Dorothée Linden

SCHULD-LOS


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er hatte beim allerbesten Willen, beim lieben Herrgott noch eins, nein, er hatte absolut keinen blassen Schimmer gehabt.

      „Hallo Vera, Du bist aber noch ganz schön spät wach“ oder so etwas in der Art war ihm heraus gestottert. Sie hatte ihn so komisch angestarrt. Dann hatte er sich umgedreht und sofort tief schlafend gestellt. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte er sogar ein bisschen getan, als schnarche er.

      Am nächsten Tag hatten sie kein einziges Wort darüber verloren. Martin hatte in den folgenden Tagen versucht, Vera so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Einige Nächte später wiederholte sich die Situation, identisch nahezu. Das lautlose Auftauchen, Erschrecken seinerseits, die heftige Erektion, ein hilfloses Gebrabbel, umdrehen, Schluss. Beide Male hatte er es erst unendliche Minuten später gewagt, sich wie im Schlafe umzudrehen und leiser zu atmen, um schließlich blinzelnd festzustellen, dass sie genauso unscheinbar wie sie gekommen auch verschwunden war.

      Danach geschah das nie wieder. Martin hatte diese Vorfälle zu vergessen versucht und sich bemüht, zu seiner Unbefangenheit zurückzufinden. Tatsächlich aber brannten sich diese Begebenheiten von damals, als er zwölf Jahre alt gewesen war, fest in ihn ein. Vera hatte er nie darauf ansprechen wollen, sie umgekehrt tat es auch nicht. Sie hatte das bestimmt vergessen und in ihm mit Sicherheit nichts als einen dummen, unerfahrenen Jungen gesehen. Und das hätte es ja wohl ganz genau getroffen.

      IV

      Als Ella die Tür aufschloss und ins Haus trat, konnte Martin ihre beschwingte Laune förmlich spüren.

      „Wo seid Ihr noch so lang gewesen?“, fragte er wie beiläufig, um nicht zu neugierig zu klingen, als sie endlich hoch ins Schlafzimmer kam.

      „Hier und da“, sagte sie unbestimmt.

      „Hattet Ihr Euch denn was zu erzählen, nach all der langen Zeit?“

      „Ach, es ging um die Jobs, was wir grad machen, woran wir arbeiten, über die Welt an sich, ihre Mutter und natürlich über Kerle. Über ihre Brüder. Über Dich. Du, Du bist doch schon Gesprächsstoff genug. Ein netter Mann, Anwalt des Staates, außer Dienst, hilfsbereit, Gartenfreund, ein braver Kerl.“ Sie lachte und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. War wohl etwas angeschickert.

      Trotzdem fragte er ungläubig: „Über mich habt Ihr Euch unterhalten? Dafür hörst Du Dich viel zu vergnügt an.“

      Ella lachte wieder und schoss ihre Schuhe ins Eck.

      „Weißt Du, Dein Beinaheschwesterchen ist gar nicht so verkehrt. Sie scheint inzwischen eingesehen zu haben, dass eine gestandene Frau die Finger lassen sollte von beliebigen Idioten, ständig wechselnden dazu. Jetzt lebt sie allein und scheint auch klar zu kommen. Es war jedenfalls schön, mal wieder einen Abend mit ihr auszugehen. Auch wenn es ein seltsamer Anlass ist, an so einem Tag alte Freundschaften zu beleben. Aber vielleicht steckt noch mehr drin. Gute Nacht, kleiner Martin!“ Sie drehte sich um und war auf der Stelle eingeschlafen.

      Was sollte das denn. „Kleiner Martin.“ Sie wusste doch, dass ihn das früher genervt hatte, wenn Frank ihn so genannt hatte. Martin verspürte einen Stich. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Seit Jahren wünschte er, dass sich die beiden Frauen wieder näher kämen. Dahinter steckten ausschließlich eigennützige Motive. Er hatte nie mehr unbefangen mit Vera sein können. Immer stand Ellas harsches Urteil zwischen ihnen. Vielleicht würde sich das jetzt mal ändern. Wenn aber der Inhalt ihrer Treffen darin bestand, sich über ihn herzumachen, fand er das gar nicht lustig.

      Und sie hatten über ihre Jobs gesprochen? Seit Wochen versuchte er Ella zu entlocken, an welcher Geschichte sie dran war. Entgegen ihrem sonstigen Mitteilungsbedürfnis war sie neuerdings völlig zugeknöpft.

      Er seufzte: „Abwarten bis morgen“, sagte er sich. Er strich Ella über den Kopf und deckte ihre frei liegende Schulter behutsam zu.

      In dieser Nacht wurde er von den Dämonen des Feuers heimgesucht und durch die Träume gejagt wie schon lange nicht mehr.

      Am nächsten Morgen riss ihn das Telefon aus dem Schlaf.

