Arnulf Meyer-Piening

Doppel-Infarkt


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       „Oh, das ist ungewöhnlich“, war seine spontane Reaktion, „ich dachte, Sie würden vor allem die Tempel besichtigen. Sie sollten aber insbesondere Nikko nicht versäumen, da müssen Sie unbedingt hinfahren.“

       „Die Tempelanlagen möchte ich wirklich gerne sehen, ich habe so viel darüber gelesen.“

       „Wenn Sie außerdem die Natur genießen wollen, dann empfehle ich ihnen Hakone, den Ashinoko See oder den Kamakura-Tempelbezirk. Werden Sie Frau Tanabe wiedersehen?“ fragte er unvermittelt.

       „Ja, heute Nachmittag.“

       „Es freut mich, dass sie Ihnen unsere Stadt zeigt, sie hat große Kenntnisse, weil sie Kunstgeschichte studiert hat.“

       „Ich unterhalte mich gerne mit ihr, sie ist eine interessante Frau, im Übrigen anders, als ich mir japanische Frauen vorgestellt habe, sie äußert ganz frei ihre Meinung.“

       „Ihr Europäer habt eine falsche Vorstellung von japanischen Frauen, die sind keineswegs die Unterdrückten dieser Nation. Das sieht nur von außen so aus, tatsächlich haben sie bei uns eine ziemlich starke Stellung, jedenfalls in der Familie, aber auch im öffentlichen Leben ändert sich das traditionelle Rollenverständnis zwischen Mann und Frau.“

       Am Nachmittag trafen sich Beyer und Frau Tanabe pünktlich vor dem Büro.

       „Wohin wollen Sie heute gehen?“ fragte sie ihn mit freundlicher Stimme.

       „Wohin wollen Sie mich heute führen?“

       „Ich würde Ihnen gerne den Meiji Jingu Shrine im Zentrum von Tokio zeigen.“

       „Dann sollten wir dorthin fahren.“

       Frau Tanabe war ganz in die Rolle der Fremdenführerin geschlüpft: „Während der Meiji-Periode von 1868 bis 1912 öffnete sich Japan schrittweise fremden Einflüssen, nachdem es sich viele Jahrhunderte lang gegen alles Fremde abgeschlossen hatte. Die Verfassung wurde geändert und die Kultur blühte auf. Es wurde damals die Grundlage für das moderne Japan gelegt. Der Kaiser wurde sowohl von den Japanern als auch von den fremden Mächten als ein großer Herrscher angesehen. Seine Frau, die Kaiserin Shôken, war das Vorbild für die moderne Japanerin, selbstbewusst und attraktiv.“

       „So wie Sie?“

       „Glauben Sie, dass ich eine moderne Frau bin?“

       „Ich glaube schon, Sie wirken so auf mich.“

       „Wie wirke ich auf Sie?“

       „Ich kann das nicht beschreiben, aber Sie berühren mich auf ganz besondere Weise.“

       „Ich berühre Sie doch gar nicht.“

       „Ich meine das im übertragenen Sinn, nicht körperlich.“

       „Ach so …“

       Irgendwie schien sie plötzlich traurig zu sein und wechselte rasch wieder in die unverfängliche Rolle der Fremdenführerin. „Und dieser Tempel wurde nach dem Tod des Kaisers zu seinen Ehren und zur Erinnerung an ihn und die Kaiserin im Jahre 1920 erbaut. Diesen Spruch der Kaiserin sollten Sie gut in Erinnerung behalten: ‚Es ist leicht, Fehler auf allen Gebieten des täglichen Lebens zu machen, sorgen Sie also dafür, dass Sie nie hastig oder nachlässig sind, sondern wägen Sie sorgfältig ihre kleinsten Handlungen und Worte‘“

       Beyer fühlte sich betroffen: „War ich nachlässig oder habe ich etwas Falsches gesagt?“

       „Nein, das haben Sie nicht, aber Sie sollten es auch nicht tun. – Hier ein anderes Wort: ‚Weiche niemals von dem Weg ab, den dir deine Überzeugung vorgibt, wie groß auch immer die Hindernisse sind, die du überwinden musst: Bleibe dir selbst treu‘.“

