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      Ella ließ das Empfangsgebäude rechts liegen und gelangte nach wenigen dutzend Metern zum Altersheim. Autsch! Dieser Begriff war hier absolut verpönt, das hatte man ihr gleich zu Beginn eingetrichtert. Das Ding war eine Seniorenresidenz und dieses Gebäude trug den Namen Villa „Poseidon“ und weckte damit Assoziationen an ein Strandhotel an der Ostsee. Sie hatten es hier wohl mit den griechischen Göttern. Jeder Gast, der das Wort „Alt”, „Pflegeheim” oder gar „Altersheim” in den Mund nahm wurde mit Blicken förmlich erdolcht.

      Schon das Entree war fantastisch, wie ein Schlosshotel. Wohin das Auge schweifte, nur edles Parkett, Marmor und antike Möbel, kostbarer Blumenschmuck und schöne Gemälde.

      Das Personal trug schicke Uniformen, keine praktischen, ordinären Pflegekittel, wie es in den anderen Heimen üblich war und geleitete den Besucher zum gewünschten Bewohner. Alle Residenten verfügten über eine Suite mit Balkon. Im Erdgeschoß befand sich das Restaurant, in welchem auf Sterneniveau gekocht wurde. Jeden Monat war für diesen Luxus ein kleines Vermögen fällig, das wusste Ella genau.

      Das ganze Gebäude war nur auf Repräsentation angelegt, alle Zweck und Wirtschaftsräume schienen wie von Zauberhand unsichtbar zu sein.

      Die Pflegerin Gaby, die aber aussah wie die Angestellte eines 5 Sterne Hotels, führte Ella in die Luxussuite der alten Dame.

      Sie begrüßte die Seniorin mit einer herzlichen, aber vorsichtigen Umarmung und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Augusta freute sich offensichtlich über ihren Besuch und entgegnete voller Enthusiasmus:

      „Ach Kindchen, ich will nicht klagen. Die Knochen werden nicht jünger, aber was soll ich mit meinen 96 Jahren jammern? Meine Freunde sind fast alle tot, das macht mich wirklich traurig. Man wird einsam im Alter. Deshalb freue ich mich ja so, dich zu sehen.”

      Das schlechte Gewissen meldete sich bei Ella. Sie wusste, dass sie sich viel zu selten blicken ließ und nahm sich zum wiederholten Male vor, dies zu ändern.

      Sie ließ sich auf einem eleganten Sessel nieder und holte eine Mappe aus ihrer Tasche.

      „Augusta, ich muss einige finanzielle Dinge mit dir besprechen".

      „Genau“, erwiderte diese, „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, und gab Ella genaue Informationen, welche finanziellen Transaktionen sie in ihrem Auftrag tätigen sollte. Ella war höchst beeindruckt, wie informiert die alte Dame über den derzeitigen Stand am Aktien- und Finanzmarkt war, dass hätte sie ihr gar nicht mehr zugetraut.

      Als Augusta schließlich geendet hatte und sich im Sessel zurücklehnte, ging Ella zum geselligen Teil über. Sie nahm ein Schlückchen von dem köstlichen Earl Grey Tee aus der geblümten Meissner Porzellantasse und fragte: „Wie gefällt es dir hier Augusta? Hast du irgendwelche Dinge, über die wir uns beschweren müssen oder ist alles in Ordnung hier? ”

      Augusta schüttelte vehement den Kopf,

      „Nein, auf keinen Fall, der Service lässt hier keine Wünsche offen, das Personal ist richtig freundlich und dienstbereit, ich kann mich über nichts beklagen. Aber…“

      Sie geriet ins Stocken und verstummte. Ella wartete ab, als nichts mehr folgte, nahm sie den Faden wieder auf und bohrte nach.

      „Was aber?“

      Augusta druckste herum. Sie schwieg, dann schien sie zu überlegen und senkte plötzlich ihre Stimme zu einem Flüstern herab:

      ”Ich wollte dir schon noch etwas Komisches mitteilen. Ich bin ja nun schon einige Monate hier und ich kann mich im Prinzip wirklich nicht beklagen, wie ich dir ja eben gesagt habe, aber ich habe immer noch gute Augen und Ohren und ich sage dir, ich habe das Gefühl, dass …,ach was, lassen wir das. Wenn man zur Ruhe kommt und nicht genügend zu tun hat, wird man leicht …“, sie hob die Schultern, „seltsam - aber ich bin weder Taub noch Blind und mit dem Rollator komme ich noch gut voran.“

      Verblüfft starrte Ella ihre alte Freundin an. Wurde sie jetzt doch dement? Litt sie unter Wahnvorstellungen, Verfolgungswahn? Alles keine ungewöhnlichen Krankheitsbilder in ihrem Alter. Sie schluckte und überlegte, wie sie darauf reagieren sollte.

