geblieben war. Da war nichts Schlimmes dran. Im Übrigen würde es sich auch gar nicht mehr vermeiden lassen, so wie ihm gerade zumute war. Nur keine Fehler.
Er folgte Vera in sein früheres Zimmer. Lore hatte die Zimmer ihrer Kinder - auch seines gehörte dazu - gelassen wie sie waren. Es stand alles an seinem Platz. Wie früher. Ein blasser Schein drang in den Raum, sonst war es dunkel. Vera schaltete das Licht nicht ein und zog sich aus. Ihren Slip behielt sie an. Er tat es ihr gleich, und sie krochen schlotternd und steif vor Kälte unter die Decke. Sie legten sich ganz nah beieinander, die eisigen Füße ineinander verschränkt. Diesmal war Vera es, die ihre Hand in seine legte. Er wandte ihr sein Gesicht zu und küsste sie auf den Mund, auf die Stirn und ihr Ohr. Sie strich ihm mit der freien Hand über seinen Kopf und streichelte seine Schulter mit einer zarten Ernsthaftigkeit, die ihn wahnsinnig machte. Er wagte sich vor bis zu ihrer Brust. Sie erzitterte.
„Martin“, sagte Vera ganz leise, „was wirst Du Ella sagen?“
„Ella?“, fragte Martin, als hörte er diesen Namen zum ersten Mal.
„Was wirst Du ihr sagen?“, wiederholte sie.
„Was soll ich ihr sagen? Nichts wahrscheinlich.“
„Willst Du es denn trotzdem?“
„Vera“, sagte Martin und drückte sie noch näher an sich, „ja ja unbedingt! Nein, ach verdammt noch mal, wahrscheinlich hast Du recht. Wenn Du schon von ihr sprichst. Vielleicht sollten wir uns wie Bruder und Schwester benehmen. Ja ja, Du hast vollkommen recht.“ Sie lagen jetzt wieder auf dem Rücken, eng beieinander, die Hände zusammen.
„Warum hat sie nur davon angefangen?“, dachte Martin und war fast ein wenig wütend auf sie. Man hätte doch hinterher überlegen können, wie man damit umgeht. Oder hatte er schon wieder etwas falsch gemacht. Für heute jedenfalls war es gelaufen. Aber sollte es sich nochmal ergeben, würde er es nicht wieder verpatzen.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, es dämmerte noch, sah Vera ihn aus ihren fragenden Augen an. Ihre Hand lag auf seinem Bauch. Sie fielen übereinander her, als würde ihnen das Leben definitiv keine weitere Gelegenheit mehr hierzu geben. Die Gier war der Motor, von der Feierlichkeit des Vorabends keine Spur.
„So haben wir uns das beide nicht vorgestellt“, sagte Vera hinterher, „aber so ist es gekommen. Das ist nicht schlimm. Das kriegen wir schon hin. Darf ich Dir ein Ständchen spielen?“
Er nickte. Sie zog sich Slip und T-Shirt an und ging ins Zimmer nebenan. Als sie die ersten Takte spielte, kamen ihm die Tränen. Das war sein Stück, ihrer beider Stück, Musik voller Sehnsucht und Wehmut, sanfter Melodie und bestimmender Bässe. Das „Adagio in h-Moll“ für Klavier von Mozart. A Dagio, für Dagio, hatte er damals verstanden und es für die Widmung an einen italienischen Freund des Komponisten gehalten, als sie ihm, dem 13-Jährigen, den Titel des Stücks genannt hatte. Es war für ihn mit der Traurigkeit von damals verwoben, gleichzeitig versprach es Trost und Geborgenheit, in der Familie aufgenommen worden zu sein und in Vera eine echte Gefährtin gefunden zu haben. Und schön, zum Heulen schön.
„Jetzt mal halblang“, kam ihm Franks Spruch in Erinnerung. Er rieb sich die Augen. Er lag in seinem Kinderbett, wenn man es mal genau nahm, hatte soeben eine triebhafte Vereinigung mit der Schwester seiner Jugendjahre abgeliefert und schluchzte vor sich hin? Nichts war wieder gut, es war schon wieder vermasselt. Er stand auf, ging zu Vera und küsste ihr aufs Haar. Dann duschte er und zog sich an. Auch Vera hatte sich wieder ihre Aufräumkluft übergestreift. Sie kochte ihnen einen Tee.
„Seit Mamas Beerdigung träume ich von Zahlen. Es ist ein unangenehmer Traum voller wirren Zeugs. Noch im Traum wird mir übel. Und ich wache schweißgebadet auf. Er kommt jede Nacht wieder. Deswegen war ich auch heute Morgen so früh wach. Ich hatte das Gefühl, in einem Käfig zu stecken. Gefangen, in einem Käfig voller feindlicher Zahlen, die einen Geruch von Gefahr verströmten. Als ich aufwachte, war es wunderbar, dass Du bei mir warst.“
Sie räumten noch bis zum späten Nachmittag auf, sprachen kaum, soll das bleiben, kann das weg, und dann hatte Martin den Drang, schnell nach Hause fahren zu müssen.
