Runde geht an Mondor...“ spottete Sham, doch sogleich erstarrte er. Vor ihnen stand ein schwarz gekleideter alter Mann, dessen Rücken zwar vom Alter gebeugt war, dessen Augen aber noch pechschwarz und hellwach durch den grauen Morgen funkelten. Ein langer grauer Bart und die grauen Haarsträhnen, die unter der Kapuze hervor wehten, bildeten einen merkwürdigen Kontrast dazu. Er stützte sich auf einen glatten Stab aus demselben schwarzen Holz, aus dem hier auch die Möbel und Türen gezimmert waren.
„Junger Sham-Yu, du solltest doch langsam gelernt haben, dass die Niederlage des einen nicht unbedingt den Sieg des anderen verheißt...“ krächzte der Alte.
„Verzeiht, Mondor, es war nicht so gemeint...“ Mit einem Mal wirkte Sham ganz verlegen und schien sich gar nicht mehr wohl in seiner Haut zu fühlen.
„Ich fürchte, du hast es genau so gemeint. Du denkst zu wenig nach, bevor du redest, junger Sham-Yu...“ Er wandte sich an Rahor. „Und du, Rahor, solltest nicht gerade du ihm ein gutes Vorbild sein? Bist nicht du gleichzusetzen mit einem älteren Bruder, den er nicht hat?“
„Er ist ein Cas, Mondor. Er braucht keine Vorbilder, er muss selbst lernen.“ Rahor sah dem Priester gerade in die Augen. Dieser verzog seinen schiefen Mund zu etwas, dass vielleicht ein Lächeln sein sollte.
„Nicht dumm, Rahor, nicht dumm. Aber jetzt geht und lasst mich mit dieser jungen Dame allein.“ Sara zuckte zusammen. Rahor und Sham wechselten misstrauische Blicke.
„Keine Sorge, ich werde sie weder dem Dämon opfern noch in eine Ratte verwandeln. Sara, nicht wahr? Ich habe interessante Dinge über dich gehört. Und ich halte es für dringend nötig, dass wir uns einmal unterhalten...“
„Weiß Lennys davon?“ fragte Rahor streng.
„Oh, sie weiß es, sie weiß es...“ Mondor schien über Rahors Reaktion eher belustigt als verärgert. „Auch wenn sie keine Notwendigkeit für ein solches Gespräch sieht. Aber … ich tue das sehr wohl. Nun, ...Sara....“
Rahor wollte noch etwas sagen, doch Sara kam ihm zuvor.
„Ich bin einverstanden.“
Zufrieden nickte Mondor. „Anscheinend ziehen es diese beiden jungen Krieger vor, an Ort und Stelle Wache zu halten. Darf ich dich also hinein bitten? Am Kaminfeuer redet es sich wohl auch viel besser als hier draußen...“
Sie waren gerade ein paar Schritte gegangen, als Rahor ihnen hinterherrief:
„Ich warne dich, Mondor! Sollte ich irgendetwas erfahren, was mir nicht gefällt, werde ich dafür sorgen, dass du den Rest deines Lebens in Shanguin verbringst!“
Im Hauptteil der Burg brannten keine Lampen. Die fahle Morgensonne vermochte die dunklen Gänge und Hallen, die sie durchquerten, kaum zu erhellen und so bekam Sara nur wenig vom Innern des Gebäudes zu sehen. Es war weit größer als der Nebeltempel und auch die Burg Orjopes konnte sich nicht mit dieser Festung messen. Zur großen Überraschung der Novizin gab es kaum Teppiche oder Läufer, keine reichen Verzierungen und keine Bilder oder sonstigen Wandschmuck. Sie kannte Lennys' Vorliebe für klare, nüchterne Einrichtungen, aber sie hätte nicht gedacht, dass ihre Herrin dies so konsequent umsetzte.
Der alte Mondor bewegte sich für sein Alter unerwartet flink und seine Schritte waren so kraftvoll wie die eines jungen Mannes. Als sie nach schier endlosen Treppenaufgängen und Fluren endlich das Kaminzimmer erreichten, war er noch nicht einmal annähernd außer Atem.
Der Lehnstuhl vor dem Kaminfeuer war verwaist. Nur ein leerer Kelch, der daneben stand, verriet, dass dort vor nicht allzu langer Zeit jemand gesessen haben musste. In einer Ecke auf der anderen Seite des quadratischen Raumes standen mehrere gepolsterte Hocker um einen niedrigen runden Tisch.
