Dorothée Linden

SCHULD-LOS


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nicht in Paris. Von Charles de Gaulle sind es noch gut zwanzig Kilometer bis zum Périphérique.“

      „Oh, wie ich mich freue! Stell Dir vor, ich war noch nie in Paris, es wird phantastisch sein, oh, wie ich mich jetzt schon freue.“

      Ihre Erscheinung und ihr Verhalten ließen nicht unbedingt den Schluss zu, dass man es bei ihr mit einer diplomierten Mathematikerin zu tun hatte. Ihre Oh-Manie war ihm schon bei früheren Treffen aufgestoßen. Einmal hatte er sich dabei ertappt, die ohs eines ganzen Tages zahlenmäßig zu erfassen, während sie sich gegenseitig in Stimmung gebracht hatten. So etwas war sonst gar nicht seine Art. Es war wahrscheinlich ihre Profession, die ihn zum Spiel mit Zahlen animierte. Ein sehr sehr lang gedehntes Oh hatte ihn aber dann doch aus dem Konzept gebracht. Er überlegte, ob er ihrer schon ein wenig überdrüssig wurde. Er entschied sich für „eigentlich nicht ganz“. Er fand die Mischung aus mathematischer Intelligenz und hochgradiger Naivität durchaus attraktiv und reizend. Und nutzbringend ja hoffentlich. Die Nummer mit den „ohs“ verbuchte er unter dem Konto Kollateralkosten.

      Frank hatte Katja aus dem Organogramm der „Deutschen Emissionshandelsstelle“ in Berlin herausgepickt. Die Behörde mit dem sperrigen Namen verwaltete einen noch jungen Wirtschaftszweig, nämlich den Handel mit Klimaverschmutzungszertifikaten. Wortschöpfungen zum Abwinken. Aber das war ihm egal. Es ging um eine noch nicht lange etablierte Sache, vom Staat verwaltet, da hatte sein Spürsinn gleich Störanfälligkeit gewittert und somit das Potential für gute Geschäfte. Also war er eingestiegen. Als erstes hatte er eine geeignete Kontaktperson gebraucht. Vorzugsweise eine Frau.

      Er hatte im Spätsommer letzten Jahres angefangen Katja zu beobachten, eine Weile ihre Gewohnheiten studiert und war ihr durch Berlin gefolgt, bis er beschlossen hatte, dass sie für seine Zwecke die Richtige sei. Er hatte sie schließlich in einem Café angesprochen und sie nach dem Weg zu einem Restaurant gefragt, das in Berlin-Mitte liegen müsse. Er hatte natürlich in Erfahrung gebracht, dass sie dort regelmäßig verkehrte. Sie hatte gestrahlt und geantwortet: „Oh, da haben Sie aber Glück, das Restaurant kenne ich gut. Ich kann es Ihnen nur empfehlen. Es liegt nahezu auf meinem Weg. Wenn Sie wünschen, führe ich Sie hin.“

      Es war besser gelaufen, als Frank es sich hätte träumen lassen. Sie hatten sich gegenseitig vorgestellt. Er sich als Viktor, seinem Lieblingsnamen für strategische Zwecke. Sie waren schnell in einen verspielten Smalltalk verfallen. Als sie schließlich im „Bergmann’s“ ankamen, war es um die Mittagszeit und Frank fragte sie, ob er sie zum Dank für ihre Freundlichkeit einladen dürfe.

      „Oh, das ist ja mal nett“, hatte sie nur gesagt und auch gar nicht gefragt, was er eigentlich ursprünglich in diesem Restaurant gewollt hatte. Da war Frank klar gewesen, dass er die richtige Person gefunden hatte. Er hatte ihr die Geschichte aufgetischt, dass er eine möblierte Wohnung in einer Seitenstraße der Schönhausener Allee angemietet habe, wo er, der sitzen gelassene Ehemann, mehr schlecht als recht hause. Es gebe noch eine Dienstwohnung in Liège in Belgien, da er dort für ein Unternehmen tätig sei, die sei aber noch schmuckloser. Katja nahm das alles lächelnd und mit einer angemessenen Portion weiblichen Mitgefühls auf.

      Sie war eine kleine Person mit winzigen Füßen und üppigem Busen, Proportionen, die ihm schon ihrer Einzigartigkeit wegen sofort ins Auge gesprungen waren. Als Tochter einer russischen Mutter und eines Handelskaufmanns aus Quebec sprach sie fließend mehrere Sprachen, und Frank hatte die Vermutung, dass ihre vielen „ohs“ in der französischsprachigen Herkunft verwurzelt waren. Sie lebte allein, hatte keine Kinder zu versorgen und eine gleichermaßen leidenschaftliche wie unbegreifliche Begeisterung für Mathematik. Sie erzählte ihm von ihren mathematischen Abenteuern, wie sie sich ausdrückte. Am Abend oder an freien Wochenenden setze sie Annahmen auf und versuche, mit den Mitteln mathematischer Beweisführung zu berechnen, ob sie wahr oder falsch seien. Sie wollte auch Frank dafür begeistern und setzte an, ihm was von Axiomen einerseits, mathematischer Beweisführung andererseits nahezubringen. Da hatte er dankend abgewunken. Er hielt sie ob dieser Leidenschaft schon für sehr speziell. Aber sie war angenehm im Umgang, lustig und redselig. Sie trafen sich in unregelmäßigen Abständen, wenn Frank für seine Firma nach Berlin geschickt wurde, wie er ihr erzählte. Sie hatte glücklicherweise keinen Ehrgeiz, sie ihren Freunden vorzustellen oder ihm gesellschaftliche Verpflichtungen überzustülpen. Frank vermutete, dass sie ihn ganz für sich haben wollte, um die aus ihrer Sicht knappe Zeit, die sie miteinander hatten, nicht mit anderen teilen zu müssen.

