nichtvorhandene Abwechslung vor. Doch dann klopfte es zu laut und deutlich, als dass es sich um eine Täuschung hätte handeln können.
„Was ist denn?“ rief Lennys ungehalten. Eine Burgdienerin schob sich schüchtern herein. Sara hatte sie schon ein paar Mal in den Küchenräumen gesehen.
„Eine... N..nachricht für euch, hohe Shaj...“ Zitternd reichte das Mädchen Lennys ein Tablett, auf dem eine frisch versiegelte Pergamentrolle lag. Gleichgültig nahm Lennys das Schreiben und schickte die Dienerin wieder hinaus, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Lustlos brach sie das Siegel und überflog den Text, der, soweit Sara es erkennen konnte, in Cycalanisch verfasst war.
Ein Hauch von Zufriedenheit spiegelte sich in Lennys Zügen, aber sie erklärte sich nicht weiter. Schließlich nahm sie sich wieder ihre Schriftstücke vor, die sie kurz beiseite gelegt hatte und tat als sei nichts gewesen. Erst als Sara einige Zeit später das Buch zuschlug, das sie hatte lesen sollen, zeigte Lennys wieder eine Regung.
„Fertig?“
„Ja.“
„Hast du alles verstanden?“
„Nein. Es würde Jahre dauern, alle Regeln, Gesetze und Traditionen zu kennen. Aber ich kann mir jetzt ein besseres Bild machen.“
„Immerhin etwas. Es wird wohl noch ein oder zwei Tage dauern bis Akosh aus Askaryan zurückkommt, aber es ist möglich, dass ich zunächst keine Zeit habe, ihn zu empfangen. In diesem Fall möchte ich, dass du mit ihm über seine Ermittlungsergebnisse sprichst und mir darüber berichtest, wenn ihr zu wichtigen Erkenntnissen gelangen solltet.“
„Und was ist mit Zarcas? Ist dort auch jemand, um den Absender der Rollen ausfindig zu machen?“
„Talmir wollte sich umhören. Aber ich mache mir keine große Hoffnung. Jede Woche gehen hunderte von Pergamentrollen aus Zarcas auf dem Weg zu ihren neuen Besitzern. Es ist leichter festzustellen, wer in Askaryan die Ware aus der Hauptstadt bezieht.“
„Ja, aber wenn es doch Tempelschriften waren?“
„Dann wird Talmir das herausfinden. Niemand im Tempel von Zarcas würde es wagen, ihn anzulügen.“
Auch im Laufe des Abends maß Lennys der Angelegenheit mit den Pergamentrollen kaum noch Aufmerksamkeit bei. War sie tags zuvor doch sichtlich interessiert an diesem Geheimnis gewesen, so schien es sie plötzlich kaum noch zu kümmern. Im Stillen sagte Sara sich, dass es vielleicht mit dem versiegelten Schreiben zu tun haben könnte. Seit ihre Herrin dieses erhalten hatte, schien sie in Gedanken versunken und gar nicht mehr so recht bei der Sache zu sein. Selbst als Sara dank der Aufstellung eines besonders gewissenhaften Schreibers den Betrug eines Stiefelhändlers aufdeckte, der minderwertiges Leder verarbeitete, zuckte sie nur ungerührt die Achseln.
„Die Rechtsprecher werden sich darum kümmern.“ war ihr einziger Kommentar.
Inzwischen hatte die angehende Heilerin ihren eigenen Vorteil in Lennys' Desinteresse erkannt. Die Shaj achtete nicht darauf, dass ihre Dienerin sich eigene Notizen machte und verschiedene Schreiben miteinander verglich. Im Grunde konnte Sara ihr diese Nachlässigkeit nicht verdenken. In den letzten Tagen war ihr immer deutlicher bewusst geworden, dass Lennys nicht nur eine einfache Kriegerin, sondern eine der Regenten eines mächtigen Reiches war. Zusätzlich zu ihren eigenen Pflichten musste sie sich auch noch um die Angelegenheiten des toten Makk-Ura kümmern, der ja eigentlich für Handel und Handwerk zuständig war. Und obwohl Sara Talmir mochte und sich sicher war, dass er ein außergewöhnlicher Priester war, so musste sie doch zugeben, dass der alte Mann nicht die Energie und den Tatendrang aufbot, der in seinem Amt zu solch schweren Zeiten unbedingt notwendig war. Nein, sie beneidete Lennys nicht. Im Gegenteil. Und sie war sich sicher, dass ihre Herrin selbst nicht dieses Schicksal gewählt hätte, wenn sie denn die Freiheit gehabt hätte, ihr Leben selbst zu bestimmen. Das Amt des Shajs war ein Fluch, ein mindestens ebenso unbarmherziger wie der, den die Batí auf sich gezogen hatten. Lennys musste ihr Land auf einen Krieg vorbereiten, einen Verräter in Schach halten, zerstrittene Priester beruhigen und sich mit einem scheinbar größenwahnsinnig gewordenen König Log herumärgern... Was waren da schon ein paar Ungereimtheiten auf den Märkten von Zarcas und Askaryan?
