Christine Boy

Das Blut des Sichellands


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nur an die gegenüberliegende Wand. Doch da gab es nichts, was sie hätte ansehen können, außer nackten, dunkelgrauen Stein.

      "Lennys? Ist alles in Ordnung?"

      Sie nickte kaum merklich, aber Wandan war keineswegs beruhigt.

      "Was ist los? Fühlst du dich nicht wohl?"

      Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

      "Tut dir etwas weh? Ist dir schlecht?"

      Es dauerte einen Moment, dann sagte sie, so leise, dass Wandan es kaum hören konnte:

      "Ist sie weg?"

      "Wer? Alasna?"

      "Nein..."

      "Wer soll weg sein?" Er sah sich noch einmal um. "Hier ist niemand, Kleines. Hast du vielleicht schlecht geträumt?"

      "Ich habe nicht geträumt. Sie war da."

      "Wer war da?"

      Er griff nach ihrer Hand und als er sie berührte, fühlte er nur eisige Kälte.

      "Die Schlange..." sagte sie tonlos.

      Wandan fühlte sich wie von einem Schlag niedergestreckt.

      "Was hast du gesagt?"

      "Sie war hier... ist sie weg?"

      Der Krieger sprang auf, packte das Mädchen, nahm sie auf den Arm und stürmte mit ihr nach draußen. Auf dem Weg zu den Ratssaal schossen ihm tausende Gedanken durch den Kopf.

      "Sie ist weg..." sagte er immer wieder. "Mach dir keine Sorgen, sie ist weg, Lenyca. Es ist alles in Ordnung."

      Nichts war in Ordnung.

      Gar nichts.

      Er spürte, wie das Kind sich an ihn drückte und allein das beunruhigte ihn mindestens genauso sehr wie ihre Worte. Sie hatte Angst. Und sie hatte noch nie Angst gehabt.

      Dann endlich, die große Doppelflügeltür zum Ratssaal. Ein Diener, der davorstand, machte Anstalten, anzuklopfen, um Wandan anzukündigen, doch der oberste Cas schob ihn einfach zur Seite und stieß das Portal auf.

      Um einen langen Tisch saßen beinahe zwanzig Personen. Wandan kannte sie alle. Es waren vor allem Dunen, also die obersten Händler, Handwerker und Bauern des Landes, aber auch zwei Rechtsprecher und - natürlich - der Shaj Saton, der am Kopfende der Tafel Platz genommen hatte. Die Köpfe flogen herum und eine Frau, die anscheinend gerade einen Bericht vorgetragen hatte, verstummte.

      "Saton!" rief Wandan, ohne für sein Stören um Verzeihung zu bitten. "Saton! Du musst kommen. Schnell!"

      Erst jetzt erkannte der Herrscher, dass Wandan seine eigene Tochter auf den Armen hielt. Diese klammerte sich inzwischen an der Lederkleidung des Kriegers fest und vergrub ihr Gesicht darin.

      Ohne weiter nachzufragen oder sich der Versammlung zu erklären, sprang Saton auf und eilte auf Wandan zu.

      "Was ist passiert?" fragte er kreidebleich und versuchte, Lennys von Wandan zu lösen, aber das Mädchen schien ihren Vater gar nicht zu bemerken.

      Doch Wandan wollte nicht antworten. Nicht jetzt, nicht hier, nicht vor all diesen Menschen. Saton schien zu verstehen.

      "Nach oben." sagte er nur.

      Im Schlafgemach des Shaj war es dämmrig und still. Er empfing niemals Besuch in diesem Raum und er konnte sich nicht erinnern, wann Wandan ihn zuletzt hier in seiner Ruhe gestört hatte, um ihm einen Angriff durch Feinde oder ähnliche unaufschiebbare Meldungen zu überbringen. Es musste Jahre her sein.

      "Sie schläft." sagte der Heiler. "Mindestens bis morgen früh. Das Mittel wirkt. Hoher Shaj, ich könnte vielleicht mehr für sie tun, wenn ich wüsste, was..."

      "Du kannst nicht mehr für sie tun. Lass uns jetzt allein."

      Der Mann nickte und verschwand.

