ihm wiederholt gesagt hatte, dass man nie, nie zu fremden Leuten ins Auto steigen durfte, egal wie freundlich sie taten. Das hatte er auch verstanden, aber das hier fühlte sich irgendwie anders an. Die Dame kam ihm nicht fremd vor. Sie hatte selbst ein Kind und einen Mann. Gustav nahm seinen Schulranzen ab, stieg auf der Beifahrerseite ein und ließ sich auf den Ledersitz gleiten. Bewundernd sah er sich um. Das Armaturenbrett faszinierte ihn. Es sah irgendwie altmodisch und vornehm und gleichzeitig irrsinnig modern aus. Die Dame schloss die Beifahrertür. Sie sah seine Begeisterung.
„Wollen wir eine kurze Fahrt unternehmen?“ fragte sie ihn. “Es dauert noch eine Weile, bis mein Mann zurück kommt.“ Sie lächelte: „Wir wollen uns doch nicht langweilen“.
Sofort kehrte das mulmige Gefühl in seinem Bauch zurück, aber was sollte schon passieren? Es war bestimmt alles in Ordnung und hinterher konnte er seinen Freunden von dem tollen Auto erzählen.
Gustav nickte stumm. Sofort surrte der Motor los. Der Wagen schwebte über die Straße, Gustav war begeistert. Als sie um mehrere Straßenecken gebogen waren, hielt die Dame den Wagen am Straßenrand an. Gustav sah aus dem Wagenfenster, hier standen kaum noch Einfamilienhäuser, nur eine Menge Bäume. Er drehte sich wieder zu der Dame um. Plötzlich war das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie guckte ganz komisch und hielt etwas in der Hand. Es war ein weißes Tuch. Das Tuch näherte sich seinem Gesicht. Das letzte was er dachte war, dass er riesige Angst hatte, seine Mama und seinen Papa nicht mehr wieder zu sehen.
Kapitel 18
Kriminalhauptkommissar Andreas Müller vom LKA 1, Dezernat 11, war zum Leiter der Sonderkommission „Obdachlosenmörder“ ernannt worden. Sie hatten mittlerweile das dritte Opfer in der Pathologie liegen. Die Medien hatten noch keinen Wind davon bekommen, zum Glück! Irgendwie war heute Morgen mal wieder die Hölle los. Gerade war die Meldung, dass ein Kind spurlos verschwunden war, hereingekommen. Möglicherweise steckte auch eine Entführung dahinter. Solche Taten bedeuteten immer höchste Alarmstufe. Aber das war nicht sein Dezernat. Sie mussten sich hier mit ganz anderen Problemen herumschlagen.
Er und seine vier Kollegen, die Komissare Harald Maurer, Falko Schmidt, Silke Böhm und Sven Sörensen waren mit den Ermittlungen beschäftigt.
Sie hatten sich jetzt um 9:00 Uhr morgens im Besprechungsraum versammelt. Die Kollegin Böhm war dazu verdonnert worden, die bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammenzufassen.
Kommissarin Silke Böhm ordnete ihre Unterlagen und referierte den Ermittlungsstand: "Wir haben das Opfer inzwischen identifizieren können, obwohl es, wie die anderen beiden Opfer auch, übel zugerichtet war. Seine Fingerabdrücke waren in unserer Kartei. Er war vorbestraft wegen Drogendelikten verbunden mit der üblichen Beschaffungskriminalität.
Sein Name ist Patrick Swoboda, 28 Jahre alt, ohne festen Wohnsitz, ohne Arbeit und Familienmitglieder waren bislang nicht ausfindig zu machen. Also ein ähnlicher Lebenslauf wie bei den anderen beiden Opfern Holger Möhlich und Maik Schuster. Einzige augenscheinliche Abweichung ist, dass die beiden anderen Opfer heterosexuell und geschieden waren. Danny Swoboda war homosexuell, dies wissen wir sicher von seinem Freund Olli Schafmeister. Letzter Aufenthaltsort war der Bahnhof Zoo. Laut Zeugenaussage von Olli Schafmeister hatten sich die beiden dort in eine Nische bei den Gepäckaufbewahrungsfächern begeben. Sie hatten sich dort ein Nachtlager eingerichtet. Patrick wurde das letzte Mal gesehen von seinem Freund, als er sich in Richtung Bahnhofstoiletten bewegte. Danach war er wie vom Erdboden verschluckt.
