Dorothée Linden

SCHULD-LOS


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Im Notariat wurde er von einem schon reichlich betagten Modell einer Sekretärin mit Dutt in grau und einem engen knielangen Rock eingelassen. Der Notar, zu dem er, der einzige Besucher dieses Büros, geführt wurde, war ein ebenfalls älterer Herr, der augenscheinlich an seiner Berufung klebte und genau den Erwartungen entsprach, die Frank in der Stunde Wartezeit bis zum verabredeten Termin aufgebaut hatte. Groß gewachsen, ein graues Kränzchen um den mit Altersflecken übersäten Schädel, in feinen Zwirn gewandet, mit gestärktem Kragen und Krawatte. Seine Haltung war leicht gekrümmt und nach vorn geneigt, die staksigen Bewegungen waren nicht mit sich im Reinen.

      „Guten Tag, Dahlmann“, begrüßte er Frank mit einer Verbeugung, die seine ungelenke Art noch unterstrich. „Ihre Geschwister sind noch nicht da.“

      „Ich komme allein. Meine Schwester hat mich gebeten, für sie den Termin wahrzunehmen, mein Bruder Konrad ist in Asien und konnte so kurzfristig nicht anreisen. Von ihm könnte ich eine Vollmacht…“

      „Nein, nein, das ist nicht nötig. Kommen Sie herein!“

      Er führte Frank in einen großen Raum, in dem die Quelle des gelben Lichts in Form eines Kronleuchters mit braunen Porzellanschalen an der Decke hing. In der Mitte stand ein riesiger rechteckiger Tisch – dunkles Eichenholz. An den Fenstern die samtenen Vorhänge, die ihm von außen schon aufgefallen waren. Die Wände waren ebenfalls mit dunklem Holz vertäfelt.

      „Nehmen Sie Platz!“

      Das tat Frank und nahm das abgewetzte Kunstleder der Stuhllehne zur Kenntnis. Der Notar sank in seinen Chefsessel, der mit hoher Lehne und offenbar weicherem Leder ausgestattet war. Über seinem Haupt prangte ein „Baselitz“ und Frank dachte: „Na, da hast Du Dir ja richtig was geleistet.“

      Der Notar setzte sich eine halbe Brille auf die Nase. Er hatte ein Grundig-Diktiergerät neben sich liegen, das er nun in die Hand nahm und besprach: „Frau Reiferscheid, es ist Montag der fünfundzwanzigste Januar Zwanzigzehn, fünfzehn Uhr. Bitte nehmen Sie auf: In der Nachlasssache Eleonore Maria Adele Westerholt, geborene Westerholt, geboren am 27. März 1926, verstorben am fünfzehnten Januar Zwanzigzehn. Es erscheint der leibliche Sohn Frank Niemann, geborener Westerholt. Die Geschwister Konrad und Vera lassen sich entschuldigen.“ Er drückte auf die Stopptaste und blickte Frank über den Rand seiner Lesebrille an.

      „Herr Westerholt,…“

      „Niemann“, sagte Frank.

      „Verzeihung. Herr Niemann, ich habe Sie eingeladen, weil Ihre geschätzte Mutter, die ich schon seit vielen Jahren kenne, mich darum gebeten hat. Üblicherweise dauert es einige Wochen, bis das Nachlassgericht einen Termin für die Testamentseröffnung findet. Ich habe von Ihrer Frau Mutter den Auftrag erhalten, die Dinge persönlich mit Ihnen zu besprechen. Er drückte die Aufnahmetaste und diktierte weiter:

      „Dem Sohn der Erblasserin Frank wurde der Wortlaut des Testaments der Eleonore Westerholt vom zwanzigsten Mai Zweitausendundsechs, errichtet vor dem Unterzeichnenden zur Urkundenrolle siebenunddreißig aus null sechs, verlesen.“ Stopptaste.

      „Wenn ich mal was fragen dürfte. Warum nehmen Sie das alles auf?“ Frank hielt das Ganze für eine gelinde gesagt vollschrullige Nummer. „Sie haben doch gesagt, sie könnten uns nur informieren und letztlich wäre ein Gericht für die Sache zuständig.“

      Der Notar nahm seine Brille ab und lächelte ihn schief an. „Das ist eine alte Gewohnheit. Auf diese Weise habe ich eine saubere und vollständige Aktenführung. Ich kann jederzeit auf meine Protokolle zugreifen und bin deshalb sofort im Bilde, falls in einer Angelegenheit noch etwas zu bearbeiten ist. Sie gestatten, dass ich fortfahre?“ Er setzte die Brille wieder auf.

      „Herr Westerholt, ich werde Ihnen jetzt das Testament Ihrer Mutter vorlesen:

      „Ich, Eleonore Westerholt, setze hiermit meine Tochter Vera zu meiner alleinigen und unbeschränkten Erbin ein. Meine Söhne Frank und Konrad sollen nichts erben. Sie sollen auch nicht den Pflichtteil erhalten“

      Der geschätzte Herr Notar Dahlmann kam nicht mehr dazu, das mit dem Verlesen des Schriftstücks standesgerecht zum Abschluss zu bringen. Sein Gegenüber wurde von einem hysterischen Lachkrampf geschüttelt.

