Christine Boy

Sichelland


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Bibliothekstür klappte, doch ein Regal verstellte ihnen die Sicht. Rahor kümmerte sich nicht darum. Er war sichtlich angeschlagen.

      „Du darfst nicht glauben, dass ich auf Mitleid aus bin.“ seufzte er weiter. „Wirklich nicht. Ich bin ein guter Cas. In meiner Ausbildung war ich der beste Sichelkämpfer. In Vas-Zarac gab es unter meiner Hand nie Schwierigkeiten und ich weiß mich inzwischen auch bei allen durchzusetzen. Es gab keine Übergriffe, die Stadtwachen versehen einen vorbildlichen Dienst... und das alles unter meinem Befehl. Eigentlich könnte ich mit mir zufrieden sein. Aber wenn ich an Wandan denke.... oder die anderen Cas von damals. Außer Faragyl und Haz-Gor sind alle tot oder haben ihr Amt niedergelegt. Sie waren erfahren, besonnen, ...machtvoll. Ich war im Großen Krieg – so wie alle Cas heute, aber wie viele andere habe auch ich nur kleine Schlachten geschlagen. Im Grenzgebiet, nicht im Süden. Nur Faragyl und Haz hatten Anteil an den Kämpfen in Orio, nur sie verdienen es, große Krieger genannt zu werden. Und Lennys natürlich. Und eben Wandan.“

      „Hast du... Angst?“ fragte Sara zaghaft.

      Rahor sah sie nicht an.

      „Ja. Ja, ich habe Angst. Aber ich darf sie nicht haben. Und doch... ich fühle, dass etwas anders ist als damals. So als hätten unsere Gefährten einen Kampf bestritten, den wir jetzt an ihrer Stelle zu Ende führen müssen. Ich kenne seinen Sinn und sein Ziel nicht. Über das Wenige, was ich weiß, darf ich nicht sprechen, aber es stellen sich so viele Fragen, die ich nicht beantworten kann und deren Antwort aber vielleicht unser einziger Weg zum Sieg ist. Verstehst du mich?“

      „Ich weiß nicht...“

      „Ich würde so gern mit jemandem darüber reden. Aber ich darf es nicht. Ich habe immer das Gefühl, dass alles, was ich wissen muss, vor mir liegt wie ein Haufen Getreidekörner, in dessen Innern der Schlüssel verborgen ist zu der Tür, die mich auf den richtigen Weg führt. Ich müsste die Körner ausbreiten, um ihn zu finden, aber in meinem Kopf ist dafür kein Platz. Könnte ich sie mit jemandem teilen, hätte ich vielleicht eine Chance. Und jetzt sitze ich hier und jammere vor dir herum wie ein kleiner dummer Junge. Sag mir, sieht so ein würdiger Nachfolger des großen Wandan aus?“

      Sara öffnete ihren Mund um etwas zu sagen, doch die Stimme, die plötzlich sprach, war nicht die ihre.

      „Auch der große Wandan sprach mit anderen über seine Gedanken und tat das, was du Jammern nennst.“

      Hinter dem schweren Bücherregal, das ihre Sitzecke vor der restlichen Bibliothek abtrennte, trat der einstige Cas hervor. Rahor und Sara machten Anstalten, sich zu verneigen, doch Wandan winkte ab.

      „Dies ist weder Zeit noch Ort für Ehrbekundungen. Und sie wären auch fehl am Platz.“ Ächzend setzte er sich auf ein Polster. Beim Anblick des verlegenen Rahor und der sprachlosen Sara huschte ein belustigtes Lächeln über Wandans sonst so ernstes Gesicht.

      „Ich wollte nicht hierher zurückkommen. Und wenn ich sehe, mit welchen Menschen sich die Shaj umgibt, sehe ich auch keinen Grund dafür.“

      „Darf ich … euch etwas fragen?“ Rahor wirkte nervös.

      „Du willst wissen, warum ich mich hier mit euch unterhalte, obwohl es hieß, ich hätte seit jenen dunklen Tagen kein Wort gesprochen.“ stellte Wandan fest.

      „Ja....“

      „Ich spreche nur, wenn es nötig ist. Und nicht mit jedem. Doch die lange Zeit des Schweigens ist nun vorbei. Und um es gleich zu sagen... ich habe nicht vor, hier mit jedem Kontakt aufzunehmen. Dem Hohen Rat bleibe ich wenn möglich fern und der einzige Grund, der mich zurück nach Vas-Zarac geholt hat, ist Lennys' Befehl. Eher würde ich sterben, als mich ihrem Willen zu widersetzen.“

      „Hat sie... euch um Hilfe gebeten?“

      „Du stellst viele neugierige Fragen, junger Rahor. Oh nein, kein Grund, sich zu schämen. Du bist offen und direkt. Nur vorhin hast du gelogen. Du kamst nicht mit dieser jungen Dame ans Stadttor, um mich zu begrüßen.“

      „Nein. Ich wollte....“

      „Du wolltest das tun, was jeder gute Cas an deiner Stelle tun würde. Und um deine Frage zu beantworten... nein. Lennys hat mich nicht um Hilfe gebeten. Und wenn sie das getan hätte, hätte sie mir verboten, euch davon zu erzählen. Aber sie hat es nicht. Sie wollte nichts weiter als eine einfache Antwort auf eine schwierige Frage. Aber noch ist es dafür zu früh. Mehr müsst ihr nicht wissen.“

      Sara stand auf.

