doch nicht gegen ihren Willen...“
„Sie wird sterben.“
Sara und Rahor erstarrten. Wandans Augen glühten und obwohl er nur sehr leise gesprochen hatte, waren seine Worte wie ein Donnerhall gewesen. Qualvolle Sekunden vergingen, bevor er weitersprach.
„Lennys wird sterben, wenn ihr nicht das Richtige tut. Ich weiß es. Und du Rahor, du weißt es auch.“
Saras Kopf wirbelte herum und sie sah Rahor fassungslos an. Dieser nickte nur stumm.
„Rahor und ich, wir sind Batí.“ erklärte Wandan. „Und wie alle Batí verbrachten wir vor und während unserer Kampfausbildung immer wieder längere Zeit in Mondors Tempel. Viele Eigenschaften der Batí bleiben den anderen Stämmen für immer verborgen. Und nicht alle sind ein Segen. Seit Menschengedenken besitzen wir eine Gabe, für die es keinen Namen gibt, aber die es uns möglich macht, mit unserem Innersten zu sehen. Hast du dich nie gefragt, Sara, warum Rahor sich so sicher ist, dass es einen Verräter gibt, obwohl er keinen wirklichen Beweis hat? Hast du dich nicht gefragt, warum ich hier mit euch beiden über so gefährliche Dinge spreche, obwohl ich euch nicht kenne? In deinem Land gibt es Scharlatane, die sich Hellseher nennen. Niemand kennt die Zukunft, Sara, auch wir nicht. Wir sind keine Hellseher. Weder die, die sich in betrügerischer Absicht so nennen, noch echte. Wahre Hellseher gibt es nicht. Aber wir haben Ahnungen. Nenne es einen erweiterten Instinkt, wenn du willst. Tief in uns ist etwas verwurzelt, das unserem Stamm erlaubt hat, zu überleben, obwohl wir doch als „Verfluchte“ gelten. Und alles, was unseren Stamm oder auch unser Land bedroht, legt sich wie ein dunkler Schatten über unsere Seele und wir können es spüren. Vor zwölf Jahren verriet uns Iandal. Er löste Ash-Zaharrs Schutz auf. Und Saton starb. Drei tödliche Gefahren für Cycalas. Und jeder Batí hat es gespürt. So viele schwarze Gespenster in unseren Köpfen und in unserem Herzen, zu vage um sie richtig zu deuten, zu intensiv um sie zu leugnen. Aber einige von uns....“ Er sah kurz zu Rahor auf, der nur noch starr ins Leere sah, „... einige sehen mehr als andere. Du bist ein guter Cas, Rahor. Ich weiß das. Lennys ist dem Tod geweiht, wenn ihr den falschen Weg einschlagt. Sie steht nur noch eine Handbreit von einem Abgrund entfernt, der sie unweigerlich verschlingen wird. Sie ist die größte Herrscherin, die Cycalas je gesehen hat, größer noch als Saton selbst. Und doch verbirgt sie es. Aber du, Rahor... du und ich, wir beide wissen, dass es so ist. Und genau deshalb schwebt sie in größerer Gefahr, als Saton damals. Und diese Gefahr nähert sich von vielerlei Seiten. Hört nicht auf ihren Willen. Hört auf eure inneren Stimmen. Ich bin nicht nur zurückgekommen, weil sie es wollte. So gesehen habe auch ich gelogen. Vor zwölf Jahren hätte ich ohne zu zögern mein Leben gegeben, um sie zu retten und ich würde es immer wieder tun. Deshalb bin ich hier. Wenn ihr euch weiterhin eurem Gefühl und eurem Instinkt verschließt, nur um ihr Wohlgefallen zu finden... wird Lennys sterben.“
Rahors Stimme war trocken und hohl. „Aber Mondor... er ...“
„Mondor sieht mehr und doch weniger. Sein Leben gehört Ash-Zaharr und dem Tempel, doch er ist blind für alles, was darum liegt. Er wird noch eine entscheidende Rolle spielen. Ebenso wie ihr. Ihr habt nicht mehr viel Zeit. Ich kann euch nicht helfen auf eurem Weg. Aber vielleicht kann ich eure Zweifel ein wenig auslöschen. Die ganze Zeit über fragt ihr euch beide, wie vertrauenswürdig der andere ist, denn im tiefsten Herzen wisst ihr, dass ihr es allein nicht schaffen könnt. Und ich kann nichts anderes tun als euch zu sagen, dass ihr es gemeinsam könnt. Euer Gefühl sagt euch, dass ihr zusammen um Lennys' Leben kämpfen müsst. Und ich sage euch, dass ihr recht tut.“
Sara stand auf und ging rastlos auf und ab. Ihre Gedanken wirbelten herum, sie begriff immer noch nicht alles, was Wandan ihnen da sagte.
„Dann... gibt es also wirklich einen Verräter....?“ sagte sie mehr zu sich selbst.
