Dorothée Linden

SCHULD-LOS


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      SCHULD-LOS

      Copyright ©2013 Dorothée Linden

      published by: epubli GmbH, Berlin

      www.epubli.de

      ISBN 978-3-8442-6046-5

      „Wenn das Geld im Kasten klingt,

      die Seele aus dem Feuer springt.“

      Johann Tetzel, Ablassprediger

      I

      Januar 2010

      Sein Blick klammerte sich an den schwarzen Raben und die beiden Spatzen. „Bloß keine Tränen“, dachte Martin. Er fokussierte die Vögel, die Spatzen in dem kahlen Baum, den Raben unten auf dem Mauervorsprung. Die Spatzen wippten auf und ab, hielten Ausschau nach Nahrung. Unvermittelt flatterten sie davon, mit kleinen, flinken Flügelschlägen. Vielleicht befand sich hinter dem Friedhof ein Getreidefeld, mit keimender Wintersaat unter dem frischen Schnee. Der Rabe verharrte weiter regungslos. Die kleine Ansammlung von Menschen ganz in seiner Nähe schien ihn nicht im Geringsten zu beirren. Martin versuchte, nur an das Leben von Vögeln zu denken. An sonst nichts. Schon gar nicht an die reale Situation. Veränderungen waren ihm zuwider. Ob es Ellas Idee war auszuwandern oder anderes. Veränderungen jedweder Art. Und dazu gehörte auch der Tod von Eleonore Westerholt. Er kämpfte gegen die Tränen. Überwinterung, Paarung, Brut, Aufzucht. Es gelang ihm nicht. „Dein Wille geschehe“. Der Atem des Pfarrers stieß weiße Rauchwölkchen aus. Martin schniefte. In dem Moment erwachte der Rabe zu Leben. Mit seinen großen Schwingen stieg er in die Lüfte hoch. Er krächzte. „Rra Rra Rra“. Je weiter sich der Vogel aus Martins Blickfeld entfernte, umso stärker umfing die Wirklichkeit ihn wieder, hier, an der gefrorenen Endstation eines Menschenlebens.

      II

      Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir…“ Beim Vater Unser auf verschneitem Boden zog Frank Bilanz und gönnte sich den Blick zurück auf seinen Werdegang zum Millionär. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte er den Entschluss hierzu gefasst, unwiderruflich, vor nun mehr als fünfunddreißig Jahren. Millionär auf eigene Faust zu werden, ohne Staub und Moder. Sein Ziel. Durchaus dringend nach einer nervtötenden Schullaufbahn, der Ausbeutung als Lehrling in einer Computerklitsche und nach zwei Jahren immer gleicher Arbeit bei der Firma „Comdot International“.

      Immer einen Schritt voraus zu sein, war die Devise, schlicht und klar. Zwei Regeln hatte Frank Niemann sich gesetzt und die mit aller Strenge eingehalten: Zum einen musste das mit maximaler Lust bei minimalem Aufwand laufen. Zum andern wollte er frei und unabhängig sein und das auch bleiben. Ohne wenn und aber. Das rein monetäre Ziel wäre eines Tages auch ohne sein Zutun eingetreten, das war ihm schon damals klar gewesen. Ihre Mutter saß auf einem immensen Vermögen, und sie waren nur zu dritt. Aber das spielte für ihn nicht die tragende Rolle. Eben Regel zwei wegen. Er hatte eine freie, eine eigene, eine saubere Million gewollt.

      Durch die Zielgerade war er längst getreten. Die Dinge waren phantastisch gelaufen, er war in bester Verfassung, sein Konto prall gefüllt, er wurde geachtet und umworben. An Aufhören war nicht zu denken. Niemand hatte ihm die Zügel aus der Hand nehmen können, ihm, dem Gentleman und Mann von Welt, der er ja tatsächlich war. Bei der Sache in den Achtzigern hatte er ein Stück vom Kuchen abgeben müssen. Der Reinertrag war trotzdem noch weit höher ausgefallen als in der ersten Planung kalkuliert. Die Abschaffung der D-Mark vor acht Jahren hatte seinen Ehrgeiz nur müde gekitzelt. Er hatte sein Ziel beherzt auf Euro umgestellt und auch das bereits durchlaufen. Den ersten, alles entscheidenden Schritt hatte er seinerzeit vollzogen, als er dem Mief des elterlichen Hauses den Rücken gekehrt hatte. Dem Haus seiner Mutter, um es genau zu nehmen.

      Nun stand er vor ihrem Grab. In der Nacht von Freitag auf Samstag vor fünf Tagen hatte sie sich für immer in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, war eingeschlafen, ohne auch nur adieu zu sagen. „Denn Dein ist das Reich…“ Frank kroch die Kälte dieses Januartages unerbittlich in die Glieder. Noch in dieser Woche würden Konrad, Vera und er ein Vermögen beachtlichen Ausmaßes einstreichen. Erben. Nicht auf eigene Faust Verdientes, sondern nur verpönter Staub und Moder. Er war nicht darauf angewiesen. Würde sozusagen on top kassieren. Aber sein Brüderchen gierte schon seit langem nach dem Geld. Hatte jede Menge Schulden. Bei wem auch immer. Der Lebenswandel eines Diakons ließ halt nichts zu wünschen übrig. Bis er am Ende des Tages auf den Tod seiner eigenen Mutter setzen musste. „…in Ewigkeit. Amen.“

      Der Pfarrer sprach den Segen. Konrad hätte sicher gern die Feier zelebriert. Mit salbungsvoller Stimme „Asche zu Asche und Staub zu Staub“ gesprochen - und dann abräumen. Aber sie hatten ihn gar nicht erst erreicht.

