Christine Boy

Sichelland


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Gefahr von ihr abwenden.“

      „Und welche Gefahr ist das? Und warum sprichst du nicht mir ihr selbst darüber oder zumindest in ihrem Beisein?“

      Etwas beunruhigt sah sich Rahor um, als wolle er sich noch einmal vergewissern, dass nicht doch jemand hinter einem der Regale lauerte. Dann senkte er die Stimme zum Flüsterton.

      „Weil das, was ich jetzt sage, in Lennys' Augen an Verrat grenzt. Es steht dir völlig frei, ihr davon zu erzählen, aber bitte denke genau darüber nach, ob es dafür nicht noch zu früh ist. Ich glaube, dass Iandal nicht der einzige Verräter in unseren Reihen ist.“

      Sara war sprachlos und zugleich längst nicht so überrascht, wie sie es eigentlich hätte sein sollen. Doch Rahor fuhr fort:

      „Es gibt zu viele Ungereimtheiten. Zu vieles, was darauf hindeutet, dass Iandals Wissen allein ihn nicht zu den Schritten befähigen konnte, die er bislang unternommen hat. Und wenn du ganz ehrlich bist, hast du auch schon daran gedacht.“

      „Nun ja...“

      „Du musst es mir nicht sagen. Falls du schon einen solchen Verdacht hattest, musstest du natürlich auch in Betracht ziehen, dass ich ebenfalls ein Feind sein könnte. Sara, Lennys ist in großer Gefahr. Sie ist nicht sicherer, nur weil sie wieder zu Hause ist. Vielleicht ist sogar genau das Gegenteil der Fall. Traue niemandem. Hinterfrage alles, was dir undurchsichtig erscheint. Halte Augen und Ohren offen. Hier tagt der Hohe Rat. Die beiden Shaj, die neun Cas, Würdenträger, Kundschafter, Verbündete... Wer auch immer unser Land angreifen will, muss früher oder später an Lennys vorbei. Sie ist vielleicht das größte Hindernis für unsere Feinde. Für einen dummen Hantua mag ein Kampf im freien Feld die einzige Möglichkeit sein, sie in einen Kampf zu verwickeln. Aber ich rede nicht von Zrundir. Was ist, wenn es eine Verschwörung gibt? Einen Verräter, der mit Iandal zusammen arbeitet? Ein abtrünniger Cycala? Jemand, der hier ein und ausgeht und der hier Zugriff auf alles hat, was Lennys plant oder darauf, wie die Cas sie schützen? Denkst du wirklich, Makk-Ura hatte einen Unfall? Niemand glaubt das! Aber Makk-Ura war nicht einmal ein Stolperstein für die Hantua. Wenn sie den Shaj der Nacht besiegen, dann haben wir ihnen weit weniger entgegenzusetzen als du glaubst. Und du kennst Lennys, sie macht es ihren Garden alles andere als einfach.“

      „Aber... warum? Warum ist sie so wichtig? Iandal hatte so viele Möglichkeiten, sie zu töten... Und auch hier... ich meine, wenn euer Schicksal so an Lennys Leben gebunden ist...“

      „Es gibt Dinge, von denen kaum jemand weiß. Nicht einmal die Cas, mit einer einzigen Ausnahme, und die sitzt hier vor dir. Aber bitte, Sara, du musst mir glauben. Mit jedem Tag, der vergeht… Mit jedem Tag, an dem Lennys unsere Verteidigung aufbaut und den Angriff gegen Zrundir vorbereitet, … mit jedem Tag, an dem sie Erkundigungen einzieht, wird die Gefahr größer und größer. Sie ist schon fast greifbar. Noch können es sich die Feinde nicht erlauben, einen offenen Angriff gegen sie zu wagen. Aber bald können sie es. Hier, hinter diesen Mauern lauert die wahre Bedrohung. Man wird versuchen, Lennys zu töten. Und sie weigert sich, auch nur eine Sekunde daran zu denken, weil sie einen Verrat durch einen Sichelländer für ausgeschlossen hält.“

      „Aber du bist dir sicher...“

      Rahor sah sie traurig an. „Ja, das bin ich. Alles deutet darauf hin. Begreifst du jetzt, warum ich mit dir sprechen wollte? Mit dir und mit keinem sonst und warum ich es nicht vor Lennys tun konnte?“