Der Kollege Kriminalkommissar Maurer meldete sich. „Warum wurde er nicht vermisst gemeldet?“
Silke zuckte mit den Schultern: „Das haben wir ihn natürlich auch gefragt, aber er meinte, für einen Drogensüchtigen würden die Bullen sowieso keinen Finger krumm machen, da hätte eine Vermisstenmeldung keinerlei Sinn. Außerdem kostet es ihn irrsinnige Überwindung Kontakt zur Polizei aufzunehmen. Na ja, jedenfalls wurde die Leiche von Patrick acht Wochen später, in ihre Einzelteile zerlegt, im Zoologischen Garten aufgefunden. Als die Tierpfleger zur Arbeit kamen, fand einer von ihnen die Körperteile im Nashorngehege. Dieses grenzt an den Außenzaun. Um die Leichenteile loszuwerden, musste man das Zoogelände nicht mal betreten.“
Der Kollege Sörensen fragte: „Konnten die Kollegen denn Zeugen ausfindig machen, die Patrick irgendwann, nachdem der Zeuge Schafmeister ihn vermisste, nochmals gesehen haben oder Zeugen, die die Ablage der Leichenteile beobachtet haben? Die Gegend da am Zoologischen Garten ist doch im Sommer sehr überlaufen.“
Kommissarin Böhm schüttelte den Kopf: „Zeugen, die genauere Angaben machen könnten, zu welcher Uhrzeit und wo genau Patrick zuletzt gesehen wurde, konnten trotz intensiver Suche nicht ausfindig gemacht werden, bzw. existieren vielleicht auch nicht. Was die Ablage der Leichenteile betrifft, hat sich auch niemand gemeldet”.
Hauptkommissar Müller kratzte sich frustriert am Kopf. So kamen sie nicht voran, sie mussten weiter nach Zeugen suchen, die kleinste, scheinbar harmloseste Beobachtung konnte sie weiterbringen und die Ermittlungen in die entscheidende Richtung lenken. Auch der Obduktionsbericht hatte keine entscheidenden Hinweise geliefert. Eine ganz spezielle Tötungsart, die Rückschlüsse auf den Beruf des Täters zuließ hätte ihnen auch einen Ermittlungsansatz geliefert. Stattdessen waren die Opfer eines scheinbar natürlichen Todes gestorben. Aber sie konnten sich nach ihrem Tod schlecht selbst verstümmelt haben oder wütete da ein Irrer in der Stadt, der genau das tat, Tote verstümmeln. Das wäre Leichenschändung, aber kein Mord.
Er verteilte die neuen Aufgaben an seine Mitarbeiter und beendete die Besprechungsrunde. Sie verstreuten sich in alle Richtungen, um die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden.
Gustav blinzelte mit den Augenlidern. Etwas stach ihm in die Augen, blendete ihn fürchterlich. Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Ja genau, das Letzte was er gemacht hatte, war in dieses tolle Auto zu steigen. Da war diese elegante Dame, die in einem ganz teuren Auto saß. Irgendwie war er mit ihr ins Gespräch gekommen. Er war zu ihr ins Auto gestiegen und sie war ein paar hundert Meter mit ihm gefahren und dann? Er blinzelte noch ein paar Mal und öffnete dann entschlossen die Augen. Er musste unbedingt wissen, was los war. Was ihn so fürchterlich blendete war eine starke und sehr helle Lampe, die sich weit oben befand. Er bewegte den Kopf ein wenig und erschrak. Er hatte sich in eine Mumie verwandelt. Von den Schultern bis zu den Zehenspitzen war sein Körper mit Stoffstreifen umwickelt, auch seine Arme waren mit eingewickelt. Was würde Mama dazu sagen? Dann fiel es ihm siedendheiß ein: sie würde sagen, dass er nicht in fremde Autos einsteigen durfte. Ob sie schon gemerkt hatte, dass er verschwunden war? Ob sie schon Papa Bescheid gesagt hatte? Ob sie sich Sorgen machten? Komischerweise machte er sich mehr Sorgen, dass seine Eltern sich ängstigten, als dass er sich über seine Situation Gedanken machte. Er fühlte die Gefahr, in der er sich befand in seinem Bauch. Er merkte wie Tränen in seine Augen stiegen, an seinen Wangen hinab liefen und er konnte nicht mal eine Hand heben um sie abzuwischen. Geräuschlos weinte er eine Weile vor sich hin. Nicht mal den Mund konnte er öffnen, um nach Hilfe zu schreien. Sein Mund war wie versiegelt. Vom Weinen sammelte sich Rotz und Wasser in seiner Nase. Dringend wollte er sich die Nase putzen, um wieder freier zu atmen, aber das ging ja nicht. Durch den Tränenschleier hindurch sah er, dass er sich noch immer im Auto befand, die Scheiben waren alle heruntergelassen. Er war allein und das Auto stand in einer Garage ohne Fenster, vermutete er jedenfalls. Schließlich hatten Mama und Papa auch eine Garage und die Eltern seiner Freunde auch und irgendwie sahen alle Garagen, die er bis jetzt in seinem Leben gesehen hatte, gleich aus. An den Wänden standen Blechregale, wie er sie schon im Baumarkt gesehen hatte und in diesen Blechregalen standen Farbdosen, Ölflaschen, Putzmittel, Pinsel, Lappen und all so ein Kram. Seine Augen hatten sich inzwischen so an die Helligkeit gewöhnt, dass er auch die Lichtquelle erkennen konnte. Es war eine Art Bauscheinwerfer, der ihm direkt ins Gesicht leuchtete. Gerade als er sich wieder Sorgen machte, ob seine Mama und sein Papa sich Sorgen machten, hörte er ein Geräusch. Es kam nicht vom großen Rolltor der Garage, sondern von einer seitlich in die Wand eingelassenen Tür. Unwillkürlich begann sein Herz wild zu klopfen. Vor lauter Angst und Angespanntheit schnappte er nach Luft. Dann fiel ihm ein, dass er vielleicht besser so