ungeklärte Fragen aufgeworfen haben, und breitet sie vor seiner Gastgeberin, die mit dem Geschick einer erfahrenen Hausfrau in Windeseile den Apfel seiner Schale beraubt, auf dem Esstisch aus. „Wirf einmal einen Blick darauf, wenn du fertig bist“, fordert er Florine mit einer Geste seiner Rechten auf.
„Einen Moment noch, ich bin gleich fertig“, bittet sie um Geduld. Flugs ist der Apfel geviertelt und entkernt, so dass sie ihn ihm mundgerecht vorsetzen kann, woraufhin er - sich bedankend - zugreift. „Lass mal sehen.“ Sich vorbeugend, unterzieht sie die vor ihr ausgebreiteten Bilder einer sorgfältigen Prüfung. Hat sich Claude an und für sich kaum Hoffnungen gemacht, dass die Vorlage des Bildmaterials etwas bringen würde, so ist er umso mehr erstaunt, als die es Begutachtende eines der Fotos herausgreift und es ihm entgegenhält: „Den kenne ich, den habe ich einmal hier aus dem Haus kommen sehen. Ist noch gar nicht so lange her, höchstens vier Wochen, kann aber auch weniger sein.“
Claude ist nicht schlecht erstaunt, denn die Aufnahme zeigt Rudolf Henschel, den Kommissar Mihailovic als eine nicht unbedeutende Größe der bundesdeutschen Unterwelt dargestellt hat. Dass Florine ihn hier gesehen hat, dürfte somit der erste ganz konkrete Hinweis darauf sein, dass Philipp auf irgendeine Art und Weise in den Bannkreis dieses Milieus vorgestoßen war, und so wie er seinen Bruder kannte, sicherlich nicht zum Wohle beziehungsweise im Interesse dieser ‚feinen‘ Herren. Was sonst hätte Henschel hier verloren gehabt? Und um jeden Zweifel auszuräumen: „Bist du dir sicher?“
„Ja. Er ist mir damals aufgefallen, weil er so gar nicht hierher passt. So hochgestylt wie der daherkam, so jemanden habe ich hier noch nie gesehen. War einfach ein bisschen zu gelackt, wenn du weißt, was ich meine.“ Sein Nicken gibt ihr zu verstehen, dass Claude genau begriffen hat, was sie damit ausdrücken will. „Zumal zu dieser späten Stunde. Ich kam an diesem Tag erst sehr spät nach Hause, da ich mit ein paar Freunden essen gewesen war. Kurz vor Mitternacht muss es gewesen sein, als ich schließlich hier war und dieser Typ, just in dem Moment, als ich die Haustür aufsperren wollte, aus dem Haus kam und ziemlich überrascht schien, als er mir so unvermittelt gegenüberstand. Da ich selber auch etwas perplex war, bin ich noch einige Augenblicke stehen geblieben und konnte sehen, wie er in den dunkelblauen Jaguar stieg, der mir zuvor bereits aufgefallen war. Möglicherweise habe ich mir die ganze Sache überhaupt nur wegen des Jaguars gemerkt. Wenn ich sonst an nichts anderes denke, mache ich nämlich immer so ein Spielchen: Ich lese die Autokennzeichen und versuche aus den Buchstaben und Zahlen irgendwelche Geburtsdaten von Freunden, Bekannten oder berühmten Persönlichkeiten herauszulesen, wobei die Kennbuchstaben die Anfangsbuchstaben des Namens und die Zahlen das Geburtsdatum sind. Und eben deswegen fiel mir der Wagen auf, hatte er doch das Nummernschild F-L 1806, das heißt mein Geburtsdatum. Verstehst du, F und L für Florine, 1806 für den 18. Juni. Und als ich den hier“, Florine hält noch immer das Foto in der Hand und verdeutlicht mit einem kurzen Wink, wen sie mit ihrer Aussage meint, „in diesen Wagen steigen sah, fühlte ich mich fast so etwas wie beleidigt, dachte ich doch an das schlechte Image dieses an sich formschönen Autotyps, der ja irgendwie als Zuhälter-Wagen verschrien ist. Und jetzt stieg dieser Typ auch noch in den Wagen mit meinem Geburtsdatum! Also irgendwie fühlte ich mich in diesem Moment getroffen. Klingt albern, ich weiß, aber so war es nun einmal. Jetzt, im Nachhinein muss ich selber darüber lachen.“
‚Wie Zufälle manchmal so spielen’, sinniert Claude, der sich über den Wert des Gehörten noch nicht klar ist, instinktiv jedoch spürt, dass ihn Florines Aussage ein nicht unerhebliches Stück weiterbringen könnte. „War der Typ allein?“
„Nein. Im Wagen saß mindestens noch eine Person, denn er stieg auf der Beifahrerseite ein. Ob sich noch mehr Personen darin befunden haben, kann ich dir nicht sagen, da ich beim Vorbeigehen nicht darauf geachtet habe.“
„Das heißt, du kannst über den Fahrer nichts sagen?“
„Richtig, leider.“
„Und an dem, der aus dem Haus kam, ist dir an dem noch irgendetwas aufgefallen?“
Florines Blick tastet ziellos über Tisch und Teppichboden, so als hoffe sie dort gedanklich verlorengegangene Details wiederzufinden - jedoch ohne viel Erfolg: „Wie ich dir schon sagte, sein gelacktes Äußeres passte so gar nicht hierher, ohne dass ich dir jetzt en détail sagen könnte, was er genau getragen hat. An und für sich habe ich dafür ein recht gutes Auge, angesichts dessen, dass ich an diesem Abend doch so einige Gläschen geleert hatte, kann ich mich jedoch nicht mehr genau erinnern. Nur dass er ziemlich groß war, so einen Meter neunzig schätze ich, ... und dass er so eine Art Cowboyhut trug ... einen dunklen, schwarz oder dunkelblau. Na ja, und einigermaßen überrascht schien er zu sein, als er mir begegnete.“ Ihr in die Ferne gerichteter Blick verrät Claude, dass sie sich, die Kaffeetasse instinktiv an den Mund führend, an weitere, möglicherweise hilfreiche Einzelheiten zu erinnern bemüht.