Einige Stunden später schickte die Shaj Sara zu Bett. Heute würden sie nichts mehr erreichen. Zum ersten Mal, seit sie Cycalas erreicht hatten, war Sara müde. Nicht, weil sie zu wenig Schlaf bekam, sondern weil sie das Gefühl hatte, dass auch ihr all die Schwierigkeiten über den Kopf wuchsen. Wie schön wäre es, jetzt wieder mit Lennys und Akosh, vielleicht auch mit Imra, Oras und Menrir durch die mittelländischen Wälder und Ebenen zu streifen und auf Hantua zu lauern.
Es war Rahor, der Sara am nächsten Morgen durch halblautes Klopfen weckte. Erschrocken warf sie sich einen dünnen Umhang über ihr Nachtgewand und öffnete die Tür.
„Guten Morgen, Sara. Verzeih, dass ich dich so früh schon störe...“
„Aber bitte, Rahor, du musst dich doch nicht entschuldigen.“ erwiderte sie verlegen.
„Doch, das muss ich, denn eigentlich dürfte ich jetzt gar nicht hier sein. Wenn Lennys mich noch einmal in der Nähe deines Zimmer erwischt... Nun ja, du kannst dir ja denken, was sie dann mit mir anstellt.“
„Hoffentlich hat sie dich nicht gesehen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du meinetwegen Ärger bekommst...“
Doch Rahor schüttelte den Kopf.
„Nein, sie kann mich nicht gesehen haben. Lennys ist nämlich gar nicht in der Burg.“
„Was?“ rief Sara erschrocken. „Sie... sie ist nicht da? Aber....“ Doch sofort machte Rahor eine beschwichtigende Geste.
„Du musst dir keine Sorgen machen. Sie hat Semon-Sey nicht verlassen. Gerade eben meldete ein Wachposten, dass sich ein vermummter Reiter von Norden her der Stadt nähert. Und Lennys ist sofort losgeritten – auf ihrem Mondhengst wohlgemerkt – um ihn noch am Stadttor zu empfangen.“
„Sie reitet ihm entgegen?“ fragte Sara erstaunt.
„Ja, das ist eine hohe Anerkennung für Wandan. Aber nach allem, was ich von ihm weiß, hat er sie auch verdient. Was ist, kommst du mit?“
„Ich? Wohin?“
„Na zum Stadttor. Es wird dir gut tun, mal aus dieser Burg herauszukommen. Außerdem halte ich es für besser, wenn wir sie nicht zu lange aus den Augen lassen. Ich wäre am liebsten gleich mit ihr geritten, aber ich dachte, ich frage dich lieber zuerst.“
Sara war unschlüssig. „Ich weiß nicht. Es ist, als würden wir sie ausspionieren und sicher will sie nicht, dass wir ihr folgen. Außerdem hat sie es mir verboten, in die Stadt zu gehen.“
„Nun ja....“ druckste Rahor herum. „Sie hat mir verboten, dich in die Stadt gehen zu lassen, wenn man es genau nimmt. Aber das ist ja auch nicht der Fall. Du ziehst dir deinen Umhang an und reitest zusammen mit mir auf meinem Pferd aus der Stadt hinaus.... das ist ja wohl ein Unterschied. Außerdem merkt es ja keiner. Aber ich möchte sie nicht zu lange ohne Bewachung herumziehen lassen. Du weißt, warum. Also, was ist? Wenn du lieber hierbleiben möchtest, ist das in Ordnung, ich verstehe das. Ich für meinen Teil werde gehen.“
„Dort vorne ist das Tor, siehst du es?“ rief der Oberste Cas über seine Schulter nach hinten.
„Ich habe es mir viel größer vorgestellt. So wie das Haupttor im Süden.“ antwortete Sara verwundert. Und wirklich, das Nordtor Semon-Seys war nur ein etwas breiterer Bogen, der von zwei Wachen flankiert war. Dahinter erstreckten sich dunkelgrüne Hügel und gleich darauf ein Wald gewaltigen Ausmaßes.
„Wir lassen das Pferd besser hier. Es ist zu auffällig. Dort vorn, an dem alten Turm, dort können wir uns verstecken. Früher hing darin eine Feuerglocke, aber jetzt ist es nur noch eine Ruine.“
„Und wenn uns doch jemand sieht?“
„Keine Sorge. Und wenn schon, alle Stadtwachen Cycalas' unterstehen meinem Befehl. Wenn jemand das Recht dazu hat, hier zu sein, dann bin ich das. Und du bist einfach meine Begleitung.“