Christine Boy

Das Blut des Sichellands


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und vor allem, dass man Zeit für sie hatte, wenn sie es wünschte. Es fehlte ihr an Beschäftigung und so war es kein Wunder, dass sie verärgert über das anstehende Gelage der Cas war, von dem sie natürlich ausgeschlossen war.

      Der Diener dachte nach. Seit fast vier Jahren war er nun vor allen anderen für das Wohlergehen von Satons Tochter verantwortlich. Zuerst hatte sie ihn wie Luft behandelt, doch seine Engelsgeduld, seine Verschwiegenheit und nicht zuletzt sein einnehmender Humor hatten sie im Laufe der Zeit dazu gebracht, Afnan nicht nur zu akzeptieren, sondern ihn auch weniger herrisch zu behandeln als das restliche Personal Vas-Zaracs. Vermutlich kannte Afnan sie inzwischen besser als die meisten anderen Menschen, einschließlich Wandan. Vor dem hohen Cas verbarg sie ihre heimlichen Streifzüge und auch einige andere Regelverstöße, Afnan jedoch war stets eingeweiht. Das war nicht nur unvermeidlich, sondern hin und wieder auch von Nutzen, und solange er sie nicht an ihren Vater oder die Cas verriet, konnte er sich seinerseits sicher sein, diesen äußerst ehrenvollen Posten zu behalten. Es war ein stillschweigendes Arrangement und trotz des schlechten Gewissens des Dieners war sich dieser sicher, dass Lennys sich allmählich zu einer jungen Dame entwickelte, die keines ständigen Schutzes mehr bedurfte. Und hatte sie nicht gerade in den vergangenen Monaten geradezu vorbildlich ihre Pflichten erfüllt? Ihre Leistungen im Unterricht waren gut, besser als man es von jemandem erwarten konnte, der sich nicht sonderlich anstrengte.

      "Ihr könntet es doch den Cas gleich tun." schlug Afnan halbherzig vor. "Rahor Req-Nuur übernachtet heute gemeinsam mit seinem Vater in Vas-Zarac, weil Celdros zur Cas-Feier eingeladen wurde. Ihr könntet euch zusammen mit ihm und Osa und Taruq einen netten Abend machen und vielleicht sogar ein paar Säbelübungen absolvieren."

      Osa und Taruq. Die Tochter des Wäschers und der Sohn eines Kochs. Eigentlich kein Umgang für Lenyca Ac-Sarr, aber in Vas-Zarac musste sie genügsam sein. Die Zahl der Gleichaltrigen war gering. Da war Rahor Req-Nuur schon interessanter. Im Herbst würde er der Säule der Nacht beitreten und die ersten Säbelprüfungen in den Kasernen absolvieren. Lennys hatte schon einige Male zum Spaß gegen ihn gekämpft und obwohl Rahor zwei Jahre älter war als sie, hatte sie ihn jedes Mal geschlagen. Außerdem war er der Sohn eines großen Kämpfers und somit eine weitaus angenehmere Gesellschaft als die Kinder der Dienstboten.

      "Rahor ist in Vas-Zarac?" fragte sie noch einmal nach. "Und er hat heute abend frei?"

      "Genau wie ihr, junge Herrin." nickte Afnan. "Euer Vater hätte sicher nichts dagegen, wenn ihr euch zusammensetzt und ein wenig plaudert. Ich könnte euch vielleicht sogar noch einen kleinen Imbiss aus der Küche besorgen."

      Sie zuckte die Achseln. "Warum nicht?" Es war immer noch besser, als sich zu langweilen und die ganze Zeit über auf Wandan zu warten, der ja doch nicht kam.

      "Wünscht ihr, dass ich Osa und Taruq Bescheid gebe?"

      Eigentlich hatte Lennys auf die beiden keine große Lust. Sie waren schon in Ordnung, aber was sollte Rahor von ihr halten, wenn sie sich mit solchen einfachen Leuten abgab? Andererseits konnte es ihr egal sein, was irgendjemand von ihr dachte. Und zu viert hatten sie wahrscheinlich auch mehr Spaß.

      "Meinetwegen. Sag ihnen, sie sollen bei Sonnenuntergang zu den Rosenhecken kommen. Es bleibt sicher trocken heute abend."

      Erleichtert nickte Afnan. "Ich denke auch. Wenn ihr mich dann entschuldigen würdet, Herrin? Es ist schon spät und wenn ich noch jemanden in der Küche erreichen will, sollte ich mich beeilen."

      "Geh nur. Und vergiss nicht, Rahor zu suchen!"

      Es war ein schwüler Abend und selbst jetzt, da die Sonne schon halb hinter dem Horizont versunken war, kühlte die Luft kaum ab. Lennys stand in ihrem Schlafzimmer und betrachtete nachdenklich ihren Shajkan. Es war längst nicht mehr der, den sie acht Jahre zuvor von dem Hufschmied bekommen hatte, sondern ein prächtiges Stück aus der Hand eines Waffenschmieds. Und sie durfte ihn inzwischen auch bei sich behalten, selbst wenn sie keinen Unterricht hatte. Wandan hatte ihr einmal erklärt, dass das eine sehr große Ehre und keineswegs selbstverständlich sei, denn für gewöhnlich erhielten die Säbelschüler ihren ersten Shajkan erst mit dem Eintritt in die Kaserne.

