Pseudonym Fronlacher

Der Sumpf des Bösen


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stellen, Herr Fritsch?“, fragte der Kripochef, mit dem Fritsch bislang kaum zu tun gehabt hatte. Mord und Totschlag waren in Gondorf nicht gerade an der Tagesordnung.

      „Es freut mich ja, dass der zuständige Mann mit der Presse spricht“, entgegnete Fritsch mit einem schwachen Lächeln. „Was soll denn der ganze Aufzug: Gehen Sie von Mord aus?“

      „Die Fragen stelle ich, werter Lokalchef“, entgegnete Lange kurz angebunden. „Sie haben laut Polizeifunk um 8.03 Uhr einen Unfall gemeldet. Was haben Sie denn so früh am Morgen an dieser gottverlassenen Stelle gemacht?“

      „Das hab' ich Ihren Kollegen bereits erzählt. Ich hatte am 8 Uhr oben an der Straße eine Verabredung. Weil ich zu früh dran war, hab ich bei der Kapelle im Wald noch eine Zigarette geraucht und plötzlich einen lauten Knall gehört. Dann bin ich sofort hierher gefahren und hab' das brennende Auto in der Schlucht gesehen. Den Rest kennen Sie.“

      „Mit wem waren Sie denn verabredet?“

      „Mit meinem alten Schulfreund Hans Schneider, der vor 20 Jahren nach Südamerika ausgewandert ist. Der wollte mich dringend sprechen und hat diesen Treffpunkt vorgeschlagen.“

      „Fanden Sie das nicht seltsam?“

      „Doch, aber bei einem Ferngespräch aus Buenos Aires bleibt nicht viel Zeit zum Diskutieren.“

      „Und ist Ihr Freund gekommen?“

      „Machen Sie Witze?“

      „Haben Sie irgendetwas gehört oder gesehen, etwa ein anderes Auto, als Sie von der Kapelle zum Unfallort gefahren sind?“, hakte Lange nach.

      „Nein, nichts.“

      „Und Ihnen ist auch kein Fahrzeug entgegen gekommen?“

      „Ich kann mich nur wiederholen: Ich habe nichts gesehen.“

      Lange gab es auf: „Danke, das wär's fürs Erste. Fahren Sie erst mal heim zum Duschen und Umziehen. Ich möchte Sie aber bitten, heute Nachmittag aufs Revier zu kommen.“

      „Vor 18 Uhr wird das nicht gehen, ich muss schließlich noch meine Arbeit machen“, wandte Fritsch ein. Lange nickte nur. „Ah, Herr Kommissar, noch eine Frage: Wissen Sie, wer im Wagen war?“, rief ihm Fritsch nach.

      „Das sage ich Ihnen jetzt nicht als Reporter, sondern als Zeugen, der mit einem alten Bekannten verabredet war“, antworte Lange. Und nach einer Kunstpause fuhr er fort: „Wir haben im Wagen eine Leiche gefunden, total verkohlt und entstellt. Unsere Techniker konnten aber wenigstens das Nummernschild des Wagens rekonstruieren. Die Ermittlungen sind bereits angelaufen. Ich gehe davon aus, dass wir sehr bald sagen können, ob es sich bei dem Toten um Hans Schneider handelt.“

      Fritsch sagte mehr zu sich selbst: „Hans Schneider und ich waren während der Schulzeit nicht gerade die besten Freunde. Wir hatten die letzten 20 Jahre keinerlei Kontakt. Aber dass jemand so endet, das wünscht man nicht mal seinem schlimmsten Feind.“

      Jetzt wollte Lange doch noch etwas wissen: „Haben Sie irgendeine Ahnung, warum Schneider gerade Sie treffen wollte?“

      „Nein, er hat mich nur um eines gebeten: Ich sollte keinem Menschen etwas sagen von dem Treffen. So, aber jetzt muss ich los.“

      „Klingt interessant, was sie sagen“, rief ihm der Kripochef nach. „Denn wenn es kein Unfall war, dann sind Sie wohl der Hauptverdächtige.“

      DREI

      Beim Heimfahren erwachte der journalistische Jagdinstinkt von Fritsch. Was für eine Story, damit konnte er bei seinen Chefs in Waldham punkten und vermutlich auch Texte an die befreundete Boulevardzeitung in München verkaufen. Er sah die Schlagzeilen schon vor sich: „Tragödie wiederholt sich 20 Jahre später.“

      Im selben Moment verfluchte er sich für seinen Egoismus. Was er im Laufe der Jahre zu einem Zyniker geworden, der nur noch an sein berufliches Fortkommen und an tolle Schlagzeilen dachte? Immerhin war gerade ein Mensch gestorben, vermutlich jemand, den er persönlich gekannt hatte, mit dem er gemeinsam zur Schule gegangen war. Spürte er keine Trauer?