„Ja und zugleich auch mehr als nur das. Sara, du kannst noch nicht alles erfahren. Noch nicht. Es ist noch zu früh. Aber es kann sehr bald zu spät sein. Der Horizont ist schwarz und vielleicht werden weder Sonne noch Mond noch einmal aufgehen. Wenn Lennys stirbt, versinkt Cycalas im Tod. Ihr habt nicht mehr viel Zeit.“
„Aber was können wir denn schon ausrichten?“ fragte Rahor. „Wir beide? Und dann vielleicht auch noch gegen Lennys' Willen? Das ist zu groß für uns, Wandan.“
„Vielleicht ist es das. Aber ihr habt keine Wahl. Tut alles, um eure Feinde zu erkennen und um sie zu besiegen. Und gleichzeitig dürft ihr euren Blick nicht vor den Dingen verschließen, die ihr jetzt noch nicht ernst nehmt. Wie ich schon sagte, Lennys' Leben wird nicht nur durch einen Verräter bedroht. Und Cycalas sieht sich mehr Gefahren gegenübergestellt als einer bloßen Armee aus Hantua. Traut... niemandem, hört ihr? Nur euch selbst. Nicht jeder, der euch begegnet, steht auf der falschen Seite. Und doch müsst ihr euch so verhalten, als wenn genau das der Fall wäre. Früher oder später werdet ihr herausfinden, wer mit euch kämpft und wer gegen euch.“
Er stand auf. „Ich muss jetzt gehen. Die Shaj erwartet mich noch einmal und was ich mit ihr zu besprechen habe, duldet weder Aufschub noch Zuhörer. Wir werden uns sicher wiedersehen.“
Ohne ein weiteres Wort des Abschieds verließ Wandan die Bibliothek und ließ einen niedergeschlagenen Rahor und eine verwirrte Sara zurück.
"Wie kann er... all das wissen?" Sara war fassungslos. "Dass du an einen Verräter glaubst. Dass ich nachts ins Kaminzimmer gegangen bin... Woher...?"
"Er weiß es einfach. Er ist ein Batí. Er war ein Cas. Und er... er ist ihr wohl sehr nah."
„Glaubst du ihm?“ fragte die Novizin schließlich.
„....Ja. Wenn nicht ihm, wem dann? Und ich spüre, dass er recht hat. Beim großen Dämon... Was sollen wir nur tun?“ Ratlos und sichtlich mit den Nerven am Ende vergrub Rahor sein Gesicht in den Händen.
Doch Sara gab sich nicht so einfach geschlagen.
„Wir tun genau das, was Wandan uns gesagt hat. Und was wir auch ohne seinen Rat getan hätten. Wir werden herausfinden, von wem die Bedrohung ausgeht. Und wir fangen damit an!“ Sie reichte Rahor ein kleines, zusammengefaltetes Stück Pergament.
„Was ist das?“
„Eine Abschrift über eine Rechnung.“ In wenigen Sätzen fasste Sara die spärlichen Informationen über die Pergamentbestellung des askaryschen Turmpostens zusammen und fügte die Überlegungen hinzu, die sie und Lennys angestellt hatten.
„Zugegeben...“ murmelte Rahor nachdenklich, „... zugegeben, das ist eine merkwürdige Sache. Aber bist du sicher, dass sie uns auf eine Spur führt?“
„Ja. Ich habe lange darüber nachgedacht. Iandal hat Informationen, die er nur von anderen Sichelländern haben kann. Er wusste über das Sagun-Ritual weit mehr, als Talmir ihm damals erzählt hat. Er kennt die Namen der Cycala, die im Mittelland und in Manatar leben, obwohl es kein Verzeichnis über sie gibt und obwohl er die meisten Orte anscheinend nie selbst besucht hat. Und es gibt noch viele andere Ungereimtheiten. Und das hier...“ Sie tippte auf die Notiz. „...Das hier ist der Beweis dafür, dass Tempelschriften aus Zarcas an jemanden verkauft wurden, der mit Gold bezahlt hat. Tempelschriften, verstehst du? Wandan sagte, dass Lennys mit mir viel Wissen teilt, aber an diese Dokumente hat sie mich nicht herangelassen. Ich bin sicher, dass nur wenige überhaupt Einsicht haben. Wer sind diese Wenigen? Und wie gefährlich kann der Inhalt dieser Schriften für Cycalas sein? Wer bezahlt so viel Gold dafür und geht dabei ein ungeheures Risiko ein, dass alles aufgedeckt wird?“
„Nicht zu vergessen: Wer ist so dumm und führt darüber auch noch Buch, ganz zu schweigen davon, dass Lennys diese Rechnung auch noch zu sehen bekommen hat?“ führte Rahor Saras Gedanken weiter.
„Ja, das stört mich auch. Aber wir müssen alles herausfinden, sonst kommen wir nicht weiter!“
„Was hat Lennys wegen dieser Bestellung veranlasst?“
„Sie hat Akosh nach Askaryan geschickt, damit er die Turmwache verhört. Und sie hat Talmir davon in Kenntnis gesetzt, er will jemanden nach Zarcas in den Tempel schicken, der dort Nachforschungen anstellt.“
„Traue niemandem....“ flüsterte Rahor. „Bei