zu nehmen. Im Gegenteil, er wirkte sogar recht zufrieden mit dem Verlauf des Gespräches. Er sah zum Fenster hinaus und beobachtete eine Weile lang zwei Raben, die scheinbar ziellos über dem Dienstbotenflügel kreisten.
„Es ist seltsam, dass ihr beide diesem Vorfall so wenig Bedeutung beimesst.“ sagte er dann. „Du weißt natürlich nicht wirklich, was geschehen ist. Aber Lennys hätte ich mehr Weitsicht zugetraut. Und es wäre mehr als angemessen gewesen, dich darüber aufzuklären. Doch möglicherweise... war sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“
Sara stand auf. „Ich möchte jetzt lieber gehen.“
„Bitte bleib noch einen Moment. Du darfst nicht denken, dass ich ihr einen Vorwurf mache. Keinen ernstzunehmenden jedenfalls. Es ist eine schwierige Situation, für sie noch mehr als für dich. Beinahe hätte sie auch mich im Unklaren gelassen. Es war eine für sie eher unwichtige Randbemerkung, die mich aufhorchen ließ. Natürlich hat sie mich darüber informiert, was ihr in Sagun getan habt und bei dieser Gelegenheit hat sie erwähnt, dass Akosh, ganz im Gegensatz zu dir, nicht in der Lage war, im entscheidenden Moment bis zu den Altären vorzudringen. Ich hakte nach und ich muss sagen, sie hat mir nur äußerst widerwillig mehr Informationen zukommen lassen. Und sie hat sich sehr darum bemüht, den Vorfall herunterzuspielen, wie mir scheint. Deshalb möchte ich gern einiges von dir erfahren.“
„Ich glaube nicht, dass Lennys das möchte.“
„Da hast du vollkommen recht. Sie war nicht gerade begeistert, als ich darauf bestand, mit dir zu sprechen. Nur leider ist ihr Wille ausnahmsweise einmal nicht entscheidend. Es besteht eine gewisse Notwendigkeit, diese Angelegenheit besser zu durchleuchten und auch wenn Lennys das Ganze wohl nicht so ernst nimmt, wie es angebracht wäre, musste sie meinem Anliegen letztendlich doch zustimmen. Sie weiß also, dass wir jetzt hier zusammensitzen und sie weiß auch, worum es in diesem Gespräch geht. Und sie hat, wenn auch nicht unbedingt freudestrahlend, ihre Zustimmung dazu gegeben.“
Zögernd setzte sich Sara wieder. Mondor lächelte zufrieden.
„Danke. Zuerst einmal werde ich dir kurz erklären, warum das, was du zu sagen hast, für uns überhaupt so wichtig ist. Damit wären wir auch gleich an dem Punkt, an dem Lennys' Meinung von der meinen abweicht. Ich bin gespannt, wie du darüber denkst.“
„Warum sollte meine Meinung überhaupt eine Rolle spielen?“ fragte die Novizin ablehnend.
„Oh, im Grunde genommen tut sie das nicht. Aber auch Lennys' oder meine Ansichten sind vollkommen unwichtig, denn sie ändern nichts an den Tatsachen. Aber wie wir mit der Wahrheit umgehen, kann sehr entscheidend für unser Schicksal sein. Es ist wie bei einem Kaufmann, dessen Lehrjunge immer wieder Gold aus der Kasse stiehlt. Ob der Kaufmann seinem Schüler vertraut oder nicht, es ändert nichts an der Schuld des Jungen. Doch wenn er die Augen öffnet und die Wahrheit erkennt, wird er den Lehrling hinauswerfen und so sich und sein Eigentum für die Zukunft schützen. Ich möchte, dass du verstehst, warum ich dich um diese Unterredung gebeten habe. Was du daraus machst und ob du ehrlich zu mir bist, ist allein deine Entscheidung. Aber sie kann unser aller Schicksal beeinflussen.“
„Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Lennys weiß doch viel besser als ich, was in Sagun geschehen ist...“
„Sie kennt die Hintergründe besser. Aber dennoch habt ihr Unterschiedliches erlebt. Aber dazu später. Ich habe dich vorhin nicht umsonst gefragt, ob du mit der Geschichte unserer Religion vertraut bist. Und du scheinst zumindest über die grundlegenden Dinge Bescheid zu wissen. Ash-Zaharr hat sich gegen die anderen Götter gestellt und sich stattdessen einem Menschenvolk zugewandt – den Cycala. Er schenkte ihnen sein Blut und zeugte Nachkommen. Soweit die Legende. Tatsache ist, dass seine Macht und auch die Macht seines Blutes unser Land zu dem gemacht haben, was es heute ist. Wir sind starke Krieger, mit denen sich kein anderes Volk messen kann, denn nur wir tragen sein Erbe in uns. Zu den Zeiten der Alten, die die geheimen Schriftrollen verfassten, wurden Rituale entwickelt, die es einigen Wenigen erlaubten, den Blutdämon anzurufen und seinen Beistand zu erbitten in Zeiten der Not und Bedrohung. Eines dieser Rituale wurde während des großen Krieges in Sagun durchgeführt. Du hast davon gehört. Niemandem ist es möglich, ein Volk zu besiegen, das sich diese Kraft zu Nutze macht. Wer kann schon den Gott des Todes