       „Ich will es versuchen“, sagte er, „aber wie ist es mit Ihnen?“

       „Auch ich will es versuchen, das heißt, ich versuche es schon lange, aber es ist nicht immer einfach.“

       „Ist es nicht! Manchmal ist es viel einfacher, von dem richtigen Weg abzuweichen, weil ein Hindernis unüberwindlich scheint. Und außerdem, ist man sich auch nicht immer sicher, welches die richtige Straße ist. Es stehen keine Wegweiser an Gabelungen und Kreuzungen.“

       „Ja, leider, ich kenne auch nicht immer die richtigen Zeichen. Ich glaube sogar, dass ich in der Vergangenheit den falschen Weg gegangen bin.“

       „Wieso?“

       „Ich werde es Ihnen vielleicht einmal sagen, vielleicht später.“

       Beide waren plötzlich sehr ernst geworden, so als bedrücke sie etwas, was sie nur indirekt andeuten, aber niemals aussprechen wollten. Schweigend und in Gedanken versunken verfolgten sie ihren gemeinsamen Weg.

       „Sie als Segler fahren sicher gerne mit dem Schiff“, sagte Frau Tanabe am nächsten Tag unvermittelt. „Ich habe mit meiner Freundin telefoniert. Sie erzählte mir, dass sie und ein paar Freunde heute Abend mit einem kleinen Ausflugsdampfer eine Abendfahrt auf dem Sumida Fluss, mit Tanz, Tombola, kaltem und warmen Buffet, machen. Hätten Sie Interesse mitzufahren?“

       Beyer hatte Lust, große Lust sogar. Die Metro brachte sie zum Schiff. Frau Tanabe begrüßte ihre Freundin und stellte ihr Herrn Beyer vor.

       An Bord gab es ein Glas Sekt, eine kleine Musikkapelle spielte westliche Melodien: Swing und Blues, man stand in kleinen Gruppen zusammen, etwa 15 junge Damen und vielleicht 10 Herren. Alle sprachen gutes Englisch, so dass Beyer sich problemlos mit ihnen verständigen konnte. Das Buffet in der Mitte des Salons sah vorzüglich aus: Auf runden und ovalen Silberplatten waren kalte Speisen, vornehmlich Fisch und Gemüse, aber auch kleine gebratene Fleischstücke, verteilt. Auf einem zweiten Tisch wurden in beheizten Schalen warme Speisen dargeboten, wieder Fleisch und Fisch, in unterschiedlicher Weise zubereitet. Es war alles köstlich. Man bediente sich selbst, die Atmosphäre war formlos und ungezwungen, es hätte irgendwo auf der Welt sein können, in den USA oder in Europa, irgendwo. Warum also nicht in Tokio? Junge Menschen sind doch überall auf der Welt gleich: Alles lachte und schwatzte durcheinander, man flirtete, bediente sich gegenseitig und balancierte die gefüllten Teller auf den Knien, denn man saß auf Bänken an der Bordwand.

       Anschließend wurde getanzt, oder man ging auf das obere Deck, um sich die beleuchtete Stadt und die anderen Schiffe anzusehen. Die Sterne leuchteten, das Leben war leicht und die Probleme weit entfernt. Beyer und Frau Tanabe standen nebeneinander, lehnten an der Reling und sahen schweigend auf das Wasser.

       „Was denken Sie?“ fragte sie.

       „An nichts Spezielles, nur, dass es so noch recht lange bleiben könnte. Man müsste die Zeit anhalten können.“

       „Müssen Sie denn so bald schon wieder fort?“

       „In etwa 8 bis 10 Tagen.“

       „Oh, dann haben wir ja noch viel Zeit. Wollen wir tanzen?“

       Sie tanzte leicht wie eine Feder. Sie lag in seinem Arm, sie bewegten sich gleichmäßig harmonisch im Takt, so als ob sie schon Jahre miteinander getanzt hätten.

       Die Musik wurde für ein Gesellschaftsspiel unterbrochen: An jedes Tanzpaar wurden große Spielkarten verteilt, sie wurden