      Wahrscheinlich saß er mal wieder in einem Funkloch irgendwo entlegen in einem Winkel der fernen Welt. In trauter Runde auf seiner Gitarre klampfend, umgeben und angehimmelt von einer Schar Jugendlicher, die auf den rechten Pfad zu bringen seine Mission war. Mit diesen Worten hatte er es ihm tatsächlich rüberbringen wollen, was er so machte fernab der heimischen Gefilde. Mann, wann hatten sie sich so auseinanderentwickelt. Die beiden Zwillinge, die man immer noch äußerlich kaum voneinander unterscheiden konnte.

      Es war dringend, dass Konrad sich endlich bald mal meldete. Und zwar aus einem ganz anderen Grund: Nach dem Chemieunfall in Tsangche gab es dringend Handlungsbedarf. Oder vielmehr Rückzugsbedarf. Frank hatte sich schon ausgeklinkt, und zwar unverzüglich, sobald ihn die Nachricht von dem Unglück erreicht hatte. Egal um das schöne Geld – aber das war seine Devise: „Keinen Ärger“. Der Unfall war nun wirklich schrecklich. Da durfte sein Name nicht in Erscheinung treten. Unter gar keinen Umständen. Er hatte sofort alles Notwendige veranlasst. Seinen Kunden hatte er die bereits verkauften Optionen zurückerstattet. Nun hoffte er inständig, dass Konrad nichts verbockt hatte. Auch sein Anteil war natürlich futsch, aber das Erbe würde seinen Bruder schon milde stimmen. Trotzdem: Er musste ihn dringend sprechen.

      Überhaupt hatten sich alle etwas rar gemacht. Die Kinder waren zu Besuch bei ihrer Mutter in Amerika. Glücklicherweise war Cécile angereist. Seine Tante Cäcilia, die älteste Schwester seiner Mutter, nannte sich mit der französischen Form ihres Namens, seit sie vor gut vierzig Jahren in der Normandie einen Mann und ein Chateau ergattert hatte. Sie hatte bereitwillig die Formalitäten und die Organisation der Beisetzung in die Hand genommen.

      Seine kleine Schwester wäre damit überfordert gewesen. Er hatte Vera schon am Morgen getroffen. Es war kein Geheimnis, dass sie nicht gerade den Kontakt zu ihren Brüdern suchte. Umgekehrt verhielt es sich nicht anders. Konrad war ständig auf Achse, und er selbst war auch nur selten in der alten Heimat. Vera. Seine hübsche und schüchterne Schwester. Sie war fast neun Jahre jünger als Konrad und er. Selbst Familienfeiern und Mutters runde Geburtstage hatten die beiden Brüder ausgelassen. Er selbst hatte keinen Antrieb verspürt, Konrad hatte eigentlich so gut wie immer Wichtigeres im Programm. Zu sehr waren die Lebenswege der Geschwister auseinandergelaufen. Der Altersunterschied tat sein Übriges.

      Heute Morgen war er offen auf Vera zugegangen und hatte sie in den Arm genommen. Immerhin hatte sie noch am meisten Kontakt mit ihrer Mutter gehabt. Da wollte er nur ein bisschen nett zu ihr sein. Nach kurzer Erwiderung war sie zurückgewichen, hatte ihn verstört angeblickt und sich weggedreht. Nun gut, an solch einem Tag musste jeder auf seine Weise klar kommen. Sie sah wirklich mitgenommen aus. Das noch immer schöne Gesicht wurde von einer Härte um ihren Mund durchzogen, die nicht auf pure Lebensfreude schließen ließ. Er wusste nicht einmal, womit sie sich zurzeit so über Wasser hielt. Das Klavierspiel hatte sie sicher nicht aufgegeben. Nach seinen letzten Informationen war sie freiberuflich als Übersetzerin unterwegs. Vielleicht würde sich ja doch noch ein Gespräch ergeben.

      In einiger Entfernung sah er Martin, den kleinen Martin. Er war natürlich nicht mehr klein. Mutter hatte den Gestrandeten aufgenommen, als dieser gerade zwölf Jahre alt geworden war und nachdem der Vater sein Familienheim abgefackelt hatte. Martins Mutter war bei dem Brand ums Leben gekommen. Die Kinder hatten in dem Anbau nebenan geschlafen und waren mit heiler Haut davongekommen.

      Ob es nun tatsächlich Martins Vater war, ob da Absicht im Spiel war und unter welchen Umständen sich das Ganze in Wirklichkeit abgespielt hatte, wusste natürlich keiner so richtig. Aber so hatten sie es sich zusammengereimt,