      „Ja, ich … ich denke schon.“

      „Und... glaubst du mir?“

      Sara schwieg. Sie dachte lange über Rahors Worte nach und über all das, was sie erlebt und erfahren hatte. Es gab viele, für die sie die Hand ins Feuer gelegt hätte. Akosh natürlich. Imra. Menrir. An Oras hatte sie gezweifelt, aber inzwischen war ihr Ärger verflogen. Aber auch Rahor hatte sie von Anfang an vertraut und auch Sham-Yu. Mondor mochte ein alter Fanatiker sein und Talmir vielleicht ein wenig weich und ängstlich, aber auch an ihrer Treue hatte sie keinerlei Zweifel. War unter all diesen Menschen vielleicht tatsächlich jemand, der sich schon längst auf Iandals Seite gestellt hatte? Oder einer der anderen Cas, die doch eigentlich die vertrauenswürdigsten Krieger überhaupt waren? Oder die Burgdiener? Der Bibliothekar? Wandan, den man aus den Wäldern zurückrief? All das ging ihr durch den Kopf, aber auch die Merkwürdigkeiten, die ihr selbst schon aufgefallen waren. Die sie zusätzlich zu Lennys' Zusammenfassungen notiert hatte. Die Fragen, die nicht nur bei den Ratstreffen, sondern auch bei belanglosen Gesprächen der einzelnen Mitglieder immer wieder gestellt wurden. Und nicht zuletzt diese mysteriöse Pergamentrechnung, der Akosh gerade in Askaryan auf den Grund ging.

      Dann rang sie sich zu einer Antwort durch.

      „Ja, ich glaube es. Oder sagen wir, ich halte es nicht für unmöglich. Aber ich wüsste nicht, was ich tun kann...“

      Rahor schien erleichtert.

      „Lennys wird den Gedanken an einen Verräter nie zulassen, wenn wir ihr keinen Beweis liefern. Und wir können sie nicht vor einem Angriff schützen, wenn wir nicht wissen, wer dort im Verborgenen gegen uns arbeitet. Wir beide haben die Möglichkeit, immer in ihrer Nähe zu sein, ohne dass Lennys selbst oder irgendjemand anders Verdacht schöpft. Im Augenblick können wir nur wachsam sein und versuchen, mehr herauszufinden..“

      „Und wenn du selbst es wärst....“

      „Dann könntest du mich nicht aufhalten, Sara. Ich kann dir nicht beweisen, dass ich Lennys ebenso treu ergeben bin wie du. Aber selbst, wenn du dich jetzt von mir fernhältst und alles dir Mögliche tust, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, so bin ich froh. Dann werde ich dasselbe tun. Ob mit dir oder ohne dich. Nur gemeinsam... wären unsere Aussichten vielleicht besser. Vergiss nicht, Sara, wenn ich es wäre, der Lennys töten will, dann könnte es niemand besser verhindern als sie selbst. Auch du nicht.“

      „Du kommst spät.“ Lennys sah noch nicht einmal auf, als Sara das Kaminzimmer betrat. Ihrem Tonfall nach fühlte sie sich immer noch nicht allzu gut.

      „Verzeihung.“ Sara wusste, dass ihre Herrin nicht in der Stimmung war, sich Ausreden und Entschuldigungen anzuhören. Und im Moment war es ihr auch bedeutend lieber, nicht genau darüber Auskunft zu geben, warum sie erst jetzt kam. Sie hatte sich beeilt, ihre eigenen handschriftlichen Notizen noch einmal durchzugehen und verschiedene Abschriften miteinander zu vergleichen. Konnte Rahor wirklich recht haben mit seinem Verdacht? Derartig in Gedanken vertieft hatte sie beinahe die Zeit vergessen.

      „Hier...“ Lennys reichte ihr eine schwere Mappe, die zahlreiche Bögen enthielt, die allesamt mit kleinen, nahezu unleserlichen Buchstaben bedeckt waren. Wer auch immer dieses Werk verfasst hatte, hatte sich sichtlich Mühe gegeben, den Leser zu ärgern. „Das ist eine Abhandlung über cycalanische Handelsverbindungen zwischen den großen Städten. Silberproduktion, Waffenschmiede, Pergamenthersteller, Kunstgegenstände und so weiter. Wie die Preise und Werte festgesetzt werden, wie der Transport abläuft, wer für den Verkauf zuständig ist und alles was dazu gehört. Quasi eine Beschreibung der gesamten cycalanischen Wirtschaft.“

      Verblüfft nahm Sara den ersten Bogen heraus und überflog ihn. „Klingt wie ein Lehrbuch. Wonach soll ich suchen?“

      „Du sollst gar nichts suchen. Du sollst es lesen.“

      „Ich verstehe nicht...“

      „Es wird Zeit, dass du mehr über mein Land lernst als das, was dir die Legenden von Batí-Priestern verraten oder das, was Akosh dir über den Säbelkampf beibringt.“

      Sara spürte, dass Lennys sie unterschwellig bestrafen wollte. Wohl nicht für ihr Zuspätkommen, sondern eher über die außerplanmäßige Übernachtung der Shaj in ihrem Gemach. Und obwohl die Novizin nicht die geringste Lust verspürte, sich durch die trockenen Wirtschaftsberichte zu arbeiten, so musste sie sich doch eingestehen, dass sie tatsächlich nicht allzu viel über die Verhältnisse des Sichellandes wusste. Und gerade jetzt, da jede noch so kleine Auffälligkeit von entscheidender Bedeutung sein konnte, war es umso wichtiger, dass sie mit Cycalas vertrauter wurde.

      Folgsam setzte sie sich vor das Kaminfeuer und begann, die Abjandlung zu studieren.

      Die Stunden vergingen