      Fritsch stellte überrascht fest, dass für dieses Gefühl offenbar kein Platz war. Er spürte vor allem Ärger. Ärger auf sich selbst, weil er zu spät gekommen war. Hätte er den Mord, den Unfall, den Selbstmord verhindern können, wenn er nicht geraucht hätte, wenn er fünf Minuten früher am Treffpunkt gewesen wäre? Dieser Gedanke nagte an ihm. Aber zu seiner Verblüffung spürte er auch leisen Ärger auf Hans Schneider. Hatte dieser ihm die Rolle als billigem Claqueur bei seinem Selbstmord zugedacht? War er nur als Zeuge vorgesehen, der darüber berichten konnte, dass Hans Schneider sich auf melodramatische Weise das Leben genommen hatte?

      Als guter Journalist hatte Fritsch gelernt, Fakten herauszuarbeiten und die richtigen Fragen zu stellen. Die Fakten hatte er schnell durch. Hans Schneider – wer sonst sollte an einem regnerischen Sonntagmorgen an diesen gottverlassenen Ort gekommen sein? – lag tot in seinem Wagen in der Schlucht. Viel wichtiger waren die Fragen: Warum war Schneider nach 20 Jahren zum ersten Mal aus Südamerika zurückgekehrt? War wirklich nur das Klassentreffen, zu dem er ihn eingeladen hatte, der Grund? Warum hatte er ausgerechnet ihn treffen wollen? Und warum lag er jetzt tot in der Schlucht? Wer es ein Unfall, Selbstmord oder Mord?

      Auf der Straße Richtung Kreisstadt ging er die Topographie des Tatorts im Geiste durch. Es gab zwei Wege zu der Stelle, an der der Unfall – oder das Verbrechen – passiert war. Den einen Weg, runter von der Kreisstraße, durch den Wald und an der Kapelle vorbei bis zum höchsten Punkt, an dem der Wald aufhörte, hatte er genommen. Der andere Weg führte durch mehrere Dörfer, das letzte davon Hinkofen, und schließlich durch eine S-Kurve steil hinauf zu der Bank.

      Nachdem er bei der Rauchpause an der Kapelle keine Autos gehört hatte, musste Schneider entweder vor ihm gekommen sein oder den anderen Weg genommen haben. Dafür sprach auch, dass dies die kürzere Strecke von der Autobahn aus war. Auf diesem Weg kam man auf dem Steilstück an einem verlassenen Gehöft vorbei, das vor 20 Jahren noch bewohnt war. Weil dieser Bauernhof aber in einer Senke lag, hatten die Bewohner damals nichts gehört von dem Unfall und hätten auch dieses Mal nichts gehört. Aber es lebte eh niemand mehr auf dem Hof.

      Vor 20 Jahren hatte es viel Geschrei um die Sicherheit auf der „Todesstrecke“ gegeben. Man hatte verlangt, die Stecke in der steilen S-Kurve und oben auf dem kleinen Hochplateau durch dicke Leitplanken zu sichern. Fritsch hatte damals die Diskussion genau verfolgt. Schließlich ließ die Polizei sogar durch Studenten eine Verkehrszählung durchführen. 14 Fahrten pro Woche wurden gezählt, an einem Tag waren 4 Autos unterwegs, das war Rekord. An zwei Tagen war überhaupt kein Verkehr. Deshalb beließ es die Polizei dabei, ein großes Gefahrenschild aufzustellen und Tempo 30 rund um die gefährliche S-Kurve zu verhängen.

      Auf der Anhöhe, bevor es die S-Kurve hinunterging, gab es seit 20 Jahren einen kleinen Parkplatz, eine Bank und ein Kreuz. Die Bank und das Kreuz hatten die Eltern der drei tödlich Verunglückten vor 20 Jahren gestiftet. An dieser Stelle hätte das Treffen zwischen Fritsch und Schneider stattfinden sollen,

      Nach dem schrecklichen Unfall wurde die Hütte im Wald für einige Jahre von den Einheimischen gemieden. Für kurze Zeit kam sie dann in der Gothic-Szene in Mode, die dort so eine Art Schwarze Messen feierten. Durch strenge Kontrollen der Polizei wurde den Punks aber der Spaß an diesen Festen genommen.

      Als Fritsch zum 15. Jubiläum eine Geschichte über die damaligen Ereignisse schrieb, hatte er die Hütte durch ein dickes Schloss gesichert vorgefunden. Das Ganze machte einen unbenutzten und leicht verfallenen Eindruck. Daran dürfte sich in den letzten fünf Jahren nichts geändert haben. Als Fritsch all diese Punkte in seinem Kopf durch ging, spürte er plötzlich einen gewaltigen Adrenalinstoß: Alles sprach für Mord – zumindest dieses Mal. Der Anruf bei Clarissa musste wohl noch einen Tag warten.

      VIER

      Eine halbe Stunde später fuhr Kommissar Lange dieselbe Strecke. Er war guter Laune, ihm gefiel, was er sah – hügeliges Land, dünn besiedelt,