Hand, keine Stimme erhob sich.
Der Diener, der Sara aus ihrem kleinen Zimmer abholte, war ebenso mürrisch wie das restliche Personal, dem die Novizin bisher begegnet war. Er würdigte sie kaum eines Blickes und seine Aufforderung, ihr in den Großen Saal zu folgen, erklärte er auch nur mit den Worten „Befehl der Shaj.“ Er erlaubte ihr nicht, sich noch zurechtzumachen oder auch nur die Haare zu ordnen und auf dem Weg in den Hauptteil der Festung legte er ein ordentliches Tempo vor.
Sara hatte nicht einmal Zeit, sich über die merkwürdige Anweisung zu wundern. Nach dem Gespräch mit Mondor, das sich noch bis zum Mittag hingezogen hatte, waren wieder Menrir und Imra erschienen. Sie hatten sich lange unterhalten und ebenso wie ihre beiden Freunde war Sara zu dem Schluss gekommen, dass sie im Augenblick nur abwarten konnten. Es machte keinen Sinn, nervös über alle möglichen Varianten der Zukunft nachzudenken.
Der Große Saal lag direkt neben dem Kaminzimmer, in dem Sara einige Stunden zuvor mit Mondor gesessen hatte. Ein großes Portal, das sonst mit schweren Riegeln verschlossen wurde, glitt wie von Zauberhand auf, als der Diener an einem Seil daneben zog. Fünfzehn Augenpaare richteten sich gespannt auf die Novizin. Sara hörte, wie sich hinter ihr die Flügeltüren wieder schlossen.
„Bitte, Sara, nimm Platz.“ Talmir machte einen einladende Geste zu einem freien Stuhl neben Imra. Etwas verunsichert folgte sie seiner Bitte und erst als sie sich gesetzt hatte, glitt ihr Blick über die anderen Ratsmitglieder. Als er die Stirnseite gegenüber Talmirs Platz erreichte, fuhr sie fast unmerklich zusammen.
Viele Wochen hatte sie in Lennys' Begleitung verbracht und stets hatte sich in Gegenwart ihrer Herrin das gleiche Bild geboten. Streng zurückgebundene Haare, schwarze enge Lederkleidung und derbe Schnürstiefel, dazu ein cycalanischer Umhang und ein schwerer Gürtel, an dem Waffen und Beutel baumelten. Doch jetzt war ihr, als säße ein völlig anderer Mensch vor ihr. Und unzweifelhaft war es nicht Lennys, die Kriegerin, sondern eine sichelländische Herrscherin.
Die Ledergarderobe hatte sie gegen ein schwarzes, weites Ritualgewand getauscht, das aus dem gleichen glänzend-fließenden Stoff gewebt war wie die Umhänge er höchsten Würdenträger des Landes. Statt des breiten Gürtels hatte sie nur einen schmalen Riemen um die Hüften geschlungen, der nichts außer der schimmernden Sichelklinge trug und ihre langen schwarzen Haare lagen nun offen und seidig glänzend über ihren Schultern. Ein schmales, schlichtes Silberdiadem zierte Lennys' Stirn.
„Dein Freund Mondor war der Meinung, dass deine Anwesenheit in diesem auserwählten Kreis von Nutzen sein könnte.“ sagte Lennys kühl. „Die Mehrheit der hier Versammelten stimmte ihm zu. Also verbleibt mir nur, dich darauf hinzuweisen, dass all das, was hier gesprochen wird, an niemanden sonst weitergegeben werden darf. Wenn du gegen diese Regel verstößt, hast du dein Leben verwirkt.“
„Ich habe verstanden.“
„Dann können wir jetzt endlich mit der Besprechung beginnen. Wir haben schon mehr als genug Zeit verschwendet. Heute werden uns vor allem Menrir und Imra berichten, was im Süden vor sich geht. Vorher wünsche ich aber noch einen Bericht über die derzeitige Verwendung unserer Streitkräfte und Kundschafter.“
Es folgte eine längere Wortmeldung von Rahor und zwei weiteren Cas, die Sara nicht kannte. Sie leierten eine Reihe von Zahlen herunter und erklärten, welche Einheiten sich gerade zu Übungszwecken in den verschiedenen Teilen des Landes aufhielten. Auch eine genaue Aufschlüsselung der Wachdienst leistenden Soldaten sowie ein Bericht über ausgesandte Boten und Spione wurde verlesen und schließlich fügte Rahor noch die Anzahl vorhandener Streitrösser hinzu. Obwohl Sara von derlei militärischen Dingen nicht viel verstand, musste sie doch zugeben, dass es selbst Logs Armee schwerfallen würde, dem Sichelland ernstzunehmenden Schaden zuzufügen.
Anschließend folgte eine Erklärung von Talmir zum Fortschritt der Vorbereitungen für die Bestattung Makk-Uras und über die Regelung der Nachfolge des toten Shaj. Man hatte sich darauf verständigt, die Trauerzeit auf fünfundvierzig Tage zu begrenzen, was nur im Kriegsfall möglich war. Obwohl es noch keinen klaren militärischen Angriff der Hantua gegeben hatte, hielten es die beiden verbliebenen Shaj für sicherer, dem Land möglichst schnell ihren dritten Herrscher zurückzugeben. Dieser sollte in gut vier Wochen von den siebenundzwanzig hochrangigsten Vertretern der Geliebten der Erde erwählt und ernannt werden.
