Dorothée Linden

SCHULD-LOS


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natürlich Faszinierendes an sich gehabt. Und bot eine Menge Stoff für Spekulationen in jedwede Richtung. Martin war schon in Ordnung. Aber eben ein kleiner verschüchterter Junge. Wenn man neunzehn war und auf ein solches Weichei traf, dann war es doch logisch, so einem ein wenig zuzusetzen. Allein schon, dass er die Welt mal von innen kennenlernte. Wie sie so war. Martins Vater hatten sie laufen lassen, keine Beweise oder so. Er hatte sich trotzdem nicht mehr blicken lassen, konnte seinen zwei Söhnen wohl nicht mehr unter die Augen treten und hatte sich aus dem Staub gemacht.

      Konrad hatte sich den Kleinen gekrallt und in seine Gemeinde abgeschleppt. Martin war Feuer und Flamme gewesen und schnell zum ernsthaft überzeugten Messdiener aufgestiegen.

      Sie hatten keine allzu lange Zeit zusammen in Mutters Haus verbracht. Frank war knapp zwei Jahre später ausgezogen, Konrad kurz nach ihm. Aber dann sollten sie ja noch den Babysitter machen, im Sommer 76. Jenem Sommer, in dem Frank seine Millionärslaufbahn einstielte. Er musste grienen. Der kleine Martin hatte alles mit sich machen lassen. Für Konrad war es ein erfreulicher Sommer gewesen, für ihn, Frank Niemann, ein sehr erfreulicher und lukrativer dazu.

      Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Jetzt erwartete man wohl, dass er ein Schäuflein Erde auf den Sarg schippte, in dem seine Mutter lag, die nicht wieder kommen würde. Beinahe war er über seine Stumpfheit erschrocken. „Immerhin Mutter“, dachte er und versuchte, seine Gefühle zu wecken. Aber er hatte abgeschlossen. Schon vor langer Zeit. Wie gern hätte er sie in männlich starker Heldenmanier aus ihrer dunklen Einsamkeit gezogen. Aber das hatte sie nicht zugelassen. Und dann war der Zug abgefahren. Vor gefühlten Ewigkeiten.

      Kurz nach der Geburt seiner Schwester - Konrad und er waren damals neun Jahre alt – hatte ihre Großmutter in einer beispiellosen Entschlossenheit dem ganzen Elend ein Ende gesetzt und ihren Schwiegersohn aus dem Haus geworfen. Mit Pauken und Trompeten, wie man so sagte. In einer wilden berechtigten Wut, die ihn begeistert hatte. Sein Bruder und er hatten nur zwei seltene Male die rohe Gewalt ihres Vaters am eigenen Leib erfahren müssen.

      Ihrer Mutter war es da ganz anders ergangen. Zumindest er, Frank, hatte mehrere Male aus den Geräuschen im Schlafzimmer der Eltern seine Schlüsse gezogen. Es hatte immer mit einem kaum vernehmlichen Wimmern seiner Mutter geendet, das bald vom Schnarchen des hemmungslosen Grobians übertönt worden war. Spätestens dann hatte Frank sich von seinem Lauschposten an der Tür zurückgezogen und endlich selber einschlafen können. Natürlich war niemals auch nur ein Wort darüber gewechselt worden. Mutter, die doch ganz offensichtlich gelitten haben musste, die unglücklich in ihre Laken weinte, gedemütigt und einsam. Sie hatte einen unermüdlichen Ehrgeiz an den Tag gelegt, das ganze Elend totzuschweigen. Es war ein Wunder, dass Großmutter überhaupt Wind davon bekommen hatte.

      Als Vater weg war, war Mutter leider kein bisschen freier geworden. Jeder noch so kleine Furz durfte um Himmels willen nicht knallen. Er hätte ja eine Explosion nach sich ziehen können, die das ganze Gebäude zum Einsturz gebracht hätte. Natürlich hatte er Mutter geliebt. Immer liebt man seine Mutter. Schon als Junge hätte er sie gern beschützt oder getröstet oder ihr einen Tritt in den Hintern gegeben, sie solle sich mal endlich wehren. Aber dafür hatte es nie einen passenden Moment gegeben. Alles war gut. Alles eitel Sonnenschein. Zum Davonlaufen. Das hatte er dann endlich auch gemacht. Sein Auszug aus dem Haus des mundtoten Friedens war ein Befreiungsschlag gewesen. Ihm war die klare Erkenntnis gefolgt, von da an nur noch reich und frei sein zu wollen.

      Nun das Händeschütteln. Er, Cécile, Vera. Als Ella ihm gegenübertrat, lächelte er sie verstohlen an und zwinkerte ihr zu. He, was war denn mit der los? Sie war doch sonst nicht so. Nur weil der kleine Martin, ihr so genannter Gatte, hinter ihr stand, musste sie doch noch lange keinen Gruß von ihm zurückweisen. Nun gut, vielleicht sollte er auf eine andere Gelegenheit warten. Womöglich rief sie ihn noch im Laufe des Tages an. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass eine solch beiläufige Begegnung ein sehr schönes Ende nehmen würde.

      So, endlich war der Akt in der eisigen Kälte vorüber. Zum anschließenden Begräbnisschmaus entschuldigte Frank sich mit der Ausrede des bereits gebuchten Fluges und verschwand.