      „Möchtet ihr vielleicht etwas trinken? Oder darf ich euch ein Frühstück servieren?“

      „Nein, Sara. Bitte setz dich wieder.“

      „Ihr... kennt... meinen Namen?“

      Wandan lehnte sich behaglich in seinem Polster zurück. „Aber ja. Auch wenn ich kein Krieger in den cycalanischen Heeresreihen mehr bin, so bin ich doch stets recht gut informiert, was Lennys' engste Vertraute angeht.“

      „Aber ich bin nicht...“

      „Ach nein? Nun, als was würdest du dich denn dann bezeichnen? Du bist nicht dumm. Und du weißt sehr genau, dass sie mit dir mehr Wissen teilt als mit vielen anderen. Ich muss ehrlich sagen,... ich glaube sogar, dass du einiges von dem, was hier geschieht, vielleicht sogar besser erkennen magst als sie selbst. Und dasselbe gilt für dich, Rahor.“

      Rahor und Sara konnten nicht anders, als einen bedeutungsvollen Blick zu wechseln. Beide dachten in diesem Augenblick genau das gleiche und beide waren überzeugt, dass Wandan eine sehr genaue Ahnung von dem hatte, was in ihnen vorging.

      „Ich glaube zu wissen, was euch Sorge bereitet. Und dich Rahor, beschäftigen zudem noch viele weitere Entscheidungen, die du zu treffen hast. Lass dir gesagt sein, dass es dafür noch nicht an der Zeit ist. Denke daran, wie wenigen dieses Wissen zuteil wurde. Gehe kein Risiko ein. Erinnere dich, was deine oberste Pflicht ist. Auch wenn wir uns heute zum ersten Mal seit vielen Jahren begegnen... zum ersten Mal, seit dir bestimmte Ehren zuteil wurden... haben wir doch einiges gemeinsam.“

      Sara verstand in diesem Moment gar nichts. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Wandan sie hinausgeschickt hätte, denn im Augenblick kam sie sich vor wie ein dummes Kind, vor dem Erwachsene große Geheimnisse hatten. Doch als hätte er ihre Gedanken gelesen, wandte Wandan sich sofort an sie.

      „Und du, junge Dame, solltest endlich zu dir selbst finden. Du hast einen Willen, du hast Stärke und Mut, du hast Intelligenz und Gefühl. Hör auf, dich hinter einer unterwürfigen Dienerin zu verstecken. Weißt du, wo du bist? Weißt du, was du tust? Deine Herrin hat dich bis hierher gebracht, bis ins Herz von Cycalas. Sie lässt dich an Ratsversammlungen teilnehmen. Sie spricht mit dir. Weißt du eigentlich, wie selten sie das tut? Mit jemandem reden? Und du glaubst immer noch, du wärst einfach nur eine kleine, unbedeutende Dienstbotin, deren größtes Talent darin besteht, Lennys nicht jeden Tag zur Weißglut zu treiben? Löse dich endlich von diesem Gedanken. Tu nicht nur, was du für richtig hältst. Sondern tu, was notwendig ist! Überlege dir, was wirklich wichtig ist. Es geht nicht darum, dass Lennys ihren Sijak pünktlich gereicht bekommt oder dass jemand für sie Briefe fälscht....“ An dieser Stelle errötete Sara erneut, doch Wandan achtete gar nicht darauf. „Lennys ist kein unselbständiges Prinzesschen. Sie kommt sehr gut ohne Diener aus. Damals, vor zwölf Jahren hat sie vieles verloren, was einen Menschen menschlich macht. Sie mag dir oft hart und gefühlskalt erscheinen. Unnahbar, abweisend, vielleicht sogar böse. Und manchmal hast du damit sicher recht. Aber tief in ihr drin steckt noch Satons Erbe. Vielleicht weiß sie bis heute nicht, warum sie dich an ihrer Seite duldet. Und doch tut sie es. Sie erlaubt, dass du ihr näher bist als jeder andere, wenn man von wenigen Ausnahmen wie Rahor einmal absieht. Und genau das ist es. Sie tut das Richtige, ohne dass es ihr bewusst ist. Und du wirst auch das Richtige tun, wenn du endlich einmal lernst, du selbst zu sein und dich nicht länger zu verstecken. Ich weiß, dass du es kannst. Es gab Momente, in denen du den richtigen Weg schon eingeschlagen hattest. Als du ihr nachgelaufen bist, obwohl sie dich im Nebeltempel zurücklassen wollte. Oder vor ein paar Tagen, als du ohne ihren ausdrücklichen Befehl im Kaminzimmer standest und für sie die Schriften sortiert hast. Ja, ich weiß mehr als du denkst. Heute, als