den Artikel gab, dessentwegen ich zu spät gekommen bin. Daher hatte ich keine Zeit mehr zum Durchlesen des Materials.“
Claude ist es peinlich, von ihr durchschaut worden zu sein: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich...“ Er weiß nicht so recht, was er ihr sagen, wofür er sich entschuldigen soll. „Ich bin momentan einfach etwas durcheinander. Die Sache mit meinem Bruder hat mich doch mehr mitgenommen als ich dachte“, bringt er seine Gefühle zum Ausdruck, „dazu kommt noch die bisherige Erfolglosigkeit bei der Suche nach dem oder den Tätern. Das Ganze ist für mich so sinnlos, so unverständlich.“ Die Verzweiflung droht erneut Oberhand zu gewinnen, so dass es seine Gesprächspartnerin als dringend angebracht erachtet, ihn auf andere Gedanken zu bringen.
„Trübsal blasen gilt nicht“, fordert sie ihn mit einem zwar nicht unbedingt echten, aber doch sehr gekonnten Lächeln auf, „versuchen Sie das Geschehene für ein paar Stunden zu vergessen, lassen Sie uns irgendwohin gepflegt essen gehen. Ich hatte einen anstrengenden Tag, da habe ich mir das verdient, und Ihnen tut dies auch ganz gut.“
„Ich ... äh...“
„Nein, nein, keine Ausrede“, ermuntert sie ihn, indem sie ihm einen auffordernden Stups gibt, wie er zwischen guten alten Freunden üblich ist, „morgen ist auch noch ein Tag. Es tut Ihnen einmal ganz gut abzuschalten. Kommen Sie schon, geben Sie sich einen Ruck!“
Instinktiv spürt Claude, dass sie recht hat, er tatsächlich, wenn auch nur für ein paar Stunden, Abwechslung benötigt - und warum nicht in angenehmer weiblicher Begleitung. „Okay“, willigt er ein, „unter einer Bedingung.“
„Und die wäre?“
„Sie wählen das Lokal aus und ich übernehme die Rechnung.“
„Akzeptiert. Aber auch ich habe eine Bedingung.“
„Nämlich?“
„Heute Abend wird nicht mehr über das gesprochen, was Ihrem Bruder widerfahren ist oder über etwas, was damit im Zusammenhang steht.“
Ihr Blick, der um einen gemütlichen, unbeschwerten Abend bittet, macht ihm die Entscheidung leicht: „Abgemacht. Also lassen Sie uns gehen“, rückt er ohne weiteres Zögern seinen Stuhl im Sitzen nach hinten, erhebt sich, den Schnellhefter zusammengerollt in seine zum Glück weit genug geschnittene Jackeninnentasche stopfend, um ihr Augenblicke später, nachdem sie ihr Glas geleert hat, galant beim Aufstehen behilflich zu sein. „Sie sagen, wohin!“
„Essen Sie gerne scharf?“
„Kein Problem.“
„Gut, dann fahren wir zum Nam Thanh. Meiner Meinung nach der beste Vietnamese in der Stadt.“
„Hört sich gut an.“ Mit jedem Schritt, den sie sich ihrem unweit entfernt geparkten Wagen nähern, lässt er ein wenig von jenem Bedrückt-Sein zurück, das ihm diesen Tag vermiest hat und das er so gar nicht von sich gewohnt ist. ‚Ja, sie hatte recht, ich muss einmal auf andere Gedanken kommen’, bestärkt er sich in der Richtigkeit seines Entschlusses, diesen Abend nicht weiteren Nachforschungen zu widmen.
