Alexander Nadler

Handover


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„Bekam Philipp eigentlich viel Besuch? Soweit du dies mitbekommen hast, meine ich?“

      „Um ehrlich zu sein, kann ich dazu wenig sagen“, erwidert sie nachdenkend, „du weißt ja, wie dies in so einem Mietshaus abläuft. Jeder geht ein und aus ohne den anderen groß zu sehen, noch dazu, wenn man berufstätig ist und früh aus dem Haus geht und erst abends wieder heimkommt. Dann ist man in der Regel so geschafft, dass man ganz einfach die Schotten hinter sich dicht macht und sich um die anderen nicht weiter kümmert, so bedauerlich dies sein mag.“

      „Hm ... und am Wochenende?“

      „Soweit ich dies mitbekommen habe, war dein Bruder am Wochenende oft nicht da. Wie er mir einmal erzählt hat, arbeitete er gerne übers Wochenende. Soweit ich ihn verstanden habe, seien da die Locations für seine Aufnahmen oftmals besser, an manchen Orten gäbe es dann keine oder zumindest kaum Menschen, und die Menschen selbst wären an diesen Tagen freundlicher, gelassener. Wie gesagt, so genau weiß ich das auch nicht mehr, aber jedenfalls habe ich ihn am Samstag und Sonntag relativ selten gesehen. Einmal allerdings hat er mich am Sonntagnachmittag besucht, das war nach seiner Verlobung, da kam er mit seiner Verlobten.“

      „Ah ja? Aus welchem Grund?“ Dass Philipp, der ein untrügliches, mitunter geradezu beängstigendes analytisches Gespür bezüglich seiner Mitmenschen besaß, deren Gefühle und Neigungen, Gelüste und Intentionen haargenau zu beschreiben vermochte, kaum dass er sie kennengelernt hatte, ihr Interesse an ihm nicht entgangen war, hat ihm Florine doch bereits neulich eingestanden, und auch ihren anfänglichen Groll bezüglich seiner Verlobung, Und da sein Bruder nicht der Typ war, der andere unnötig provozierte, schon gar nicht, wenn er sein Gegenüber dadurch emotional verletzte, konnte das Mitbringen seiner Verlobten nur bedeuten, dass er für klare Verhältnisse hatte sorgen wollen, darum bemüht gewesen war, alle möglicherweise vorhandenen Neid- oder Hassgefühle von Seiten Florines seiner neuen Lebenspartnerin gegenüber abzubauen.

      Claude merkt, wie die junge Frau, deren Attraktivität ihm heute, in diesem ungezwungenen Rahmen, wesentlich deutlicher ins Auge fällt, sensorisch spürbarer ist, innerlich mit sich ringt, ob sie ihm ihre Quasi-Niederlage um die Gunst seines Bruders eingestehen soll oder nicht. „Du kennst ... kanntest deinen Bruder doch besser als ich, du weiß wie er war, stets um Offenheit und Ausgleich bemüht.“ Noch einmal bricht sie ab, holt tief Luft, um mit niedergeschlagenem Blick, so als ob sie sich schäme, die für sie schmerzhafte Tatsache einzugestehen: „Wie ich dir ja neulich schon gesagt habe hatte ich mir Hoffnung gemacht, dass aus unserer Bekanntschaft mehr als nur Freundschaft würde, aber na ja, es sollte halt nicht sein.“ Den Kopf leicht hebend, den Blick noch immer in die Ferne gerichtet, bringt sie es auf den Punkt: „Ja, wie ich dir schon sagte, ich war in ihn verliebt, daher hat es mich anfangs unwahrscheinlich getroffen, als ich von seiner Verlobung erfuhr, noch dazu auf Umwegen. In der Folgezeit konnte ich ihm kaum in die Augen schauen. Ich weiß, dass dies kindisch war, trotzdem konnte ich nicht dagegen an. Umso mehr hat es mich beeindruckt, dass er mir deswegen nicht böse war, er mich im Gegenteil bat, mir seine Verlobte persönlich vorstellen zu dürfen, um so ein für alle Male für klare Verhältnisse zu sorgen - für alle Beteiligten. Zwar hatte ich anfänglich Bedenken, doch als es dann soweit war, wir uns ausgesprochen hatten, wusste ich, dass er recht gehabt hatte. Und so sehr es mich selbst erstaunte, musste ich mir nach unserem Gespräch eingestehen, dass ich Jinda mochte, deinen Bruder bei ihr in guten Händen wusste. Merkwürdig, nicht? Aber glaube mir, seit diesem Nachmittag sah ich sie nicht mehr als Nebenbuhlerin an, akzeptierte ich die Entscheidung deines Bruders. Um ganz ehrlich zu sein, irgendwie bedauerte ich es in der Folgezeit sogar, sie nicht öfters zu sehen.“ Einer Beichte gleich redet sich die junge Frau die leidvolle Episode ihrer jüngsten Vergangenheit von der Seele, die trotz ihrer verbalen Selbstbeschwichtigung offenkundig Narben hinterlassen hat, deren Heilung noch nicht abgeschlossen ist, worauf auch ihr betrübter, zu Boden gerichteter starrer Blick schließen lässt, in dem sich Claude eine gehörige Portion Traurigkeit widerspiegeln sieht, jene Art von Traurigkeit, wie sie nur eine verschmähte oder unbeantwortet gebliebene Liebe hervorzubringen imstande ist.