„Hier, nimm die, Du bist jederzeit willkommen.“ Vera gab ihm zwei Schlüssel, die an einem Metallring befestigt waren, an dem auch eine Taschenlampe hing. „Ich werde in den nächsten Tagen nach Hause fahren, muss unterrichten. Die Leute haben die Stunden fest gebucht. Ich fahre vielleicht nächste Woche wieder runter. Du kannst gern in den Norden kommen. Und wenn es wieder wärmer wird, machen wir mal einen kleinen Törn, gehen segeln. Ich bin viel zu selten mit dem Boot unterwegs. Das liegt oben einsam im Hafen von Orth. Da sammeln sich nur die Meerpocken am Unterwasserschiff.“
Sie reckte sich und küsste ihm auf die Stirn. „Es war wunderbar, bis bald“, sagte sie dann, und Martin hatte wirklich keine Ahnung, was genau sie damit meinte.
Als er nach Hause fuhr, fühlte er sich aufgewühlt nach den zwei Tagen. Der Sommer in Frankreich kam ihm in Erinnerung, der Sommer ihrer Jugend. Die Reise war sowohl für ihn als auch für Vera völlig überraschend gewesen, und die Wochen in Frankreich waren alles andere als so gelaufen, wie Tante Lore es mit ihren Planungen im Sinn gehabt hatte.
VIII
Sommer 1976
Ihr verbringt den Sommer in Frankreich“, sagte Eleonore Westerholt. Es war nicht mehr als eine einfache Feststellung. Sie hatte ihre Söhne Frank und Konrad, ihre Tochter Vera und Martin zu sich gebeten. Sie saßen auf der Terrasse, drüben bei „Heinz Jupp“ herrschte frühsommerlicher Hochbetrieb bei Kaffee und Kuchen. Frank und Konrad waren längst aus dem Haus. Da war es schon mutig, so schien es Martin, so mir nichts Dir nichts über deren Sommer zu bestimmen. Zwei groß gewachsene Männer, kräftig, die machten echt was her. Die würden sich doch nicht vorschreiben lassen, womit sie die nächsten Wochen oder gar einen ganzen Sommer lang zuzubringen hätten.
Aber ihre Mutter durfte man nicht unterschätzen. Sie wandte sich an Frank und Konrad: „Es ist ja kein Geheimnis, dass Ihr beide Eure Säckel gern gefüllt habt. In den nächsten Wochen könnt Ihr gutes Geld verdienen. Wenn Ihr Eure Sache vernünftig macht, habt Ihr bis Ende August ein Salair erarbeitet, das selbst Euren Wünschen entsprechen dürfte.“
„Was gibt’s denn?“, fragte Frank.
„Ich hab schon was vor“, sagte Konrad. Jedenfalls vermutete Martin, dass es Konrad war. Nur so, von der Art zu reden und zu reagieren. Unterscheiden konnte er sie immer noch nicht zuverlässig.
„Wie Ihr das im Einzelnen macht, ist Eure Entscheidung. Wie Ihr Arbeit und Lohn letztlich untereinander aufteilt, da will ich mich nicht einmischen. Ihr habt folgendes zu tun: In den nächsten zwei Monaten werden meine Schwester Cécile und ihr Mann Gérard eine große Reise unternehmen. Das steht schon seit langem fest. Nun hat sich überraschend ihr Knecht – sie nennen ihn tatsächlich noch so – aus dem Staub gemacht. Ist wohl mit einem Mädchen aus dem Dorf durchgebrannt, wie Gérard sich ausdrückte. Kurz: Sie brauchen dringend jemanden, der sich in ihrer Abwesenheit um die Tiere und die Wiesen kümmert. So schnell haben sie niemanden finden können. Ja, und das hat mich auf die Idee gebracht, Euch diese Aufgabe anzuvertrauen.“
Vera schaute Martin an und wandte sich an ihre Mutter:
„Und wir? Hast Du Dir für uns auch etwas ausgedacht?“
„Wie viel?“, fuhr Konrad oder Frank dazwischen.
„War mir doch gleich klar, dass Euch das locken würde“, sagte Tante Lore. „Ihr habt ja schon so manche Sommer dort ausgeholfen und wisst, was zu tun ist. Gérard war zufrieden mit Eurem Einsatz. Er traut Euch die Arbeiten zu und wäre bereit, für die zwei Monate pauschal 20.000 Franc zu zahlen.“
„Geht klar“, sagte einer ihrer Söhne.
„Es musste sich in diesem Fall um Frank handeln“, dachte Martin. Das war eine der Eigenschaften, die er an ihm so bewunderte. Der wusste immer sofort, was zu tun war. Was zu sagen war. Und wann dafür genau der richtige Moment gekommen war. Nicht zu früh und nicht zu spät, nicht zu viel, gerade nur genug. Einfach: „Geht klar.“
„Gut“,