unterwerfen oder in Schach halten? Nach allem, was Lennys und Akosh von ihrer Reise ins Verlassene Land berichtet haben, behauptet nun aber der Verräter Iandal, er habe genau das geschafft. Oder vielmehr: Er habe Ash-Zaharr dazu gebracht, sich von den Cycala ab- und ihm zuzuwenden. Er sagt, er kämpfe mit der Macht der Großen Schlange und das bedeutet nichts anderes als dass Ash-Zaharr nun auf der Seite der Hantua steht. Kannst du dir das vorstellen? Eigentlich ist es lächerlich. Warum sollte sich der Große von dem einzigen Volk lossagen, das seiner würdig ist, nur um einen feigen Verräter dabei zu unterstützen, uns mit einer Horde Bastarde im Rücken zu vernichten? Eigentlich sollten wir uns deshalb keine Sorgen machen. Aber Iandal ist mit einigen alten Riten vertraut und es ist durchaus möglich, dass er als geborener Sichelländer es geschafft hat, Ash-Zaharr anzurufen. Und wer weiß, wozu das letztendlich führen kann? Wir müssen auf der Hut sein! Wir müssen alles daran setzen, das Vertauen des Blutdämons ganz zurückzugewinnen. Er ist unberechenbar. Auch wenn er vielleicht nicht sein ganzes Volk vernichten würde, so ist es möglich, dass Iandal es geschafft hat, Ash-Zaharrs Wut neu zu entfachen. Du weißt, dass der Große nicht allen Cycala gleich wohl gesonnen ist. Sein Zorn währt nun schon viele hundert Jahre und er vergibt nicht leicht. Es könnte sein, dass Iandal ihn dazu bringt, einzelne Sichelländer zu bestrafen, die er für besonders schuldig hält. Für Ash-Zaharr wäre es ein Spiel. Iandal bedeutet ihm sicher nichts, aber für Iandal selbst wäre Ash-Zaharr ein Verbündeter von unschätzbarem Wert. Selbst wenn sich der Schlangendämon nicht hinter seine Soldaten stellt, so wäre es doch schon ein nicht unerheblicher Sieg, wenn die Schlange an ein paar hohen Sichelländern Rache für den Verrat unserer Vorväter nimmt. Im Gegenzug müsste Iandal ihm vielleicht nur ein paar wertlose Hantua opfern oder einen mittelländischen Tempel schänden. Nichts, was für Iandal ein großes Problem darstellt. Ash-Zaharr ist unser Gott und der Herr über das Sichelland. Aber er kann auch zu unserer größten Bedrohung werden.“
„Aber... was hat das denn alles mit mir zu tun?“
„Mit dir? Vielleicht nichts. Vielleicht war alles auch nur Zufall. Vielleicht auch nicht. Aber Tatsache ist, dass du ihm in Sagun begegnet bist. Allein das hat mich mehr als nur überrascht. Selbst im Sichelland kannst du diejenigen, die ihm wahrhaftig gegenübergetreten sind, an einer Hand abzählen. Ich habe unsere Geschichte mein Leben lang studiert und ich bin mir sicher, dass Ash-Zaharr sich nie zuvor einem anderen als seinem eigenen Volk gezeigt hat.“
„Er hat sich mir nicht gezeigt. Es tut mir leid, Mondor, aber du irrst dich. Da war nur schwarzer Nebel und...“
„Und? Eine Stimme? Oder zumindest das Gefühl, nicht allein zu sein? Wenn man bedenkt, dass eure Götter im Mittelland sich nicht einmal durch eine schwache Rauchwolke zu erkennen geben, finde ich allein den schwarzen Nebel schon durchaus bemerkenswert, wenngleich es nicht die endgültig wahre Gestalt des Großen ist. Mach dir nichts vor, Sara. Du warst Ash-Zaharr näher als jemals ein Fremdländer vor dir. Und umso beachtlicher ist es, dass du jetzt hier sitzt und davon berichten kannst. Er hat dich nicht angegriffen. Du bist unverletzt geblieben, nicht wahr? Ich frage mich also, warum. Was hat dich geschützt? Du hast ihn immerhin gestört. Da kommt die Shaj der Nacht und will seinen Geist in einem herrenlosen Land bannen. Das hat ihm sicher nicht gefallen. Und zu allem Überfluss taucht dann noch eine Mittelländerin auf, mehr noch, eine mittelländische Tempeldienerin. Gerade in dem Moment, da er sich der Shaj offenbart und sie an ihrem Vorhaben hindern will. Was wäre da naheliegender gewesen, als dich aus dem Weg zu räumen? Du warst für ihn doch vollkommen wertlos. Aber er hat es nicht getan. Und ganz nebenbei bemerkt, hat er auch Lennys nicht getötet. Und sei versichert, er hätte es gekonnt, wenn er gewollt hätte. Stattdessen hat er sich sogar ihrem Willen unterworfen und Sagun verlassen. Wir müssen unbedingt herausfinden, was die Gründe dafür sind. Wodurch er sich hat bändigen lassen. Verstehst du? Das ist vielleicht der Schlüssel zu unserem Überleben. Es gibt Sichelländer, die in großer Gefahr sind und sie wissen das. Sie wissen, dass sie sich seinen Zorn zugezogen haben. Dass er nur auf einen Grund wartet, sie tödlich zu bestrafen. Und es ist kein Geheimnis, wenn ich dir sage, dass wir