Dorothée Linden

SCHULD-LOS


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versprochen, wenn ihm auch nicht mehr erinnerlich war, wie weit und warum überhaupt. Und eigentlich spielte das jetzt sowieso keine Rolle mehr, nachdem Tante Lore gestorben war.

      „Kommenden Montag wollen meine Brüder zum Notar. Frank sagte, der Notar habe sich bei ihm gemeldet und uns eingeladen. Er hat ein Testament, das will er mit uns besprechen. Ich habe keine Lust hinzugehen. Das soll Frank erledigen, und ob Konrad bis dahin wieder auftaucht, ich hab keine Ahnung. Egal, so oder so, müssen wir hier aufräumen und all das rausstellen, was ganz weg soll.“

      „Aber können wir es nicht noch eine Weile so lassen, wie es ist?“

      „Martin, so kommen wir nicht weiter. Lass uns im Keller beginnen, da wirst Du sicher nicht so viel vermissen müssen.“

      Sie schufteten ohne Unterbrechung und hielten nur selten inne, um sich Geschichten von früher zu erzählen.

      „Mutter war eine wahre Konservative“, sagte Vera am späten Nachmittag, „sie hat ja wirklich alles und jedes aufgehoben.“

      Draußen war es schon wieder dunkel, und die langen Neonröhren warfen ein kaltes Licht auf die vollgestopften Wandregale. Vera hielt zwei Kehrbleche aus Metall in der Hand, von denen das ursprüngliche Blumenmuster schon weitgehend abgeblättert war. Martin wollte schon ansetzen, die seien doch noch ganz schön, aber er biss sich auf die Zunge. Er ging ihr sowieso schon auf die Nerven mit seiner Quengelei, das Haus nicht herzugeben.

      Als die Kirchturmuhr neun schlug, beschlossen sie, für heute aufzuhören. Sie hatten mehr als drei Dutzend großer Kisten gefüllt mit Kram, der ohne weitere Diskussion auf dem Abfall landen durfte. Sogar Martin war einverstanden. Was sie nicht bedacht hatten, war, wie man die Kisten jemals nach oben schleppen sollte. Sie waren zu schwer.

      „Das überlassen wir den Profis“, sagte Vera. „Sollen wir rübergehen, eine Kleinigkeit essen? Ich habe guten Hunger.“

      „Oder wir lassen uns was mitgeben, setzen uns auf die Terrasse und lauschen dem Tuckern der Frachter auf dem Rhein.“

      „Martin, es ist stockfinster, erbärmlich kalt und Winter obendrein. Wie lange hast Du überhaupt Zeit?“

      „Ich rufe Ella an, dass wir morgen noch zu tun haben, wenn Du mich noch gebrauchen kannst. Das hatte ich mit ihr schon so besprochen.“

      „Gern. Dann lass uns zu Rino gehen, bevor der seine Küche schließt. Hinterher können wir immer noch überlegen, ob wir am Rhein spazieren gehen oder uns in die Kälte hocken und die Schiffe zählen.“

      Sie lachten. Martin erreichte Ella sofort. Sie wünschte ihnen einen schönen Abend, sie müsse sowieso noch arbeiten. „Hast Du Vera das Päckchen gegeben?“

      Hatte er nicht. „Ich hole es sofort. Es liegt noch im Wagen.“ Er ging zum Auto und gab es Vera. „Du weißt schon was es ist, meinte Ella.“

      „Ja ja“, sagte Vera, „ich soll mir das mal ansehen, wenn ich Lust habe. Und dann soll ich es behalten. Muss mal gucken, dass das hier in dem Chaos nicht verloren geht. So, lass uns gehen.“

      Rino freute sich, sie beide zu sehen. Sie tauschten sich wechselseitig ein wenig über die Befindlichkeiten aus. Rino gab sein Bedauern über den Tod der netten alten Dame zum Ausdruck und sagte, dass die im Frühling immer so begeistert war vom gebratenen Spargel mit Parmesan. „Alle wollen immer die deutsche Variante, gekocht, mit Butter übergossen, Petersilie, möglicherweise eine dicke Sauce Hollandaise und geräucherten Schinken dazu. Ich hab die Leute zu den deutschen Kollegen geschickt. Ihre Mutter aber wusste meine Zubereitung sehr zu schätzen.“

      Heute hatte er auch wieder ein köstliches Menü im Angebot. Ein Thunfischtartar auf Gurkenspiegel, Papardelle mit Pfifferlingen und Tiroler Speck, Lammcarré mit Bohnen und Kartöffelchen und ein wunderbares Dessert mit Tiramisu, Panna cotta und Früchten. Sie hatten sich der von Rino vorgeschlagenen Weinbegleitung angeschlossen. Nach dem Espresso spendierte der Chef ihnen noch einen Grappa.