      Augusta sah ihr geradewegs in die Augen.

      „Kindchen, ich weiß, was du denkst. Du meinst bestimmt, dass ich jetzt langsam verrückt werde, ich kann es an deinem Gesicht ablesen. Aber ich schwöre dir, meine Birne ist noch intakt.”

      Mit diesen Worten klopfte Augusta sich mit der Faust an die Stirn.

      „Und auf der Höhe der Zeit bin ich auch.” Triumphierend zog die alte Dame ein topaktuelles I-Phone aus der Tasche ihres eleganten Hausmantels.

      „Ich kann auch damit umgehen”, versicherte sie Ella nachdrücklich.

      Zum zweiten Mal blieb Ella vor Verblüffung der Mund offen stehen. Wer hätte das gedacht?

      Ella beschloss, sich erstmal auf diese seltsamen Andeutungen einzulassen.

      „Dann erzähle mir bitte mal, was du so komisch findest. Es ist doch alles ganz fantastisch hier, nettes Pflegepersonal, tolles Essen, wie im Luxushotel und die medizinische Betreuung ist doch auch o. k.”

      „Kindchen, ich kann mich, wie gesagt, nicht beschweren. Es ist mehr ein Gefühl, die Atmosphäre ist irgendwie …”

      Abrupt brach sie ab und wechselte das Thema.

      „Was mich am Altwerden wirklich ärgert, sind die vielen Tabletten, die einem vom Doktor verordnet werden. Zu jeder Mahlzeit muss ich irgendeine Pille schlucken, ich habe schon fast den Überblick verloren.“

      Ella wurde immer mulmiger zumute. Tickte ihre alte Freundin jetzt zusehends aus?

      „Also, das ist doch das normalste auf der Welt, dass hier kiloweise Medikamente verteilt werden. Ihr alten Leutchen futtert doch jeden Tag eine Apotheke leer. Jeder nimmt doch Beta Blocker, Lipidsenker, Herzmedikamente, Entwässerungsmittel, Blutzuckersenkende Medikamente und in der Grippesaison noch massenhaft Antibiotika, was weiß ich alles. Ich gehe jede Wette ein, dass jeder der hier wohnt, täglich mindestens fünf verschiedene Medikamente nimmt.”

      „Ja, da hast du leider recht Ella, das weiß ich doch. Damit muss man wohl leben im Alter. Ich alte Frau sehe zu viele Gespenster.“

      Heimlich schielte Ella auf ihre Armbanduhr, es war schon nach 21:00 Uhr, sie musste wirklich gehen.

      ”Pass gut auf dich auf, Augusta", sagte sie zum Abschied und erhob sich.

      „Ich werde spätestens in vier Wochen wieder vorbeikommen und dich dann hoffentlich gesund und munter antreffen.“

      „Ach, Kindchen, ich habe den Holocaust überlebt, also werde ich auch dies hier überleben, zumindest noch einige Jahre."

      Kapitel 7

      Gina seufzte innerlich, gerade hatte sie auf ihr Smartphone geschaut und gesehen, dass es schon beinahe 23:30 Uhr war. Sie hatte glatt vergessen, mit Scotch noch die Abendrunde zu drehen. (Das lag natürlich an dem neuen supercoolen Computerspiel, mit dem sie sich die Zeit vertrieben hatte). Das Smartphone zeigte auch an, dass die Regenwahrscheinlichkeit in den nächsten Stunden bei 80 % lag. Diese Dinger waren wirklich toll und zu viel zu gebrauchen, aber den Hund Gassi führen musste sie immer noch selber.

      Ihre Mutter hatte Nachtschicht, die kam nicht vor morgen früh nach Hause. Als hätte er ihre Überlegungen gehört, hörte sie ein leises Jaulen aus dem Flur. Scotch der Terrier war ein gut erzogener Hund, aber auch er war ein tierisches Wesen mit einer Blase.

      Gina nahm ihre Jacke von der Garderobe im Flur und die Hundeleine. Erleichtert sprang Scotch wie ein Wirbelwind um sie herum. Endlich hatte Frauchens Tochter ein Einsehen mit ihm.

      Sie nahmen den Fahrstuhl vom 4. Stock ins Erdgeschoss. Im Fahrstuhl wurde Scotch angeleint. Gina trat durch die Eingangstür ins Freie und schaute die Straße hinauf und hinunter. In den nahe gelegenen Park würde sie um diese Uhrzeit nicht mehr gehen. Das hatte ihre Mutter ihr