      Saton und Wandan blieben zurück und ihr beider Blick ruhte jetzt auf dem schlafenden Mädchen, das sich unter einer Wolldecke auf Satons Bett zusammengerollt hatte. Der Shaj beugte sich hinunter, gab ihr einen Kuss auf die Wange und streichelte ihre Schulter.

      "Es war kein Traum." sagte er leise.

      Wandan nickte.

      "Ich weiß."

      "Sie sagte, die Schlange hätte ihr wehgetan."

      "Sie hat keine Verletzungen."

      Saton schüttelte den Kopf.

      "Das hatte ich auch nie. Aber... so früh... es ist doch viel zu früh..."

      "Wie alt warst du damals?"

      "Fast elf."

      "Kannst du dich noch daran erinnern?"

      "Wie könnte ich es je vergessen? Ich glaube nicht, dass sie große Schmerzen hatte. Das hatte ich auch nicht. Er hat mir auch wehgetan, ja. Aber nicht sehr. Aber, meine Güte, sie ist erst sechs!"

      "Warum zeigt er sich ihr so früh?"

      Obwohl der Shaj die Antwort zu kennen glaubte, sagte er nichts. 'Ist das deine Rache, Ash-Zaharr?' fragte er sich. 'Es ist nicht ihre Schuld. Lass sie nicht für etwas bezahlen, das andere getan haben. Sie ist doch noch ein Kind.'

      "Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein, Wandan. Er hat sie erschreckt. Ich habe sie nicht darauf vorbereiten können, weil ich niemals geglaubt habe, dass er sie jetzt schon... War das ein Fehler?"

      "Du konntest es nicht wissen."

      "Wirklich nicht? Vielleicht hätte ich es wissen müssen. Ich werde es ihr erklären müssen. Alles. Aber ich wünschte, ich hätte es vorher getan. Ich habe wohl mit allem... zu lange gewartet."

      29. Tag des Assmon im 22. Jahr Satons

      "Ich verstehe ihn einfach nicht."

      Sichtlich verärgert ging Saton im Ratssaal auf und ab. Die Gruppe, mit der er sich heute zusammengefunden hatte, war kleiner als üblich, doch die Mitglieder umso bedeutsamer.

      Ron-Caha-Hel, der Shaj der Erde.

      Maliss, die Shaj des Himmels.

      Viriqua, die Oberin des semonischen Tempels.

      Talmir, der höchste Priester aus Zarcas.

      Die neun Cas.

      Nur einer, der eigentlich zu der Runde gehören sollte, fehlte.

      "Du hättest ihm nicht die Wahl lassen sollen." brummte Wandan. "Freiwillig wird er nie aus Yto herunterkommen."

      "Freiwillig? Seit Jahren liegt er mir in den Ohren mit dieser Angelegenheit. Und jetzt, da wir endlich bereit sind, hält er es nicht einmal für nötig, nach Semon-Sey zu reisen!"

      "Er wäre gekommen, wenn du es von ihm verlangt hättest. Du bist der Shaj."

      "Wenn überhaupt jemand Mondor hierher befehlen sollte, dann ist es Maliss."

      Die alte Priesterin wich zurück.

      "Ich? Mondor etwas befehlen? Verzeih, aber das würde mir im Traum nicht einfallen. Er ist ein Batí. Priester hin oder her. Der einzige, dessen Befehle er akzeptiert, bist du, Saton. Aber ich muss sagen, ich kann verstehen, dass man ihn nicht unter Druck setzen sollte. Er ist ein ziemlicher Querkopf."

      "Meine Rede, verehrte Shaj." schaltete sich nun Talmir ein. "Und überhaupt - wozu brauchen wir ihn? Es war sein Vorschlag, zugegeben, aber was hat er denn zu der Umsetzung beigetragen? Er ist stets oben in Yto geblieben und wer hat die Arbeit gemacht? Wir! Weshalb muss er jetzt zwingend an den letzten Entscheidungen beteiligt sein?"

      "Weil ich es will!" donnerte Satons Stimme durch den Saal. Alle Anwesenden verstummten. "Ich würde niemals - hört ihr - niemals - solche wichtigen Beschlüsse fassen, ohne dass der oberste Batí-Priester ihnen zustimmt! Niemals!"

      "Wenn Mondor etwas dagegen hätte, wäre er sicher hier, um seine Meinung