      Ha, da hatte es ihre Mutter doch noch hinbekommen. Einmal wenigstens in ihrem Leben hatte sie einen hochgehen lassen. Und zwar was für einen! Das war doch mal was! Einfach zu gut. Und er – Frank – hatte hundertprozentig auf das richtige Pferd gesetzt – auf sich selbst nämlich, auf Frank Niemann, vermögenden Millionär aus eigener Kraft, frei und unabhängig.

      „O.k., vielen Dank!“, sagte er schließlich. Er sah dem Dahlmann an, dass dieser sich durchaus mit solcherlei Ausbrüchen vertraut fühlte. Er vermutete wahrscheinlich eine Art Schock bei seinem Besucher, eine verständliche Reaktion infolge überraschender und ganz und gar unerfreulicher Enterbung. Trotzdem schien er zufrieden, dass die Attacke offenbar vorüber war. Er bemühte sein Diktiergerät ein letztes Mal für eine Schlusssequenz und legte es beiseite. Er blickte Frank an:

      „Ich hege durchaus Mitgefühl für Ihren Bruder und Sie. Ich habe Ihre Mutter auf die Bedeutung ihrer Verfügung hingewiesen. Wenn Sie wünschen, könnte ich Ihnen ausnahmsweise Einblick in das entsprechende Protokoll von damals geben. Über die Motive hat Ihre Mutter nicht mit mir sprechen mögen. Ich habe sie ausdrücklich darüber belehrt, dass der vollständige Ausschluss der Söhne gar nicht wirksam ist. Rein theoretisch ist es also nach wie vor möglich, dass ein jeder von Ihnen den Pflichtteil gegenüber der Schwester einfordert. Das ist zwar nur die Hälfte dessen, was Sie ohne die Enterbung beanspruchen könnten. Wenn Sie mir aber diese kleine Indiskretion gestatten“, fügte er hinzu, „mir ist bekannt, dass es sich um ein durchaus beträchtliches Familienvermögen handelt. Da wäre es für die Frau Schwester – möglicherweise, rein theoretisch, gar nicht so einschneidend, wenn sie die Brüder zumindest in Höhe des Pflichtteils beteiligen würde.“

      Frank unterbrach diese absurde Zeitverschwendung. „Alles klar“, sagte er.

      „Sie werden in der nächsten Zeit, wobei es sich durchaus um drei bis vier Wochen handeln könnte, vom Nachlassgericht Post bekommen, mit demselben Schriftstück, das ich Ihnen vorgelesen habe, versehen mit dem amtlichen Stempel. Sie brauchen bei der Eröffnung nicht anwesend zu sein, auch wenn Sie hierzu eingeladen werden sollten. Sie kennen den Inhalt ja nun…“

      „Alles klar“, wiederholte Frank und erhob sich.

      „Meine Kostennote erlaube ich mir unmittelbar Ihrer Frau Schwester zukommen zu lassen?“

      „Machen Sie das.“ Frank streckte ihm die Hand entgegen, um klar zu machen, dass er hier jetzt wirklich fertig sei und ging zur Tür. Frau Reiferscheid – oder wurde sie vielleicht mit Fräulein tituliert, wenn die beiden allein waren? – grüßte er im Hinausgehen. Er zog die Tür hinter sich zu und atmete die frische, kalte Winterluft ein. Leider verspürte er nun doch diffusen Ärger aufziehen. Er war es jetzt, der Konrad zu informieren hatte. Wahrscheinlich hing sein Bruder schon erwartungsvoll am Telefon, nach wochenlanger Nichterreichbarkeit waren die Dinge jetzt ja auf einmal dringend. Frank hatte überhaupt keine Lust, sich das Gejammer anzuhören. Er würde schlimm toben, hemmungslos ausrasten, das war so sicher wie das Amen in seiner Kirche. Gut, dass er nur sein Zweithandy mitgenommen hatte. Die Nummer hatte Konrad glücklicherweise nicht. Eigentlich könnte er Konrad ja auch bei Vera vorsprechen lassen. Die, so wurde ihm auf einmal die Konsequenz des Ganzen bewusst, nun gar nicht mehr in gemeinsamer Sache für alle drei Geschwister handelte, sondern nur noch in eigener. In nur und ausschließlich allein eigener sogar. Er sollte das alles entspannt sehen. Wenn man es genauer betrachtete, war es doch grandios: Sein Lebenswerk, sein bisheriges, setzte er schnell für sich hinzu, sein bisheriges Lebenswerk also, war soeben explosionsartig aufgewertet worden. Durch diese Enterbungsnummer ihrer Mutter.

      Ein wenig beleidigt konnte man natürlich trotz alledem sein. Er war immerhin ab und zu bei Mutter aufgekreuzt, im Schnitt vielleicht alle paar Jahre mal. Hatte ihre gottverdammt langweiligen Geschichten über sich ergehen lassen und ihr von seinem Haus am Meer erzählt. Obwohl sein Haus nur wenige Fahrminuten vom Anwesen ihrer Schwester Cécile entfernt war, hatte Mutter sich nie aufraffen können, Schwester und Sohn mal einen Besuch abzustatten.