Christine Boy

Sichelland


Скачать книгу

Aber manchmal ist man gezwungen, Risiken einzugehen. Auch ein Shaj kann nicht alles allein machen. Es gab nicht eine Sekunde, in der ich Zweifel an Wandan gehabt hätte. Er ließ sich nie von seinem Weg und seinem Ziel abbringen. Und nur deshalb stehe ich überhaupt noch hier.“

      „Heißt das....?“

      „Wandan hat mich aus der Burg gebracht. Nach Orjopes Tod. Alles brannte. Kennst du das Gefühl, wenn man versucht, sich an einen Traum zu erinnern? Je mehr man sich bemüht, desto schneller verrinnen die Bilder im Gedächtnis. Werden zu Nebel, zu Staub. Und verschwinden. Manchmal bleiben aber Bruchstücke. Feuer. Die Trümmer der Mauern. Schmerzen. Der beißende Rauch in den Lungen. Und Wandan, der mich hinaus brachte. Ohne ihn wäre ich vermutlich tot.“

      Sie hatte wie zu sich selbst gesprochen, doch plötzlich wurde ihr Blick wieder fest und richtete sich auf Sara.

      „Niemand weiß das.“

      Die Novizin schluckte, aber sie sagte nichts.

      „Er hätte das beinahe mit seinem Leben bezahlt. Als der Seitenflügel der Festung einstürzte, wusste er, dass nur einer von uns es durch den letzten offenen Spalt nach draußen schaffen würde. Er hat keine Sekunde gezögert. Ich kann mich kaum daran erinnern, aber ich weiß, dass ich es allein nicht durchgekommen wäre. Und er blieb hinter mir. Und wusste, dass er deshalb vielleicht sterben würde.“ Sie nahm einen Schluck Sijak. Obwohl das, was sie erzählte, so dramatisch und beklemmend war, sprach sie ganz ruhig und sachlich.

      „Die oberste Pflicht der Cas ist es, ihr Land und die drei Shaj zu beschützen. Vor allem den Shaj der Nacht. Wir hatten keinen. Der Shaj war tot. Wandan wusste es. Alle wussten es. Für Wandan stand aber fest, wer den Thron besteigen würde. Er wusste es vielleicht noch besser als ich selbst. Zumindest in diesem Moment. Mag sein, dass der Eid der Cas sich auch auf mich bezogen hat. Mag sein, dass sie verpflichtet waren, ihr Leben für meines zu geben. Aber wie viele hätten es wirklich getan?“

      „Also... vertraut ihr ihm doch?“

      „Ich glaube, ein Shaj ist nicht in der Lage dazu, jemandem zu vertrauen, selbst wenn er es wollte. Aber wenn ich es könnte, …. Als Wandan nach Cycalas zurückkehrte, war er nicht mehr er selbst. Noch viele Tagen und Wochen war nicht sicher, ob er seine Verletzungen überlebt. Aber er hat es geschafft. Er ist nicht verrückt, auch wenn viele das denken. Er spricht nicht mehr. Zumindest sagt man das. Ich könnte mir vorstellen, dass er manchen Menschen in Yto Te Vel gegenüber dieses Schweigen bricht. Er will niemanden in seiner Nähe haben, außer denen, die dort ebenso zurückgezogen leben wie er. Aber er wird kommen, wenn ich danach verlange. Das weiß ich. Und ich kann es mir in unserer jetzigen Situation nicht erlauben, auf Wandan zu verzichten.“

      Sie füllte den leeren Sijak-Kelch nach. „Du bist der einzige Mensch, dem ich das bisher erzählt habe. Viele wissen, dass er in der Burg war. Dass er dort gekämpft hat. Aber mehr nicht. Er hatte einen größeren Gegner als Orjope oder Iandal. Ich glaube nicht, dass ich es ihm sehr leicht gemacht habe in jener Nacht. Behalte es für dich. Du tätest weder ihm noch mir einen Gefallen, wenn jemand davon erfährt.“

      „Warum ...habt ihr es mir erzählt?“

      „Du hast viel mit ihm gemeinsam. Ich weiß nicht, warum ich es dir gesagt habe. Vielleicht habe ich einfach zu viel getrunken und bereue es morgen. Wahrscheinlich. Erinnere mich besser nicht mehr daran.“

      Kapitel 4

      Das Hinterzimmer, in dem sie sich trafen, war dunkel und kalt. Es roch nach feuchtem Schimmel und Rattenkot und der einzige Luftzug, der hereinkam, drang durch den kaum sichtbaren Schlitz unter der morschen Holztür hindurch. Nebenan, im Hauptraum, war alles still. Die letzten Gäste waren schon lange fort.

