Christine Boy

Das Blut des Sichellands


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zischte Rahor, der ebenfalls in der Dunkelheit verharrt hatte. „Warum hast du uns nicht gewarnt?“

      „Das hätte ich ja!“ verteidigte sich der Diener. „Aber ich kann nicht überall sein! Ich habe die ganze Zeit auf den Casflügel geachtet, aber Wandan kam aus Richtung des Haupttores. Als ich ihn gesehen habe, war es schon zu spät, da hatte er euch schon gehört.“

      „Und da hast du dich lieber versteckt, als ihn zurückzurufen und abzulenken?“

      „Hoher Herr Rahor, aber... verzeiht... aber ich... ich konnte doch nicht über den halben Platz rufen. Das hätte nur noch mehr Aufmerksamkeit geweckt. Der hohe Shaj ist oben auf der Terrasse der Cas!“

      „Was? Saton? Ach herrje... nein... ich verstehe...“ Der Junge fuhr sich ratlos mit der Hand durchs Haar. „Oje, das gibt jetzt richtig Ärger. Verdammt, warum musste sie auch so unvernünftig sein?“

      „Sie wird mich rauswerfen...“ sagte Afnan niedergeschlagen.

      „Unsinn... wird sie nicht. Ich rede mit ihr. Sobald ich kann. Aber ich fürchte, jetzt hat sie erst einmal andere Sorgen...“

      Wandan tobte. Er hatte Lennys auf direktem Weg in ihr Schlafzimmer getragen, sie dort alles andere als vorsichtig auf ihr Bett geworfen und marschierte jetzt mit donnernden Schritten auf und ab, während er seiner Wut freien Lauf ließ.

      „Und ich sage ihm noch, seine Tochter würde allmählich vernünftig werden! Von wegen! Klaust Sijak und betrinkst dich im Burggarten! Mit vierzehn! Das ist wirklich der Gipfel der Ungezogenheit! Wer hat dich gesehen? Die Diener? Die Gäste? Du denkst nur an deinen Spaß! Ich wollte mich eigentlich bei dir entschuldigen, weil ich dir die Sichelstunde versprochen hatte und sie nicht einhalten konnte! Die Sichel ist ein weite Ferne gerückt, junge Frau! In sehr weite Ferne! Du willst, dass wir dich nicht wie ein Kind behandeln, aber jedes Kind in dieser Burg benimmt sich besser als du! Ich soll auf dich aufpassen! Soll dafür sorgen, dass du eine gute Kriegerin wirst! Und was machst du? Keinen Tag kann man dich aus den Augen lassen, ohne dass du irgendwelchen Unsinn treibst! Ach, was rede ich... keinen Tag... keine Stunde!“

      Lennys hatte sich auf ihrem Bett zusammengekauert und sagte nichts. Zum einen, weil ihr die Zunge zu schwer geworden war, zum anderen, weil ihr einfach nichts einfallen wollte, was sie zu ihrer Verteidigung hätte vorbringen können. Und zum dritten fühlte sie sich alles andere als angriffslustig. Ihr Schlafzimmer schwankte wie eine Barke im Sturm und Wandans donnernde Vorhaltungen tobten schlimmer als jedes Gewitter über ihr.

      „Das hat jetzt keinen Sinn.“ sagte der Krieger irgendwann. „Wer weiß, ob du dich morgen überhaupt noch an meine Worte erinnerst! Es ist schon fast Mitternacht. Morgen früh solltest du eigentlich zum Geschichtsunterricht erscheinen! Und damit du nicht auf die Idee kommst, den zu verschlafen, werde ich dich höchstpersönlich wecken. Und zwar eine Stunde früher als sonst! Und dann werden wir dieses Gespräch fortsetzen, das verspreche ich dir!“

      Ohne sie noch einmal anzusehen, polterte Wandan wieder nach draußen, knallte die Tür zu und atmete tief durch. Er verlor selten die Beherrschung, doch nicht nur der Ärger, sondern auch die Sorge hatten ihn immer weiter angestachelt. Es wäre ein Fehler gewesen, umgehend Saton aufzusuchen, auch wenn er wusste, dass der Shaj ihm diese Verzögerung nur schwerlich verzeihen würde.

      Auf dem Weg zurück zum Casflügel malte er sich mit äußerst gemischten Gefühlen aus, wie Lennys' Vater wohl auf diesen höchst unerfreulichen Bericht reagieren würde.

      Ein unnachgiebiges Rütteln an der Schulter riss Lennys am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Sie wollte den Störenfried verärgert wegschieben, aber noch bevor sie den Arm zu fassen bekam, stöhnte sie unwillkürlich auf. Ihr Schädel dröhnte und eine Welle heftiger Übelkeit überkam sie.

      „Aufstehen, die Dame!“

      Die laute Stimme ließ sie zusammenfahren.