Da ihre Bemühungen jedoch allem Anschein nach erfolglos bleiben, unterbricht Claude ihre gedanklichen Nachforschungen nach einer Weile: „Hast du den Kerl später noch einmal gesehen, oder sonst irgendeinen verdächtig erscheinenden Typ?“
„Weder noch.“
Auch wenn sich diese Spur zunächst einmal im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkel der Nacht zu verlieren scheint, so liefert Florines Aussage Claude möglicherweise doch immerhin einen ersten konkreten Hinweis auf eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen seinem Bruder und zumindest einer der auf den Fotos abgebildeten Personen. Und dass es sich dabei dann nicht gerade um eine freundschaftliche gehandelt haben dürfte, dies garantiert ihm Philipps moralisch untadeliger Charakter, der über jeden Zweifel erhaben war. Daher dürfte der Besuch, den Rudolf Henschel seinem Bruder an diesem Abend abgestattet hatte, auch kein Freundschaftsbesuch gewesen sein, so er Philipp überhaupt angetroffen hatte. „Hast du eine Ahnung“, verschafft er sich mit seiner Frage bei seiner Gesprächspartnerin Klarheit, „ob Henschel Philipp angetroffen hat?“
„Heißt der Kerl so? Na ja, soweit dies aus dem Verhalten deines Bruders zu entnehmen war, denke ich, nein, zumindest ist mir nicht aufgefallen, dass er sich danach irgendwie verändert hätte. Ich habe ihn zwar nur sporadisch getroffen, da er, wie ich dir schon sagte, oft auswärts tätig war. Am ehesten sind wir uns noch am Donnerstag oder Freitag über den Weg gelaufen, in den letzten Wochen allerdings auch nur selten.“
Im Grunde genommen hat Claude nichts anderes erwartet, dazu war Philipp ein viel zu verschlossener Typ, der andere nicht mit seinen Problemen zu belasten pflegte und es zudem - wenn nötig - meisterlich verstand, seine wahren Emotionen zu überspielen beziehungsweise zu kaschieren. Ins Vertrauen gezogen hatte er andere immer nur dann, wenn er gar keinen Ausweg mehr wusste oder dringend einen Rat beziehungsweise eine weitere Meinung benötigte, was höchst selten der Fall gewesen war, und dann an und für sich auch nur Julius und ihn selbst. „Und wie steht es mit Philipps Verlobter“, durchfährt ihn ein Gedankenblitz, „weißt du vielleicht, ob Henschel mit ihr gesprochen hat?“
„Tut mir leid, auch davon weiß ich nichts. Lass mich überlegen...“, bittet sie um eine kurze Nachdenkfrist, „Wenn ich mich recht erinnere, bin ich ihr nach diesem Abend und vor dem schrecklichen Tod deines Bruders nur noch einmal begegnet, und zwar im Treppenhaus. Wir haben über ein paar belanglose Dinge gesprochen, wobei sie mir locker und recht glücklich aussah. Allerdings habe ich zu diesem Zeitpunkt auch überhaupt nicht mehr an den nächtlichen Besucher gedacht.“
Der Uhrzeiger ist bereits ein gutes Stück über die Zwei hinausgerückt, so dass es Claude für angebracht hält, sich von seiner charmanten Gastgeberin zu verabschieden, zumal weitere verwertbare Informationen von ihr offensichtlich nicht zu erwarten sind und er sich von der Schlemmerei derart vollgestopft fühlt, dass er das dringende Bedürfnis verspürt, die - bedingt durch die angenehme Gesellschaft und aus lauter Genäschigkeit - überflüssig zu sich genommenen Kalorien möglichst rasch bei einem ausgedehnten Spaziergang wieder loszuwerden. Zuvor muss jedoch noch die Suche nach dem verschwundenen Notizbuch abgeschlossen werden, eine Prozedur, die Claude Unbehagen bereitet, da er nur äußerst ungerne die Sachen seines Bruders durchwühlt. Jeden bislang noch nicht untersuchten Winkel der Wohnung durchforstend, gelangt er immer mehr zu der Erkenntnis, dass seine Sucherei letztendlich