      Beeindruckt von der für sie selber mit seelischem Schmerz verbundenen Offenheit, hakt Claude bei seiner Gesprächspartnerin, in der er, dessen ist er sich nunmehr sicher, eine neue Verbündete gefunden haben dürfte, nach: „Weißt du Näheres über Philipps Verlobte, woher genau sie kommt, wo sie eventuell arbeitet et cetera. Mir gegenüber hat sie Philipp nämlich nicht erwähnt. Und ich finde es merkwürdig, dass sie offensichtlich wie vom Erdboden verschwunden ist, sie niemand seit dem Mord gesehen zu haben scheint.“

      „Allzu viel weiß ich auch nicht. Als die beiden bei mir waren, ging es deinem Bruder vornehmlich darum, uns miteinander bekannt zu machen, mögliche Ressentiments zwischen uns auszuräumen. Über ihre Herkunft oder sonstige persönliche Belange haben wir kaum geredet, nur dass sie aus Thailand stammt, aus einem kleinen Dorf zwischen Chiang Mai und Chiang Rai, irgendwo nahe der birmesischen Grenze, aber frage mich nicht, wie der Ort heißt. Dann erwähnte er noch, dass sie seit etwa zwei Jahren in Deutschland sei, allerdings sprach sie kaum Deutsch, lediglich recht ordentliches Englisch.“

      „Hat Philipp erwähnt, wie er sie kennengelernt hat?“

      „Nein. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als wolle er darüber nicht reden. Ich habe diesbezüglich zwar zwei-, dreimal nachgehakt, er ist meiner Frage aber jedes Mal ausgewichen. Warum weiß ich nicht, denn schämen brauchte er sich ihretwegen bestimmt nicht...“ Er merkt, dass es Florine nicht leicht fällt das Folgende einzugestehen: „...dafür ist sie viel zu schön.“ Eine weitere kurze gedankliche Pause folgt. „Und sie hat Klasse!“

      Claude weiß genau, was diese letzte Aussage gehaltmäßig bedeutet, schließlich fällt Frauen kaum etwas schwerer als sich derart positiv über eine andere Frau zu äußern, noch dazu mit solch unverhohlener Bewunderung, wie er sie in Florines Stimme deutlich mitschwingen hört. „Und du weißt nicht, wo sie geblieben sein könnte? Höchstwahrscheinlich hat sie doch von Philipps Tod gehört. Warum hat sie sich dann nicht gemeldet?“

      „Keine Ahnung. Genau das habe ich mich auch schon gefragt.“

      „Und sonst irgendeine Adresse, bei der man nach ihr fragen könnte, weißt du auch nicht?“

      „Leider nein. Wie schon gesagt, sehr viel über persönliche Belange ist damals nicht gesprochen worden. Aber müsste nicht die Polizei etwas über sie herausfinden können, sie müsste doch gemeldet sein, wenn nicht hier in Frankfurt, so zumindest in der Bundesrepublik. Schließlich hält sie sich nach Aussage deines Bruders bereits seit zwei Jahren hier auf.“

      Claude geht innerlich scharf mit sich ins Gericht, weil er daran bislang nicht selbst gedacht hat, nach außen hin versteht er es indes, den aufgrund seiner Nachlässigkeit gegen sich selbst gehegten Groll zu überspielen: „Soviel ich weiß, gibt es darüber keine konkreten Erkenntnisse, jedenfalls hat mir Hauptkommissar Krüger nichts davon berichtet.“ Ob die Kriminalbeamten diese Spur bis dato gleichfalls außer Acht gelassen haben oder tatsächlich keine Erkenntnisse diesbezüglich vorliegen, diese aus gedanklicher Unachtsamkeit bis zu diesem Augenblick unbeantwortet gebliebene Frage bedarf schleunigster Beantwortung, bereitet ihm Unbehagen, die er jedoch zu verdrängen sich bemüht. Da seine Gesprächspartnerin über Jinda offensichtlich nicht allzu viel weiß, was ihm weiterhelfen könnte, versucht er sein Glück in einer anderen Richtung. „Ich möchte dir gerne ein paar Fotos zeigen, die ich bei Philipp gefunden habe. Ich hole sie schnell aus seiner Wohnung. Einen Augenblick, ja.“ Zwar ist ihm im Laufe ihres bisherigen Gespräches klar geworden, dass er ihr vertrauen kann, trotzdem möchte er sie nicht über die wahren Umstände aufklären, unter denen er zu den Aufnahmen gekommen ist, nicht aus Misstrauen, sondern um sie nicht mehr zu beunruhigen oder zu verwirren als dies unbedingt nötig ist. ‚Wie gut, dass ich die Fotos immer bei mir habe’, baut er sich nach dem kurz zuvor erfahrenen Tiefschlag innerlich wieder etwas auf, das Kuvert mit den Fotos aus der Innentasche seiner Jacke ziehend, die er zuvor an der Garderobe von Philipps ehemaliger Wohnung aufgehängt hat. Wenige Sekunden später sitzt er wieder Frau Bernadetti gegenüber, die mit dem Schälen eines Apfels beschäftigt ist.

      „Magst du auch einen? Ich schäle ihn dir.“