      „Ich muss Dich endlich mal in Lübeck besuchen kommen. Ich weiß ja immer noch nicht, wie Du da oben eigentlich wohnst.“

      „Jedenfalls ist es nicht so zugestellt mit allem Möglichen wie hier in dem Ambiente“, sagte Vera. „Ja, komm doch gerne mal. Du bist immer herzlich willkommen, das ist doch klar. Vielleicht kommst Du alleine hoch. Ich vermute, Ella hat Probleme damit. In den vergangenen Jahren hat sie mich immerhin regelrecht gemobbt.“

      „So etwas gibt es doch mal, Vera. Und es scheint doch vorbei zu sein. Und zwar plötzlicher, als ich es gedacht hätte.“

      „Ja, irgendwie überraschend. Sie war praktisch so wie früher, als hätte es diese ganze Zeit dazwischen nicht gegeben.“

      „Vielleicht hat sie ja auch Lust mitzukommen, nach Lübeck“, sagte Martin. „Ja, wir kommen zusammen.“

      „Meinetwegen“, sagte Vera, aber es klang nicht sehr begeistert.

      Martin winkte Rino heran. „Ich möchte zahlen, bitte. Ich lad Dich ein, Vera.“

      „Du bist es doch, der mir hilft, den ganzen Mist aus dem Keller zu ziehen, da bin ich ja wohl dran.“

      „Vera, ich möchte nicht, dass Du das so siehst. Es ist genauso mein Anliegen. Ich habe so viel von Deiner Familie genommen und bekommen. Da kann ich wohl mal ein bisschen mit aufräumen.“

      „O.k. Das sehe ich ein. Danke, Bruder.“ Sie stießen mit dem restlichen Schluck Grappa an und schauten sich tief in die Augen.

      Als sie wieder im Haus waren, fragte Vera: „Soll ich nun Decken holen und wir setzen uns auf die Terrasse, damit Du die Schiffe in der dunklen Nacht erspähen kannst und tuckern hörst?“

      „Wahrscheinlich ist es doch zu kalt dafür, obwohl ich es mir gut vorstellen könnte.“

      „Kein Problem“, sagte Vera und suchte ein paar Decken zusammen, „wir können es ja mal versuchen.“

      Sie öffnete die Tür nach draußen. Augenblicklich zog die Kälte in den Raum. Sie stellten vier Stühle raus, Vera zog die Tür zu, und sie hüllten sich vollständig in die Decken ein, die Beine auf die vorderen Stühle gelegt. Sie saßen dicht beieinander und sagten nichts. Die schweren Kähne tuckerten gemächlich den Rhein hinunter, in der Gegenrichtung stampften sie mit voller Motorkraft flussaufwärts in den Süden. Martin fühlte sich wohl. Die Kälte spürte er nicht. An dieses Tuckern der Schiffe hatte er sich geklammert in der Zeit nach dem schrecklichen Unfall damals. Es war einfach da, zuverlässig und beständig, ohne Unterlass. Nachts hatte er sich ausgemalt, welche Größe das Schiff haben mochte, das gerade vorbeifuhr, ob ein Auto an Deck war und wie viele Bruttoregistertonnen es am Zielort zu löschen haben würde. Wie jetzt. Vereinzelt sah er die Silhouette eines Kapitäns in der Bootsführerkabine und versuchte sich vorzustellen, an was er wohl dachte auf seiner Fahrt in die dunkle Nacht.

      Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, mit Vera über einige Dinge zu sprechen. Zum Beispiel endlich mal sein Bedauern zum Ausdruck zu bringen über die Geschichte damals, als sie vor seinem Bett gestanden und er sich so saudämlich angestellt hatte. Oder mit ihr über ihrer beider Liebesleben zu sprechen. Wie sich alles so entwickelt hatte, seit ihrer Jugend. „Nein, nein“, rief er sich zurück. Er durfte diesen Moment auf keinen Fall mit heiklen Dingen belasten, er musste ihn einsaugen, diesen Abend, atmen und in Kopf und Seele festhalten. Als Reserve sozusagen, auf die er zugreifen würde, wenn das nötig war und er nicht mehr an diesem Ort verweilen könnte.

      Er nahm Veras Hand, die sich bereitwillig um die seine schloss. Er legte eine Decke darüber, und sie saßen weiter da, ganz still, den Blick in die dunkle kalte Nacht gerichtet, auf die Schemen der schwer beladenen Kähne. Als sich der Frost allmählich doch bis unter die letzte Decke zu ihnen vorgekrochen hatte, gingen sie rein.

      „Soll ich den Kamin anfeuern?“, fragte Martin.

      Vera lächelte ihn an. „Ich weiß doch, dass Du das nicht magst. Wir gehen einfach ins Bett. Da besteht noch am ehesten die Chance, dass wir jemals wieder auftauen.“

      Martin war froh darüber. Er dachte nicht einmal daran,