      III

      Martin hakte sich schweigend bei seiner Frau unter. Wortlos schlurften sie über die gefrorenen Friedhofswege. Ella entdeckte Vera in einiger Entfernung.

      „Hallo, warte doch!“, rief sie ihr zu und löste sich von Martin.

      Der Anblick der beiden Freundinnen von einst, die endlich wieder aufeinander zugingen, zog Martin für einen Moment aus seiner schweren Stimmung. Lange Jahre war das Verhältnis der beiden unterkühlt gewesen. Ella hatte den Abstand mit Veras Liebesleben begründet, das sie verurteilt und für schlicht inakzeptabel gehalten hatte. „Was will sie mit all den ständig wechselnden Möchtegernmachos“, hatte sie geschimpft, „man erkennt sie nicht wieder.“ Sie hatte Vera vorgehalten, sich den Männern wahllos hinzugeben, sich anzubiedern, um am Ende als Sexobjekt abserviert zu werden. Dass sie das nicht sehen würde. Seine Frau hatte sich immer mehr von Vera distanziert, bis sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt hatten.

      Vera hatte Pech in der Liebe. Das sah Martin ohne Zweifel differenzierter als seine Gattin. Die Bekanntschaften kamen und gingen. Auch Martin hatte den Herren, die er schon mal zu Gesicht bekam, nichts abgewinnen können. Aber das war Veras Sache. Vielleicht würde sie irgendwann einmal ein bisschen mehr Glück haben. Das konnte man ihr nur wünschen. Vera war attraktiv, mit einer Aura von Geheimnis, die Martin schon immer anziehend gefunden hatte. Wenn die beiden Frauen nun zu einer Wiederbelebung ihrer Unbefangenheit von einst finden könnten, wäre es Martin nur recht.

      Der Tag nahm seinen furchtbar tristen Gang. Die Kälte zog tief in Martins Gemüt. Es waren gar nicht viele gekommen. Cécile aus Frankreich, die kannte er. Ein paar weitere Verwandte hatte er schon mal gesehen. Vera war da. Aber Konrad? Wo steckte der? Und warum war Frank so schnell verschwunden? Außer dem Kondolenzgruß hatten sie kein Wort gewechselt. Martin war verstört. Diese Familie war einst seine Rettung gewesen. Nun zerbrach sie in unsichtbare Gestalten wortlos auseinander.

      Wie durch Zufall, wie es ihm noch immer schien, war er damals in die Familie der Westerholts hineingepurzelt. Mit welcher Selbstverständlichkeit er dort aufgenommen worden war. Welch anderen Lauf hätte sein Leben wohl genommen, nach all dem Kummer und der Schwere eines jeden Tages jener Zeit.

      Tante Lores Tod rief die Vergangenheit wach. Schon gleich nach seiner Übersiedlung zu den Westerholts vor nun siebenunddreißig Jahren hatte sie ihm gesagt: „Nenn mich einfach Lore, Martin.“ Gegenüber der Erwachsenen war es ihm fremd gewesen, sie nur beim Vornamen anzusprechen, und er hatte eine Tante hinzugefügt, Tante Lore daraus gemacht. Dabei war es geblieben. Tante Lore war für ihn der einzig verlässliche Mensch gewesen, der Fels in der Brandung, in der alles zusammenzubrechen drohte. Kein anderer Erwachsener, den er zu der Zeit gekannt hatte, hatte sich an irgendwas gehalten, was er in Aussicht gestellt oder versprochen hatte. Nach dem Unfall.

      Martin war noch keine zwölf gewesen, sein Bruder Gregor gerade dreieinhalb. Sie hatten Gregor und ihn einfach auseinandergerissen. Gregor wurde in die Familie von Tante Ulla gesteckt. Dort haderte er noch eine Weile mit seinem Schicksal, schien sich dann aber bald in seine Situation fügen zu können. Ihr Vater und dessen Schwester, ihre Tante Ulla, waren sich schnell einig geworden: Der Jüngere musste eingebunden werden. In eine Familie. Zwei Jungen aufzunehmen war Tante Ulla zu viel. Martin als dem Älteren trauten sie es ohne weiteres zu, in der Woche im Internat zu sein und die Wochenenden bei seinem Vater zu Haus. Was nach dem Feuer davon übrig war. Auch Gregor sollte nach Möglichkeit an den Wochenenden zu Hause mit seinem Vater und seinem Bruder verbringen. Soweit der Plan.

      Es kam natürlich wieder völlig anders. Tante Ulla wohnte zu weit weg. Niemand hatte Lust und Ausdauer, Gregor am Freitag nach Hause zu bringen und sonntags wieder zurückzufahren. So schlief die Abmachung der Erwachsenen bald ein. Und Martins Vater, der von Berufs wegen für ein Pharmaunternehmen Herzmittel im Außendienst verkaufte, tauchte immer seltener zu Hause auf. Martin hatte nicht verstanden, was er eigentlich so im Einzelnen zu tun hatte. Jedenfalls war er ständig weg, was schon seine Mutter genervt hatte. Dass er sich nun noch rarer machte, mochte anfangs durchaus an der Zerstreuung gelegen haben, die er nach Mutters Tod zunächst mal suchte. Das hatte Martin ihm damals, am Anfang