      „Gut geschlafen?“ Wandan gab sich keine Mühe, leise zu sprechen und der Sarkasmus in seinen Worten war nicht zu überhören.

      Lennys antwortete nicht, sondern zog sich die Decke über den Kopf.

      „Um den Unterricht kommst du genauso wenig herum, wie um alles andere! Also raus aus dem Bett!“

      Sie drehte sich zur Seite und zwang sich, den Würgereiz, der in ihr aufwallte, zu unterdrücken. Noch nie zuvor hatte sie sich so elend gefühlt. Doch Wandan kannte kein Erbarmen. Mit einem Ruck zog er die Decke zur Seite.

      „Du hast die Wahl. Entweder, du stehst jetzt auf und sprichst mit mir oder ich werde es mir anders überlegen und mich doch zuerst mit Saton unterhalten!“

      Mühsam drehte sie sich wieder auf die andere Seite und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. In verschwommen, zusammenhanglosen Bildern kehrte allmählich die Erinnerung an den vergangenen Abend zurück. Als vor ihrem geistigen Auge die bauchige Sijakflasche Gestalt annahm, hätte sie sich am liebsten sofort übergeben.

      „Ich kann nicht zum Unterricht...“ presste sie hervor.

      „Und ob du kannst.“

      „Ich bin krank.“

      „Das bist du mit Sicherheit nicht.“ Wandan verschränkte die Arme und lehnte sich auf dem Lehnstuhl zurück, den er sich ans Bett gezogen hatte. „Du hast einen Kater, wie man so schön sagt. Und wenn ich bedenke, woher er stammt, würde ich sagen, dass du ihn durchaus verdient hast.“

      Sie knurrte zornig und tastete nach der Decke, die zu Boden gerutscht war.

      „Vergiss das mal ganz schnell wieder.“ Er hob die Decke auf und warf sie in eine Ecke. „Und setz dich hin, wenn ich mit dir rede.“

      „Was fällt dir...?“

      „Was mir einfällt?“ unterbrach Wandan sie laut. „Ich frage dich eher, was dir einfällt! Also, setz dich hin und sieh mich an. Ich bin gerade alles andere als geduldig und du solltest mich nicht noch weiter reizen!“

      Zähneknirschend stemmte sich Lenyca hoch und lehnte sich an die Wand. In dieser Haltung glaubte sie, ihr Kopf müsse zerbersten, doch sie wollte Wandan nicht noch einen weiteren Anlass geben, herumzuschreien.

      Aber der Krieger musterte sie nur interessiert.

      „Du siehst gelinde gesagt furchtbar aus.“ stellte er trocken fest. Von Mitleid jedoch keine Spur. „Und so leid es mir tut, ich hoffe im Augenblick, dass du dich auch genauso fühlst. Vielleicht lernst du daraus. Aber wenn ich mir überlege, wie unbelehrbar, ungezogen und unvernünftig du bist, kann ich wohl nicht damit rechnen. Oh nein, du lässt mich jetzt ausreden. Ich will eigentlich gar nicht mehr wissen, wen du alles in diese Geschichte mit hineingezogen hast. Du warst nicht allein und du bist vermutlich auch nicht selbst in den Vorratskeller eingebrochen. Dafür hast du ja deine 'Untergebenen'.“ Er betonte das letzte Wort besonders. „Und in Anbetracht dessen, was dein Verhalten für Folgen hätte haben können – Folgen, die du nicht einen Augenblick bedacht hast – habe ich auch keine Lust mehr, mit dir eine ernsthafte Diskussion zu führen. Ich bin maßlos enttäuscht von dir, Lenyca Ac-Sarr.“

      Dieser Satz hatte gesessen. Doch er weckte auch Lennys' Trotz erneut.

      „Das ist meine Sache. Ihr Cas...“

      „Hatten als Kleinkinder schon ein besseres Benehmen als du jetzt. Du willst wie wir sein? Gut, das kannst du haben. Schade, dass ich das nicht schon heute nacht wusste. Dann hätte ich dich zum Wachdienst auf dem obersten Turm eingeteilt. Aber es ist ja noch nicht zu spät. Die Cas haben nämlich in etwa einer Stunde eine Unterredung mit Saton. Möchtest du mitkommen? Möchtest du so vor deinen Vater treten und ihm vielleicht von gewissen Vorkommnissen des vergangenen Abends berichten? Die Cas tun das! Du willst feiern wie wir? Dann musst du auch arbeiten wie wir! Also los! Zieh dich um und komm mit zum Shaj!“

      Lennys Blick senkte sich unwillkürlich.

      „Aha. Das gefällt dir als auch nicht, ja? Ja, zu dumm, dass man sich das nicht immer heraussuchen kann. Also dann wohl doch der Unterricht.“

      „Ich kann nicht....“ sagte sie kaum hörbar und