Montag, 28. April 1997, 8:00 Uhr
Das stakkatohafte Piepsen des Weckers schneidet durch seine Träume, holt ihn schlaftrunken aus dem Wirrwarr skurriler Phantasien voller Fratzen, deren hämisches Gelächter nahtlos in eben jenes schlafraubende Geräusch übergeht, das er durch eine reflexartige Armbewegung zum Verstummen zu bringen versucht, was ihm allerdings erst im dritten Anlauf gelingt, eben um jene Sekunden zu spät, die die Möglichkeit des Wieder-Einschlafens zunichtemachen, ihn jedoch noch minutenlang unentschlossen ihm Bett ausharren lassen. Nur allmählich beginnen sich seine Gedanken zu ordnen, taucht der Vorabend, zunächst schemenhaft, dann immer deutlicher werdend wieder vor ihm auf, ein Abend, an dem er sich dank des humorigen Wesens von Eva-Marie so gut amüsiert hat wie schon lange nicht, es ihr tatsächlich gelang, bei ihm sämtliche Gedanken an seinen Bruder für einige Stunden vollständig auszublenden. Und der Vietnamese hielt in der Tat, was sie versprochen hatte. Alles in allem ein rundum entspannender Abend, der erst gegen ein Uhr zu Ende ging und, aufgrund der ziemlich miesen Nacht zuvor, nunmehr seinen Tribut fordert, obwohl die durch das Fenster herein lächelnde Frühlingssonne ihm das Aufstehen eigentlich erleichtern sollte. Doch erst der Gedanke an Eva-Maries Aufzeichnungen vertreibt jenen Rest an Schläfrigkeit und Trägheit, der einen zwischen Liegenbleiben und Aufstehen zaudern lässt. Wie elektrisiert hüpft Claude mit einem Sprung aus den Federn, setzt das Wasser für den Kaffee auf und dreht anschließend das Wasser der Dusche kontinuierlich von lauwarm auf eiskalt, was ihm zwar eine Gänsehaut bereitet, ihn andererseits aber putzmunter macht.
Fertig angezogen, die dampfende Tasse wohlriechenden Kaffees in der Hand, lässt er sich behaglich im am Fenster stehenden Sessel nieder, neben dem die ominöse Mappe auf dem Tisch liegt, herausfordernd, seiner Neugier harrend, als wolle sie sagen: „Nun nimm mich schon endlich in die Hand!“
‚Nun denn’, animiert sich Claude im Stillen, und während er mit der Rechten die Kaffeetasse abstellt, langt er mit der Linken nach den Aufzeichnungen, deren ihm bislang unbekannter Inhalt ihn gedanklich bereits seit Tagen verfolgt.
Wie er an den in den Unterlagen auftauchenden Daten erkennt, hat Eva-Marie schon vor sechs Jahren mit der Faktensammlung begonnen, wobei sie in den ersten drei Jahren allem Anschein nach besonders intensiv damit beschäftigt gewesen war, denn die Zahl der Eintragungen während der letzten drei Jahre fällt merklich geringer aus als im davorliegenden Zeitraum. Daten und Zahlen über höchstwahrscheinlich krumme Geschäfte, verschlungene, kaum aufzudröselnde Verbindungen zwischen verschiedenen Organisationen und Personen, Listen, wem welches Lokal, welches Bordell gehört, wer zu wem Kontakt pflegt, wer wahrscheinlich wen erpresst, ein noch weitgehend ungeordnetes Sammelsurium an Informationen, die, so die jeweiligen Vermerke, zum Teil auf Berichten von Informanten, zum Teil auf eigenen Spekulationen beruhen. Und in all ihnen Namen, Namen und nochmals Namen, ihm teilweise aus den Ausführungen der Polizei oder im Zusammenhang mit seinen eigenen Recherchen bekannt, größerenteils bis dato allerdings ungehört, ungelesen. Was Claude auffällt, ist die Häufigkeit, mit der in Eva-Maries Akten Maximilian Großkopf, Lorenz Kowalzik und ein ihm bisher unbekannter Mann namens Paul Bertram auftauchen, sie alle drei praktisch mit jeder Art illegaler und krimineller Geschäfte in Verbindung gebracht werden,