      „Gehst Du dran?“, rief Ella aus ihrem Arbeitszimmer. Es schien schon später zu sein. Seine Laken waren vollkommen verschwitzt. „Verfluchte Träume“, schimpfte er.

      Vera war es. Sie kam gleich zur Sache. „Würdest Du mir helfen, das Haus leer zu räumen, Martin? Bevor ich die Profis ins Haus lasse und am Ende der Entrümpelungsdienst kommt, sollten wir vielleicht ein wenig vorsortieren.“

      „Natürlich helfe ich Dir“, sagte Martin. „Was ist mit Deinen Brüdern? Und viel wichtiger, was habt Ihr denn vor mit dem Haus?“

      „Wir werden es wohl verkaufen.“

      „Nein“, entrüstete sich Martin. „Das kommt gar nicht in Frage. Ein solches Haus kann man nicht hergeben.“

      „Ich werde ganz sicher nicht in dem Haus wohnen, und was Mutter in den letzten Jahren so von Konrad erzählt hat, scheint der ziemlich klamm zu sein. Ständig. Der braucht Geld. Ganz einfach. Und Frank ist es egal. Der ist froh, wenn sich jemand um das Aufräumen kümmert. Wenn es nach ihm ginge, könnte ich auch alles einem Makler übergeben, der Räumung und Verkauf in einem Abwasch regelt.“

      „Aber Vera“, versuchte Martin es erneut, „dieses Haus, ein Schloss nahezu, meine Jugend, unsere Jugend. Könnten wir Deine Brüder nicht auszahlen?“

      „Wir?“, fragte Vera, „von wem sprichst Du?“

      „Na, von Dir und mir“, sagte Martin.

      „Es gibt kein solches „Wir‘. Nicht seit dreißig Jahren. Außerdem glaube ich nicht, dass Du die Preisvorstellungen meiner Brüder befriedigen könntest.“

      „Wir sollten mit ihnen reden“, sagte Martin. Er dachte auf einmal an den Umschlag, der ungeöffnet in einem Bankschließfach lagerte.

      „Eine durch und durch sinnlose Diskussion“, sagte Vera. „Wenn ich es allein zu entscheiden hätte, ich würde Dir das Haus schenken. Dir!“, setzte sie nach.

      „He Vera, keine Spitze gegen Ella. Ihr habt Euch doch prächtig amüsiert gestern Abend.“

      „Jaja“, sagte Vera. „Wann hättest Du denn Zeit?“, schwenkte sie zurück zu ihrem Anliegen.

      „Ich kann direkt morgen kommen.“

      „Sagen wir um zehn?“

      „Geht klar. Morgen um zehn.“ Er brauchte Zeit. Er musste sie noch irgendwie rumkriegen. Es widerstrebte ihm ganz und gar, das Haus in Veldern aus der Hand zu geben. Es war natürlich gar nicht seins, was maß er sich an, schoss es ihm durch den Kopf. Andererseits – auch er gehörte doch zur Familie. Darauf hatte Tante Lore immer großen Wert gelegt.

      Sie hat beschlossen Zahlen zusammenzuzählen. Vielleicht bleiben sie dann bei ihr. 1 und 1 gleich 2 plus 2 gleich 4 plus 3 gleich 7. Weiter kommt sie nicht. Sie kann nicht so gut rechnen und es tut weh. Sie kann nicht an die Zahlen denken.

      Sie liegt in einem Raumschiff voller Zahlen. Die Zahlen fliegen durch die Kapsel. Sie ist angebunden. Man hat ihr gesagt, dass sie auf die Kapsel aufpassen soll. Sie weiß nicht warum. Sie kann sich nicht festhalten an den Zahlen.

      Sie will nur schlafen. Du bist gut im Kopfrechnen, haben sie ihr gesagt. Sie würde das gerne abgeben, alle Zahlen und alles, was damit zu tun hat. Wenn sie einfach nur schlafen darf dafür. Mama sagt, dass alles gut ist und dass sie eine gute Familie sind. Du bist gut, hat er gesagt…plus 4 gleich 11 plus 5 gleich 16. Geliebtes Wesen, alles ist gut.

      V

      Eleonore Westerholt war die Tochter einer wohlhabenden westfälischen Familie gewesen. Mehrere Hundert Hektar Land hatten zum Besitz der Westerholts gehört. Selbst als die Ländereien längst auf die sechs Kinder aufgeteilt worden waren, hatten Eleonore und ihre Geschwister nach dem Tod ihrer Eltern reich geerbt. Hierüber wurde aber nicht gesprochen. Es wurde überhaupt wenig gesprochen. Jedenfalls nie über Persönliches, Befindlichkeiten, Nöte, Reichtum oder Glück und Unglück. Und wenn es doch einmal