      „Bist du sicher, dass niemand dich gesehen hat?“ flüsterte eine Stimme aus einer Ecke, nachdem sich die Tür zum zweiten Mal an diesem Abend geöffnet und wieder geschlossen hatte.

      „Niemand. Ich habe die Straße eine ganze Stunde beobachtet, bevor ich herkam.“ Der zweite Besucher setzte sich unaufgefordert an den wackeligen Holztisch. Er hätte gern eine Kerze angezündet, um seinem Gegenüber in die Augen zu sehen, doch obwohl die Kammer keine Fenster hatte, wollten sie kein Risiko eingehen.

      „Du hast davon gehört?“ fragte der Erste.

      „Dass Wandan nach Semon-Sey gerufen wurde? Ja, das habe ich. Sie hat es heute in der Versammlung angeordnet.“

      „Er könnte uns Schwierigkeiten machen.“

      „Dieser verrückte, alte Kauz? Den nimmt doch niemand ernst. Und er weiß auch nichts.“

      „Unterschätze ihn nicht. Und zumindest die Shaj wird ihn ernst nehmen.“

      „Lennys? Wie ich höre, hat ihr Befehl keine Begeisterung hervorgerufen.“

      „Nein, aber auch keinen ernsthaften Widerspruch. Wir sollten Wandan im Auge behalten. Ich gebe mich nicht mit Gerüchten über seinen Geisteszustand zufrieden, solange ich mich nicht selbst davon überzeugt habe. Und selbst dann wäre ich mir nicht sicher, ob er nicht vielleicht allen etwas vorspielt.“

      Der zweite Mann wirkte milde beunruhigt. „Ich werde mich darum kümmern, dass uns nichts verborgen bleibt. Du kannst dich darauf verlassen.“

      Plötzlich klang die Stimme des Ersten sehr bedrohlich.

      „Ich habe gesehen, dass ich genau das nicht kann.“

      „Was meinst du damit?“

      „Du scheinst längst nicht so sorgfältig zu arbeiten, wie ich es von dir erwartet hätte. Oder wie erklärst du sonst, dass eine Rechnung über eine besonders große Pergamentbestellung, die zudem noch mit zweieinhalb Deben Gold bezahlt wurde, in Lennys' Hände gerät?“

      Der Zweite erstarrte. „Sie kann gar nicht wissen, dass dieser Handel....“

      „Da irrst du dich. Und Lennys hat bereits Ermittlungen eingeleitet. Sie traut der Sache nicht. Und ich frage mich natürlich, wie sie überhaupt davon erfahren konnte....“

      „Ich... ich habe wirklich keine Erklärung...“

      „Ach nein? Dann solltest du dich sehr schnell darum bemühen, eine zu finden, bevor die Shaj es tut. Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass eine Aufzeichnung über diese Lieferung angefertigt wurde? In der auch noch die Bezahlung in Gold erwähnt wurde! Und damit nicht genug, wie konnte diese Notiz in die Unterlagen geraten, die der Shaj vorgelegt wurden?“

      „Vielleicht hat der Händler, der die Pergamente transportiert hat...“

      „Es ist mir egal, wer dafür verantwortlich ist!“ unterbrach ihn der Erste zischend. „Viel wichtiger ist es, dass wir alles beseitigen, was den Verdacht auf uns oder auf die Rollen an sich lenken könnte! Lass dir etwas einfallen! Wir müssen dafür sorgen, dass Lennys eine Erklärung für diese Rechnung erhält, mit der sie sich auch zufriedengibt. Und wir sollten ganz nebenbei noch andere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen...“

      „Worauf willst du hinaus?“

      „Ist dir das nicht klar? Sie ruft Wandan zurück. Sie erfährt von den Pergamenten und dem Gold. Sie beruft Leute in den Rat, die dort nichts verloren haben. Aber das ist noch längst nicht alles. Sie ist lebend aus Iandals Burg gekommen. Sie hat Cycalas verlassen, um diesen Todesfällen auf den Grund zu gehen. Und sie hat sogar Sagun überlebt und den Ritualspruch gebannt! Was muss eigentlich noch geschehen, damit du endlich einsiehst, dass sie eine ernsthafte Gefahr darstellt?“

      „Aber …. aber wir waren uns doch einig, dass wir nichts gegen sie unternehmen könn....“

      „Wir waren uns einig, dass es unklug wäre, sie anzugreifen, solange sie unsere Pläne nicht direkt durchkreuzt. Und im Augenblick ist sie im Begriff, genau das zu tun!“

      „Aber... du willst doch nicht etwa...“

      „Ich habe genug von ihrem Starrsinn und ihrer Unberechenbarkeit. Wir müssen dafür sorgen, dass sie uns nicht mehr in die Quere