Nachdem mehrere Dienstboten frisches Obst und eine reiche Auswahl an Getränken serviert hatten, wurde schließlich Imra das Wort erteilt.
Auch den jüngeren Cas wie Sham-Yu war der Weber wohl bekannt. Obwohl er kein Krieger war und auch innerhalb der Handwerkersäule nur einen mittleren Rang bekleidete, hatte er doch einen guten Ruf im Sichelland. Er galt als verschwiegen, geduldig und stets gut informiert und in punkto Fleiß und Ausdauer war er auch heute noch vielen ein Vorbild. So war es wenig verwunderlich, dass seiner Berichterstattung die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wurde wie seinen Vorrednern.
„Die jüngsten Morde im Mongegrund haben nun auch die letzten Zweifler wachgerüttelt.“ erklärte er. „In beiden Fällen handelte es sich um ältere Männer, je einer in Mongetal und einer in Fangmor, die vor allem als Händler bekannt waren. Sie hatten keine Feinde, aber auch wenig Freunde. Es ist ziemlich sicher, dass auch hier die Hantua am Werk waren. Anders sieht es bei der toten Frau in Goriol aus. Sie gehörte zu einer Spielmannskapelle und hatte zahlreiche Männerbekanntschaften, die aber allesamt weniger gut auf sie zu sprechen waren, weil sie, wie es für eine Cycala typisch ist, in ihrem Alter nicht dazu neigte, feste Bindungen einzugehen. Wir können nicht vollkommen ausschließen, dass nicht vielleicht ein enttäuschter Liebhaber der Schuldige ist. Aber das ändert nichts an den Auswirkungen. Beinahe alle Sichelländer, die in kleineren Städten lebten, haben diese verlassen. Einige haben sich in Manatara verschanzt, wo es ja bis heute noch keinen einzigen Zwischenfall gegeben hat, die meisten sind aber ins Sichelland zurückgekehrt. Dasselbe gilt für die mittelländischen Gemeinschaften. Ein harter Kern ist in Goriol zurückgeblieben und Oras, der Vogelmann, bewohnt derzeit Menrirs Haus in Elmenfall, zusammen mit seiner Frau Haya, die ja ein Fremdblut ist. Von Fraj aus Gahl fehlt inzwischen jede Spur, was aber nicht unbedingt etwas heißen muss. Er ist ja ständig auf der Flucht vor irgendwelchen Leuten, bei denen er sich verschuldet hat. Natürlich ist den Wachen am Westbogen und den Einwohnern von Gahl nicht verborgen geblieben, dass in den letzten Tagen erstaunlich viele Menschen den Weg nach Norden angetreten haben und dass es sich hierbei nicht nur um kräftige Wanderer, sondern auch um Frauen, ältere Menschen und Kranke handelte. Zum Glück haben viele geistesgegenwärtig reagiert und sich als Shangu ausgegeben. Insgesamt dürften augenblicklich etwa zwanzig Cycala in Goriol leben, etwas mehr in Manatara. Unbekannt ist der Aufenthalt von weiteren etwa zwei Dutzend Sichelländern, wobei bei den wenigsten Grund zur Sorge besteht. Dass sie sich sogar vor ihren Gemeinschaften verborgen halten, ist vielleicht nur eine Vorsichtsmaßnahme. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, ob von diesen Vermissten noch welche über die Grenze kommen. Im Falle eines offenen Krieges werden sie sich uns gegenüber aber mit Sicherheit zu erkennen geben und uns auch unterstützen. Dasselbe gilt für die Gruppe in Goriol. Was Manatara angeht, bin ich mir nicht ganz so sicher. Die Cycala dort haben es zu Reichtum und Wohlstand gebracht und hoffen wohl darauf, möglichst unbeschadet durch die dunkle Zeit zu kommen. Wohl werden sie zur Waffe greifen, aber sie werden es nicht früher tun als nötig. Es ist vielleicht auch ganz gut, wenn wir noch Kräfte in Reserve haben. Aber das zu beurteilen gebührt anderen.“
Er räusperte sich abschließend und sah erwartungsvoll in die Runde. Rahor hatte die Stirn gerunzelt.
„Mir gefällt das nicht. Es scheint, als hätten einige unserer Landsleute allmählich Gewohnheiten der Mittelländer und Manatarier übernommen. Die einen fliehen im Angesicht des Krieges, andere verschanzen sich hinter ihren Goldvorräten tief im Süden. Imra und Akosh haben auch lange in diesen Städten gelebt und trotzdem wissen sie, was sie ihrem Land schuldig sind.“
„Du vergisst, dass es meist Handwerker und Künstler waren, die damals im Süden geblieben sind.“ meinte ein Cas mit Lederhaut und schon recht ergrautem Haar. „Es sind keine Kämpfer wie wir. Und viele von ihnen haben Familie, um die sie natürlich besorgt sind.“
„Niemand hat sie gezwungen, ihrem Land den Rücken zu kehren! Willst du etwa ihre Feigheit entschuldigen,