      Frank hatte sie so rechtzeitig aufgegabelt, dass er keine Eile hatte und sie auf ihren Beitrag gut vorbereiten konnte. Sie musste völlig ahnungslos bleiben. Er brauchte von ihr eine Liste mit all den Unternehmen, die am Emissionshandel teilnahmen. Auf einer CD.

      „Gut Ding will Weile haben“, hatte Frank sich auf die Fahne geschrieben, wobei er natürlich das anvisierte Zeitfenster nicht aus den Augen verlor. Er hatte sich die Karnevalstage ausgewählt, um seine Operation zu vollbringen. Ganz genau sollte es der Rosenmontag sein, zum Höhepunkt der fünften Jahreszeit. Das Brauchtum aus dem fernen Rheinland war mit dem Umzug einiger Ministerien von Bonn nach Berlin mitgeschleift worden. Viel war von dem fröhlichen Übermut nach der langen Reise nicht heil an der Spree angekommen. Aber es reichte allemal, um die Behörden von Weiberfastnacht bis zum Veilchendienstag in einen benebelten Dauerzustand zu versetzen. Genau der richtige Zeitpunkt, um bei ein paar Leuten abzusahnen. Geprellte Kunden, die relativ fix ihr Dilemma erfassen würden, hätten in diesen Tagen wenig Hilfe zu erwarten von den Beamten und würden an lustloser Ignoranz abprallen. Davon konnte man ausgehen. Und das war auch gut so. Jedenfalls für Frank.

      Frank nahm Katjas Tasche, und sie hakte sich bei ihm unter.

      „Wir nehmen den RER in die Stadt“, sagte Frank. „Station ,Les Halles‘ steigen wir um und fahren mit der Metro weiter bis zum ,Hotel de Ville‘. Von dort aus können wir zu Fuß weiter in die Rue St. Croix de la Bretonnerie gehen. Ich habe uns dort ein kleines sympathisches Hotel gebucht.“

      „Du bist wirklich charmant, Victor. Oh, ich mag das außerordentlich, einen Mann mit Charme und Stil.“

      Nicht dass Frank auf solcherlei Lobesrede angewiesen war. Doch empfand er es natürlich als angenehm, diese Worte zu hören, aus dem Mund einer klugen Frau.

      Nach der Fahrt mit der Schnellbahn in die Stadt stiegen sie an „Chatelet/Les Halles“ aus und reihten sich ein in den Strom der Berufstätigen, die sich auf den Weg zur Arbeit begaben. In den endlosen Gängen, die unterirdisch von der RER-Haltestation zur Metrolinie „1“ führten, klackerten die Absätze im betriebsamen Rhythmus der pulsierenden Stadt. In der U-Bahn fanden sie noch knappen Platz zum Stehen. Den Blick mit all den anderen durch die Tür in die Dunkelheit gerichtet, dicht an dicht stehend, wurden sie in die Kurven gewippt, die die U-Bahn durch die schwarzen Tunnel ratterte. An der Station „Hotel de Ville“ wurden sie ausgespuckt und gingen im Takt der Menge nach oben ins Freie. Paris zeigte sich nicht gerade von der Schokoladenseite. Die Leute streiften Handschuhe über und schlugen die Kragen der Mäntel hoch. Ein schneidiger Wind verschlug ihnen fast den Atem. Der Kälte trotzend saßen die Raucher vor den Cafés zwischen durchsichtigen Plastikwänden und von Heizpilzen bestrahlt. Die Zigarette zum Café Crème forderte eben ihren Tribut.

      Sie hatten es nicht weit durch die kleinen Straßen des Marais-Viertels, bis sie vor dem Eingang des „Bretonnerie“ ankamen. Der Empfang im Hotel war sehr freundlich. Der Concierge führte sie bis ins Dachgeschoss, schloss die Tür mit der Nummer „11“ auf. sagte: “Monsieur, madame, voilà“ und breitete einladend die Arme aus, um zu unterstreichen, wie glücklich sie es doch angetroffen hätten, die Dachetage ganz für sich zu haben. Das Zimmer war groß, warm und erstaunlich geschmackvoll eingerichtet. Gemütlich gar, befand Frank, für eine Möblierung im französischen Stil. Oftmals war ihm die Überfrachtung mit Tüdelkram hier und Sträußchen dort einfach zu geschmäcklerisch. „Très joli“, kommentierten vor allem die französischen Damen des Hauses gern und selbstverliebt ihre Interieurs. „Très joli“ hatte er für sich selbst diese Art von überbordender Dekorationssucht getauft, die in so vielen Haushalten der Franzosen anzutreffen war. Das hier sah hingegen einfach behaglich aus. Die schwarzen Fachwerkbalken allerdings würde er beim nächtlichen Gang zur Toilette hundertprozentig rammen, das war voraussehbar. Und auch nichts Neues bei seiner Körpergröße. Sie stellten ihr Gepäck