      Sie fragte sich, ob Rahor schon einen eigenen Säbel besaß. Zweifellos würde dieser hier ihn beeindrucken und Lennys machte gern auf sich aufmerksam. Das war auch einer der Gründe, warum sie Afnans Vorschlag zugestimmt hatte, Osa und Taruq einzuladen. Beide bewunderten die Tochter des Shajs und schon allein deshalb lohnte es sich, sie hinzuzuziehen.

      Sie schob den Shajkan wieder in seine Scheide, die sie an ihrem Ledergürtel befestigte. Dann sah sie zum Fenster. Gleich war die Sonne ganz versunken. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, das Kommen der drei Geladenen ungeduldig zu erwarten, aber im Grunde war sie genau das. Ungeduldig.

      Das kleine Rasenstück mit den Rosenhecken lag nahe an ihrem Zimmer. Sie horchte. Waren da nicht Stimmen? Nein, sie würde nicht länger in diesem stickigen Raum ausharren, ganz gleich ob sie die Erste am Treffpunkt war oder nicht. Mit einem letzten stolzen Blick auf die schillernde Waffe an ihrem Gürtel ging sie nach draußen.

      Tatsächlich wurde sie dort schon erwartet. Alle waren gekommen. Osa, die ängstliche Wäschertochter, der kräftig gebaute Taruq und... Rahor. Natürlich, ob er wollte oder nicht, Rahor Req-Nuur hatte kommen müssen. Eine Einladung der Tochter des Shajs schlug man nicht aus, aber sein strahlendes Lächeln erweckte nicht den Eindruck, dass er wider Willen hier war.

      "Schön dich zu sehen, Lennys."

      Sie nickte ihm zu.

      "Du hast deinen Shajkan mitgebracht? Möchtest du mich etwa wieder herausfordern?"

      "Die Frage ist, ob du mit einer weiteren Niederlage leben kannst, Rahor."

      "Ich bin besser geworden." lachte der Sechzehnjährige. "Aber ich beweise dir das gern selbst. Weiß Wandan, dass du den Säbel bei dir hast?"

      "Es geht ihn nichts an. Ich darf ihn tragen, wann immer ich will."

      Rahor nickte.

      "Ich verstehe. Ich übrigens auch. Seit einer Woche. Hier, das ist er."

      Er zog die Waffe aus der Scheide und Lennys stellte beruhigt fest, dass sie zwar sehr schön, aber nicht ganz so wertvoll war wie ihre eigene.

      "Afnan war übrigens gerade hier." versuchte nun Taruq, auf sich aufmerksam zu machen. "Er sagte, er käme gleich zurück, falls du nach ihm fragst. Er wollte uns etwas zu essen bringen."

      "Ja, er hat sowas erwähnt." nahm Lennys den Einwurf gleichgültig zur Kenntnis. "Er meinte, wenn die Cas feiern, können wir das auch."

      "Die sind aber besser ausgerüstet als wir." grinste Rahor.

      "Das weiß ich auch!" fuhr Lennys ihn an. Es ärgerte sie, dass Rahor das Treffen nicht wirklich ernst zu nehmen schien. Doch dann kam ihre eine Idee.

      "Du wirst dich noch wundern! Wir sind gar nicht so schlecht dran, wie ihr denkt! Warte nur ab."

      Kurz darauf kehrte Afnan zurück. Er war mit zwei großen Platten beladen, auf denen allerlei Köstlichkeiten aufgestapelt waren. Obst, Gebäck und kalter Braten verströmten in ihrer Mischung einen ungewöhnlichen, aber durchaus angenehmen Duft.

      "Nicht übel...." meinte Rahor anerkennend, doch Lennys winkte Afnan zur Seite.

      "Es ist ziemlich warm." sagte sie, leise genug, dass nur der Diener sie hören konnte.

      "Da habt ihr recht, Herrin." Doch dann begriff er. "Oh, ich verstehe. Verzeiht, dass ich nicht daran gedacht habe. Ich werde gleich gekühlte Säfte aus den Kellern holen."

      Sie zog die Brauen hoch, so wie er es schon oft gesehen hatte, wenn gleich darauf eine abfällige Bemerkung folgte.

      "Für die anderen vielleicht. Ich will etwas Richtiges zu trinken."

      Afnan räusperte sich. "Das würde der hohe Shaj aber gar nicht gern sehen. Aber wenn ihr darauf besteht,... vielleicht kann ich eine Flasche Met..."

      "Sijak."

      Beinahe hätte sich Afnan vor Schreck verschluckt.

      "Herrin,... das