„Ich habe mir erlaubt, uns etwas zum Aufwärmen bringen zu lassen.“ sagte Mondor höflich und deutete auf die Teebecher, deren tiefroter Inhalt entfernt nach Waldbeeren duftete.
Etwas angespannt nahm Sara Platz. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was der Oberpriester der Batí mit ihr besprechen wollte. Mondor war ihr unheimlich. Zwar weckten seine wohlgewählten Worte kein Misstrauen, aber wenn er sie mit seinen durchdringenden Augen ansah, hatte sie das Gefühl als könne er Gedanken lesen. Ein Eindruck, den sie auch nach ihrer ersten Begegnung mit Lennys gehabt hatte.
Der Alte hielt sich nicht mit langem Geplänkel auf.
„Was weißt du über die Batí?“
'Nichts.' dachte Sara im ersten Moment. Aber dieser Impuls verschwand und so begann sie langsam, ihre Erinnerung arbeiten zu lassen.
„Nicht viel. Als Ash-Zaharr sein Blut mit den auserwählten Menschen teilte, fürchteten diejenigen, die zum Krieger ausersehen waren, das kostbare Geschenk könne vielleicht durch ein Unglück oder eine bevorstehende Schlacht verloren gehen. Also fügte sich der Blutsträger eine Wunde zu und vermischte sein Blut mit dem anderer Krieger, so dass jeder von ihnen einen Teil Ash-Zaharrs in sich trug. Der Schlangendämon aber erfuhr davon und nannte diese Krieger Betrüger und Verräter. Die Batí tragen größere und gefährlichere Kräfte in sich als die anderen Cycala, aber sie haben auch andere Eigenschaften von Ash-Zaharr geerbt und sie verehren den Dämon auf eine andere Art und Weise, als es die restlichen Cycala tun. Heute glauben die meisten, dass es sich bei diesem Blutgeschenk um eine Legende handelt.“
„Eine schöne Zusammenfassung.“ lobte Mondor. „Für eine Mittelländerin bist du erstaunlich gut informiert. Zumindest, was die Geschichte über die Entstehung der Batí angeht. Was denkst du darüber? Glaubst du, dass sie wahr ist?“
„Ich...?“ Sara hatte nicht mit einer solchen Frage gerechnet. „Eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht.“
„Natürlich nicht. Warum solltest du auch? Du bist mit anderen Legenden aufgewachsen. Wie ich hörte, hast du im Nebeltempel im Mittelland gedient?“
„Das ist richtig.“
„Und man hat dich dort gelehrt, die Großen Mächte zu verehren, mit Ausnahme unseres Gottes Ash-Zaharr?“
„Wir haben eigentlich nie über ihn gesprochen...“
„Aber du weißt, wie Sacua entstanden ist und welche Rolle er dabei gespielt hat?“
„Natürlich.“
„Weißt du, Sara, es gibt Menschen, die halten nicht viel von diesem alten Glauben. Einige zweifeln sogar die Existenz der Mächte an... halten sie für eine Metapher für die Kraft der Natur. … Glauben nicht an Götter und Dämonen und denken, wir Priester wären alle nur Spinner...“
„Ja, ich weiß. Es ist fast unmöglich, sie zu überzeugen.“
„Weil es keine wirklichen Beweise gibt. Nur Geschichten und Erzählungen. Erinnerungen. Es ist sehr, sehr wenigen Menschen vergönnt, eine Erfahrung zu machen, die ihnen die Existenz der Mächte beweist. Man kann sie ja nicht sehen oder hören. Und ob es für diese wenigen Ausersehenen ein Segen ist, wage ich eher zu bezweifeln.“
Jetzt begann sich Sara etwas unwohl zu fühlen. Sie glaubte zu wissen, worauf Mondor hinauswollte.
„Natürlich gibt es Ausnahmen...“ fuhr der Alte fort. „Du hast auch die Geschichten über unseren Schlangendämon gehört. Über seine Manifestation, über seine Erscheinung und seine Kräfte, die er uns Menschen spüren ließ..“
Sara antwortete nicht, aber ihr Verdacht hatte sich bestätigt.
„Du gehörst nicht zu denen, die diese Geschichten als Phantasterei abtun, nicht wahr?“
„Nein...“
„Weil du es besser weißt?“
„Ich...“
„Hast du nicht den Beweis erhalten? Damals, in Sagun...?“
„Ich glaube nicht, dass ich darüber sprechen möchte.“
Sie hatte sich nie wirklich mit diesen Erinnerungen auseinandergesetzt. Und auch nicht damit, welche Bedeutung, das, was sie im Felsland erlebt hatte, vielleicht haben konnte.